Ein gieriger Opportunist #
„Schirach“ von Oliver Rathkolb ist mehr als nur eine Biographie. Anhand der Figur Baldur von Schirachs wird das Psychogramm des bereits vor Hitler antisemitisch geprägten deutschen Bürgertums gezeichnet. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (5. November 2020)
Von
Hellmut Butterweck
Baldur von Schirach, Hitlers „Reichsjugendführer“ und späterer Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien, war eine noch immer unterbelichtete Nazigröße, bis Oliver Rathkolb sich seiner annahm. Das Werk „Schirach – Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“ lässt kein Detail aus, fällt dabei aber nicht auseinander, sondern schließt sich im großen Bogen zum Psychogramm des von Adolf Hitler begeisterten, aber längst antisemitisch indoktrinierten Teiles des deutschen Bürgertums und Adels. Der Schöngeist Schirach hält sich für einen Idealisten, macht Karriere in der NS-Hierarchie und wird dabei nicht nur zum Mitwisser, Helfershelfer und Anstifter der Mörder, sondern auch zum gemeinen Dieb. Eine exemplarische Vita. Sie steht für so manche.
Der Vater war nach einer preußischen Offizierskarriere Hoftheaterintendant in Weimar geworden, die Mutter entstammte altem amerikanischem Geldadel. Drei Viertel der Vorfahren waren Amerikaner, unter ihnen ein Großvater, der am Sarg Abraham Lincolns Ehrenwache hielt, und ein reicher Sklavenhalter und Vorkämpfer gegen die britische Kolonialherrschaft. Eine solche Herkunft war genau das, was Hitler imponierte, aber der spätere Reichsjugendführer hängte sie öffentlich so wenig an die große Glocke wie die Tatsache, dass er bis zum sechsten Lebensjahr nur Englisch gesprochen hatte. Die Familie lebte herrschaftlich in Weimar, war antisemitisch bis in die Knochen und hasste die Demokratie.
Jung und hungrig #
Baldur war 17, als er den Weimar besuchenden Hitler kennenlernte, war hellauf begeistert, machte sich bei ihm beliebt, war mit 21 Jahren Reichsführer der NSStudenten, ohne ernsthaft zu studieren, und mit 24 Jahren Reichsjugendführer. Er wurde Hitlers bester Propagandist, bei der Jugend hatte er mehr Erfolg als Joseph Goebbels. Junger Hungriger erkennt den kommenden Mann, in dessen Windschatten man etwas werden kann, ergibt sich ihm mit Haut und Haar, steigt auf und wird auch etwas, aber nichts Erfreuliches. Sein Karrieremodell ist nach wie vor allenthalben in Gebrauch. Dass er Henriette, die Tochter von Hitlers Leibfotograf und Freund Heinrich Hoffmann, heiratet, passt ins Schema.
1940 machte ihn Hitler zum Gauleiter und Reichsstatthalter von Wien, um die Wiener zu beruhigen, die über den polternden und saufenden Gauleiter Bürckel („Bierleiter Gauckel“) erzürnt waren. Damit katapultierte er ihn aber direkt ins Schussfeld seiner eifersüchtigen Paladine. Goebbels ließ kein gutes Haar an der allzu freizügigen Kulturpolitik Schirachs in Wien, tatsächlich soll die Musik in der Wiener Oper manchmal sekundenlang fast modern geklungen haben.
Er hat ja „nur“ die Wohnungsnot beheben wollen, als er im Oktober 1940 bei einem Essen mit Hitler bemerkte, „daß er immer noch 50000 Juden in Wien habe, die Dr. Frank übernehmen müsse“. Der mit am Tisch sitzende Hans Frank, Generalgouverneur im besetzten Polen, erklärte dies für unmöglich, doch wenige Tage später wurde Schirach vom Chef der Reichskanzlei verständigt, der „Führer“ habe „auf einen von Ihnen erstatteten Bericht entschieden, daß die in dem Reichsgau Wien noch wohnhaften 60 000 Juden beschleunigt, also noch während des Krieges, wegen der in Wien herrschenden Wohnungsnot ins Generalgouvernement abgeschoben werden sollen.“ Sie waren schon viel früher fort. Schirach brüstete sich der Vertreibung auf widerwärtige Weise. Als Angeklagter in Nürnberg wollte er keine Ahnung gehabt haben, welchem Schicksal er sie preisgab.
Die prächtige arisierte Dienstvilla auf der Hohen Warte hatte er von seinem Vorgänger „geerbt“, doch in dieser Villa betätigte er sich als rühriger Kunstsammler nach Nazi-Art, wobei er sich auch der Vugesta, der „Verwertungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo“, bediente. Ein Lucas Cranach d. Ä. und ein Pieter Brueghel d. J. zählten zu den Glanzstücken seiner Sammlung.
Dass er bei Hitler in Ungnade fiel, war nicht nur auf die Intrigen der Gegner und seine für NS-Begriffe zu liberale Kulturpolitik zurückzuführen, sondern vor allem auf den Vorfall vom 24. Juni 1943 auf Hitlers „Berghof“. Henriette Schirach besaß die Naivität, den „Führer“ auf die brutalen Szenen bei einer Judenverschickung anzureden, die sie in Amsterdam miterlebt hatte. Hitler war einen Monat lang wütend und die Schirachs wurden aus seiner Nähe verbannt. Einmal, bei der letzten Befehlsausgabe an die Gauleiter am 24. Februar 1945, hat ihn Schirach noch gesehen: „Mühsam, mit hängenden Schultern kam er auf uns zu. Ein Bein, das anscheinend gelähmt war, schlurfte über den Marmorboden. Das Gesicht war aschgrau. Mit zitternder Hand begrüßte er jeden von uns.“ Auch Schirach gab bis zuletzt Durchhalteparolen von sich, bevor er Wien am 9. April 1945 mit zwei VW-Schwimmwagen und zwei Lastwagen mit Lebensmitteln verließ. Die Russen waren schon in der Stadt.
Die vom Nürnberger Gericht ausgesprochenen 20 Jahre Haft orientierten sich, wie die Nürnberger Strafen insgesamt, an seiner Involvierung in Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und entsprachen dem Urteil über Hitlers Architekten und Rüstungsminister Albert Speer. Schirach bekannte sich schuldig, „dass ich die Jugend erzogen habe für einen Mann, der ein millionenfacher Mörder gewesen ist“, behauptete aber, er habe die in seinem Vorzimmer abgelegten dienstlichen Berichte über die Massenmorde an den Juden nicht abgezeichnet und daher auch nicht gelesen, was zwar unglaubwürdig war, aber von seinem Adjutanten bekräftigt wurde. Er spielte geschickt seine amerikanischen Wurzeln aus und bekannte sich zu seinem ehemaligen Antisemitismus, wollte ihn aber nicht von seiner Familie, sondern aus dem Buch „Der internationale Jude“ von Henry Ford bezogen haben.
Die Schirachs haben alles getan, um den Verbleib der aus jüdischem Besitz stammenden Kunstwerke zu verschleiern und möglichst viel vom Raubgut zu behalten. Nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, zeigte er weder Reue noch Einsicht. Auf die Echtheit seines Schuldbekenntnisses angesprochen, lief er aus dem Zimmer.
Skrupelloser Betrüger #
Oliver Rathkolbs Schirach-Buch ist mehr als nur eine Biographie, sehr viel mehr. Er enthüllt den Mechanismus, der Ehrgeizige im Dunstkreis der Macht, und keineswegs nur der absoluten, hochkommen lässt. Und er zeigt, was die absolute Macht aus ihnen macht. Oliver Rathkolb erwähnt auch das ganz spezielle Raubgut, das zum Vorschein kam, als in Wien Schirachs Tresor geöffnet wurde: Mit Cranach d. Ä. und Breughel d. J. hatte er sich nicht begnügt. Er hatte sich auch als Leichenfledderer betätigt und ein dickes Paket Lebensversicherungspolizzen verschickter oder geflohener Juden angeeignet.
Diese konnten von jedem eingelöst werden, der sie vorlegte und den Versicherungsfall geltend machte oder den Rückkaufwert beanspruchte. Bei der Gemischtwarenhändlerin Berta Weinblum, geboren 1884, Wien 21., Leopoldauerstraße 7, war der Versicherungsfall gewiss bald eingetreten. Im Vermögensverzeichnis, das alle Juden abgeben mussten, führt sie die Lebensversicherungspolizze Nr. 183959 der Wiener Städtischen als „beschlagnahmt“ an. Auf der ersten Seite befindet sich, einsehbar im Staatsarchiv, ein roter Stempelaufdruck: „NACH POLEN“. Ihre Polizze hatte Schirach.
Er raubte die auf 6.000 US-$ lautende Lebensversicherung des 1886 geborenen Industriellen Josef Mahler, der seine Vermögenserklärung unter der Anschrift „dzt Weimar-Buchenwald, Block 50, Nr. 20.389“ abgegeben hatte, samt dessen 50 Aktien „Prager Milch“, doch auch die Bundesländer- Polizze Nr. 694095 der Maria Lechner, die nur auf 500 Schilling lautete, war ihm nicht zu minder. Ein dickes Paket, wie gesagt. Wäre in Nürnberg die Rede darauf gekommen, hätte er die Papiere wohl nur sicher verwahrt gehabt, um sie den Eigentümern auszufolgen, sobald sie zurückkamen. Aus dem Gas.
Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler
Von Oliver Rathkolb
Molden 2020
352 S.,
geb., € 32,–