"Christus unser Führer"#
Zum Dank für den glorreichen Seesieg der unter dem Kommando von Don Juan d`Austria stehenden abendländischen Flotte gegen die Türkei bei Lepanto (1571), der zu einem überwiegenden Teil der Macht des Rosenkranzgebetes zugeschrieben worden ist, hat Papst Gregor XIII. 1573 das jährlich am 7.10. zu feiernde Rosenkranzfest eingeführt (MB 446). Einer jahrelangen Gepflogenheit entsprechend sollte wenigstens einmal im Jahr für die Jugend eine religiöse Feier zentral gestaltet werden, 1938 im Stephansdom in Wien. Das unter der Leitung des damaligen Jugendseelsorgers Kaplan Stur stehende Vorbereitungskomitee rechnete mit höchsten 1500 bis 2500 Teilnehmer (GV 19, 36 ff.). 7000 bis 10000 sind gekommen (GV 75 VR, LIG 27, FK vom Oktober 1998, FK 9/2003, WVW 3, 36 ff.).
Die große Masse der Jugendlichen ergriff eine sich steigernde Erregung und das Fluidum einer ungeheueren Begeisterung wurde immer deutlicher spürbar. Von dieser Atmosphäre ergriffen bestieg Kardinal Innitzer in den Pontifikalien die Kanzel und änderte spontan seine Predigt. Es sagte unter anderem: „Meine liebe katholische Jugend Wiens, wir wollen gerade jetzt, in dieser Zeit um so fester und standhafter unseren Glauben bekennen, uns zu Christus bekennen, unseren Führer und Meister, unserem König und seiner Kirche … ihr lieben jungen Freunde, bewahrt den Glauben, lasst euch nicht abreden vom Glauben, wenn auch noch so viele gleißende Worte fallen: Nur er kann uns glücklich machen für Zeit und Ewigkeit. Ich habe dieses Vertrauen zu euch“. „Der heutige Abend, der euch zusammengeführt hat, soll euch und allen den Vorsatz erwecken, dass wir unsere Pflicht treu erfüllen, soll uns sagen, dass wir zuerst dem Herrgott geben müssen was ihm gehört, und dann werden wir auch die anderen Pflichten erfüllen, dann wird er uns die Kraft, den inneren Frieden, die Freude geben. Das Wort ‚Kraft durch Freude’ hat einen tiefen Sinn. Das ist ein biblisches Wort. Das hat der Prophet Esdras in einer schweren Zeit, den Israeliten gesagt, als sie beschlossen hatten, wieder zum Herrgott zurückzukehren: ‚die Freude im Herrn ist eure Stärke’, das wollen auch wir uns sagen (GV S 43).
Kaplan Stur, dem mitgeteilt worden ist, dass vor dem Tor die HJ Teilnehmer aufschrieb, ahnte Böses; er forderte daher die Jugendlichen auf, nach Hause zu gehen. Diese Aufforderung ging im aufbrausenden Orgelton unter, der den Auszug von Kardinal Innitzer begleitete. Alles drängte aus der Kirche, alle hin zum Bischofspalais. Von der Roten- Turmstraße bis zum Dom stauten sich die Massen, die Priester versuchten zu mahnen: „Ruhe bewahren! Bleibt still! Um Gottes Willen, keine Demonstrationen;“ es war vergeblich. Man musste einfach dableiben, man musste auch auf dem Platz auf der Straße im Angesicht des Gotteshauses offen das Bekenntnis zu Christus und seiner Kirche ablegen. Einer rief: „Unser Glaube ist Christus!“ eine Gruppe stimmte das Lied „Auf zum Schwure Volk und Land“ an, es dröhnte über den Platz; dann von einem Eck des Domes her ein Sprechchor „Wir wollen unseren Bischof sehen, wir wollen unseren Bischof sehen;“ immer wieder Sprechchöre und Lieder (BF S 10, GV S 73 ff.). Die Tausenden vor dem Palais riefen solange nach dem Kardinal („Wir wollen unseren Bischof sehen“), bis sich dieser am Fenster des Konsistorialsaales zeigte, mit einem weißen Taschentuch winkte und schließlich durch Handzeichen zu verstehen gab, die Jugendlichen mögen nach Hause gehen. Eine nicht organisierte, spontane, gewaltlose Demonstration gegen die damaligen Machthaber war zu Ende gegangen. Sie blieb die einzige in der ganzen Geschichte des Dritten Reiches. Die Nazi zeigten sich fassungslos, dass nach einer solchen Trommelfeuerpropaganda eine solche Kundgebung stattfinden konnte (LIG S 29).
Beim Rosenkranfest am 7. Oktober 1938 im Wiener Stephansdom sprang der Funke, so der Grazer Kirchenhistoriker Maximilian Liebmann bei einer Veranstaltung im Parlament im Jänner 2005, zu einem katholischen Widerstand über. Die Rosenkranzandacht mit der Predigt von Theodor Kardinal Innitzer, die in der Feststellung „Christus ist unser Führer“ gipfelte, wurde zu einer eindrucksvollen Widerstandkundgebung der katholischen Jugend (AC vom März 2005, S 165). Fritz Molden schreibt in seinem Buch „Die Feuer in Nacht“, der 7. Oktober 1938 sei ein ganz wesentlicher Tag im österreichischen Widerstand, denn bei dieser Gelegenheit war es zum ersten und für lange Zeit zum einzigen Mal nach dem „Anschluss“ möglich, ein Bekenntnis zu Österreich und eine klare Ablehnung des Nationalsozialismus und des Großdeutschen Reiches kund zu tun. Wesentlich daran war, dass es öffentlich geschah und das Tausende plötzlich feststellten, dass sie nicht allein waren. Von diesem Tag an war die Widerstandsarbeit auf eine andere Basis gestellt (GV 68 f.). Möge die Erinnerung an die Ereignisse des 7. Oktober 1938 als Mahnung und Verpflichtung in unseren Herzen wach bleiben (Kardinal Erzbischof Dr. Schönborn GV 8).
Die Kundgebung der katholischen Jugend war mehr, als die NSDAP zu dulden bereit war. Für die NS war dies der politische Katholizismus in Reinkultur, dem eine Lektion erteilt werden musste. Diese folgte am nächsten Abend (Samstag) in Form eines Überfalls auf das Erzbischöfliche Palais. Eine Augenzeuge, der damalige Bischofssekretär und spätere Weihbischof Dr. Weinbacher, schilderte den Vorgang folgendermaßen: Ich saß etwa um 20:15 Uhr mit meinem Kollegen Zeremoniär Dr. Franz Jachym, später Erzbischof, in meinem Zimmer, das seine Fenster gegen den Hof zu hat, und plötzlich hörten wir vom Stephansdom her durch die geöffneten Fenster aufgeregte Ruf- und Sprechchöre, im nächsten Augenblick auch schon Klirren von Fensterscheiben. Gleich darauf telefonierte seine Eminenz: Auf dem Stephansplatz ist eine Menge Jugendlicher versammelt, die schlagen uns die Fenster ein, rufen Sie die Polizei. Ich betätigte den Polizeinotruf und erhielt die Antwort: Wir kommen. Auf dem Weg über den Hof höre ich das Schreien und gleichzeitig vernehme ich starke Stöße gegen das Tor Nr. 7, ich höre Rufe „Ho-Ruck“, dann ein Krachen und Splittern und darauf ein Triumphgeschrei. Sie sind eingedrungen.
Die Demonstranten sind Jugendliche im Alter von 14 bis 25 Jahren, etwa 100 an der Zahl. Sie stürmen schreiend in den Hof und zertrümmern, was ihnen in den Weg kommt. Wir dirigieren die geistlichen Schwestern auf den Dachboden und weisen sie an, sich dort zu verstecken. Den Kardinal bringen wir in Sicherheit in das Matrikenarchiv und verschließen hinter ihm die eiserne Tür, dann nehmen wir zwei Priester Aufstellung vor der Hauskapelle des Kardinals, um wenigstens hier eine Zerstörung zu verhindern. Kurz danach stürmten die Eindringlinge in die Räume des Kardinals, die an die Kapelle grenzen; gleich an der Tür wehren wir sie ab, Holzstücke fliegen in die Kapelle hinein. Ich erhielt einen Stoß, dass ich stürzte, doch konnten wir den Eintritt in die Kapelle verhindern. Nachdem wir den ersten Trupp abgewehrt hatten, öffneten wir den Tabernakel und konsumierten die heiligen Hostien, um das Allerheiligste vor Verunehrung zu schützen. Mit den Messingstangen, die den Teppich im Stiegenhaus halten, zertrümmerten die Eindringlinge, was ihnen in den Weg kam. Während des Handgemenges erhielt Jachym mit einem Kronleuchter einen Schlag auf den Kopf. Ich werde von etwa sechs Leuten aus der Kapelle gezerrt und durch das Vorzimmer zum Fenster geschleift, das auf die Rotenturmstraße geht. „Den Hund schmeißen wir beim Fenster aussi!“ Ich konnte mich durch äußerste Kraftanstrengung gegen das Hinauswerfen wehren. Auf einmal ertönte der Ruf: Zurück Polizei kommt! Die Eindringliche stürmten davon, ein Polizist kommt, dann wieder einer, die Demonstranten konnten ungehindert das Palais verlassen. Zwischen dem ersten Notruf und dem Eintreffen der Polizei waren gut 40 Minuten vergangen. Wir holten dann seine Eminenz aus dem Versteck und brachten ihn in seine zerstörten Räume.
Inzwischen hatten andere Demonstranten einen Angriff auf das Haus der Dompfarre Stephansplatz 3 unternommen und dort den in ersten Stock wohnenden Domkuraten Johannes Krawarik, später Pfarrer in Wien Alt-Ottakring, vom ersten Stock in den Hof geworfen. Er fiel auf einen Sandhaufen und erlitt schwere Verletzungen an den Oberschenkeln und eine gespaltene Kniescheibe. Da sich keiner der Anwesenden Wiener Rettungsärzte bereit erklärt hatte, den Verletzten zu holen, meldete sich Dr. Gustav Mittelbach, der in Graz vom NS-Regime inhaftiert und des Landes verwiesen worden war, und brachte den Verletzten in die 2. Chirurgische Klinik des Wiener Krankenhauses. Erst nach Monaten konnte Krawarik das Spital verlassen und mussten sich noch längere Zeit auf Krücken fortbewegen (FT S 233). Im Rettungswagen freundeten sich Mittelbach und Krawarik an, nachdem sie ihre gemeinsame Mitgliedschaft beim CV festgestellt hatten. Noch in der Nacht meldete BBC London diesen Vorfall.
Der Wiener Polizeipräsident Dr. Steinhäusl, als Polizeivizepräsent während der Dollfuß-Ära illegales Parteimitglied, saß während des Überfalls im Cafe de l’Europe am Stephansplatz und wartete mit der Uhr in der Hand den Ablauf der festgesetzten Zeit ab, ehe er den Befehl zum polizeilichen Eingreifen gab (VR, GV 50).
Am nächsten Morgen – es war ein Sonntag – mussten sämtliche Bewohner im Haus bleiben, bis die polizeiliche Untersuchung zu Ende war. Um Mittag wurden die zerstörten Räume von der Staatspolizei versiegelt. Innitzer protestierte gegen diese Art der Behandlung; es wurde ihm und seinen beiden Sekretären gestattet, sich in den Dom zur Heiligen Messen zu begeben. Von allen anderen Bewohnern verlangte man eine schriftliche Erklärung, über die Ereignisse nichts zu erzählen. Der päpstliche Nuntius, der zufällig aus Berlin nach Wien gekommen war, besuchte den Kardinal im Palais, wurde aber in die zerstörten Räume nicht eingelassen. Durch den Nuntius ließ der Kardinal am 9. Oktober einen Bericht an die Kanzlei des Führers gelangen, mit einer Beschwerde und einer Aufstellung all dessen, was entwendet worden ist, doch ist darauf niemals eine Antwort gekommen (GV 50 f.).
Damit war aber die Angelegenheit für die NSDAP noch nicht erledigt. Sie brauchte zusätzlich noch eine antiklerikale Massenkundgebung. Für den Abend des 13.10. rief sie die Wiener zu einer Protestkundgebung gegen Innitzer auf. Über 100.000 fanden sich auf dem Heldenplatz ein und trugen Spruchbänder mit den Aufschriften: „Die Pfaffen an den Galgen“, „Nieder mit dem Klerus“, „Innitzer nach Dachau“, „Zum Teufel mit Jesuiten“, „Ohne Juden ohne Rom wird erbauet Deutschlands Dom“. In diese fanatisierte Masse brüllte Reichskommissär Josef Bürckel – vor seinem Amt in der NSDAP Volksschullehrer in einer Klosterschule im Saargebiet – die übelste Hetzrede. Immer wieder unterbrachen die dort Versammelten mit tosendem Beifall oder gellenden Pfuirufen die Rede Bürckels. Nach der Kundgebung ziehen die aufgeputschten Massen zu Tausenden am Erzbischöflichen Palais vorüber und rufen in Sprechchören: „Zwei Drei Vier – Innitzer krepier“ und „wir fordern: Den Hund Innitzer an den Galgen“ (VR).
Die „Neue Zürcher Zeitung“ berichtete über diese Massenveranstaltung der NS unter dem Titel „Zum formalen und geistigen Tiefstand einer Rede“: Sie sei rein rednerisch die mieseste Kundgebung, die bisher aus dem Dritten Reich durch den Äther tönte. Grammatikalisch falsch konstruierte Wendungen, wiederholt völlig zusammenhangloser rednerischer Aufbau; dazu ein Tiefstand der Gesinnung. Die Form hat vollkommen enttäuscht, doch der Inhalt hat diesen Mangel reichlich wettgemacht. Die Welt ist nun über die derzeitige kirchenpolitische Lage in Österreich vollkommen im Bilde (GV S 83). Die „Londoner Times“ meldete sogar eine Verhaftung Innitzers.
Der Papst lässt dem Kardinal durch den Nuntius seine Anteilnahme ausdrücken, 130 nordamerikanische Bischöfe senden von einer Konferenz aus ein Sympathietelegramm an Innitzer, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Bertram von Breslau kündigt eine Note an Reichskirchenminister Kerrl an. Den schönsten Brief erhält der Kardinal vom Berliner Bischof Graf von Preysing: „In den schweren Stunden der Heimsuchung, die Christus der Herr, über das Bistum eurer Eminenz hat kommen lassen, möge ihnen das Bewusstsein Kraft und Mut geben, dass das gläubige katholische Volk Deutschlands mit seinem Klerus, im Gebet und Hoffnung mit eurer Eminenz verbunden ist“. (VR, GV 83).
Folgende Teilnehmer an dieser Veranstaltung haben irgendwie an Freiheit oder Körper
Schaden genommen:
Verletzt wurden: die Priester Franz Jachym, Jakob Weinbacher, Johannes Krawarik.
In das KZ sind für längere Zeit gekommen: Hans Eis, KZ-Dachau und Mauthausen, nach
der Enthaftung 1940 in Wien gestorben; Ferdinand Habel, Sohn des Domkapellmeisters,
am 3.2.1940 in Mauthausen an Hungertyphus gestorben; Josef Kaspar, Dachau und
Mauthausen, nach seiner Entlassung seit Dezember 1944 in Kurland vermisst; Hermann
Lein, aus dem Krieg zurück gekehrt; Franz Ranftl. Eis, Lein und Ranftl sind am 13. April
1940 aus dem KZ entlassen worden, nicht aber Kaspar.
Für kürzere Zeit sind verhaftet worden: Egon Hanel, Kurt Hickl, Adrienne Jantschge, Franz
Riesenhuber. Für diese nur kurz inhaftierten intervenierte der päpstliche Nuntius; sie
wurden von der Polizei gegen Erlag einer Geldstrafe von 11 Reichsmark wegen
„Randalierens“ entlassen. Jaro Kaspar, der Bruder von Josef Kaspar, ist am 17.10.1938
am Stephansplatz von der Gestapo verhaftet worden; mit Hilfe von Kameraden ist es ihm
möglich gewesen sich loszureißen und unterzutauchen. (LGD S 30, 87; BF 12).
Abkürzungen und Quellen:
Ac: Academia, Jahrgang, Nummer, Seite
BF: Bekenntnisfeier 1978
FK: Der Freiheitskämpfer, Monat, Jahrgang bzw. Nr. Jahrgang, Seite
FT: Farben tragen – Farben bekennen 1938 bis 1945, Katholische Studenten im
Widerstand
Fu: Die Furche, Datum, Seite
GM: Gedenkmesse am 7.10.1996
GV: „Auf zum Schwure“, Gedenkveranstaltung 7.10.1998
LIG: Hermann Lein, „Als Innitzer Gardist in Dachau und Mauthausen“, Herder & Co,
Wien 1988
MB: Messbuch der katholischen Kirche 51. Auflage, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau
VR: Viktor Reimann „Innitzer nach Dachau“, Buchbesprechung in der "Furche" vom
12.10.1968,
WVW: Widerstand und Verfolgung in Wien