Die schwäbische "Hexenmutter"#
Johannes Keplers Mutter starb vor 400 Jahren. Noch kurz davor war sie dem drohenden Scheiterhaufen entgangen.#
Von der Wiener Zeitung (3. März 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Christian Pinter
Zänkisch, schwatzhaft, mit beißendem Witz und rauen Sitten - so beschreibt der Astronom Johannes Kepler seine Mutter Katharina. Die wissbegierige Frau, die allerlei Kräuteressenzen und Mittelchen zur Heilung von Krankheiten zubereitet, mische sich häufig ungefragt in anderer Leute Angelegenheiten ein.
Katharina Kepler wurde vermutlich am 8. November 1547 im schwäbischen Eltingen als Tochter des Wirts Melchior Guldenmann geboren. Sie scheint zeitweilig bei einer Verwandten namens Renate Streicher aufgewachsen zu sein. Diese machte das Mädchen wohl mit Kräutern vertraut und wurde später als "Hexe" verbrannt.
1571 heiratete die zierliche Katharina den hitzköpfigen Heinrich Kepler. Doch wenige Jahre nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Johannes in Weil der Stadt machte sich Heinrich als Söldner davon. Katharina bezog weiterhin Schläge, jetzt von der Schwiegermutter. Sie reiste dem jähzornigen Gatten nach, holte ihn zurück und übersiedelte mit ihm ins nahe Leonberg. Schließlich zog der Mann einmal mehr in den Krieg. Er starb 1590.
Johannes Keplers jüngerer Bruder Christoph ist Zinngießer. Er verwickelt sich in einen geschäftlichen Streit mit Ursula Reinbold, der Frau des Leonberger Glasermeisters. Daraufhin wirft Katharina Kepler der Reinboldin liederlichen Lebenswandel vor. Diese behauptet im Gegenzug, die Keplerin hätte ihr einen üblen Trank verabreicht; seither würde sie von schlimmen Schmerzen geplagt: Die Giftmischerin müsse sie verhext haben!
Ans Eisenband gelegt#
Bald mehren sich Anschuldigungen ähnlicher Art, bald werden Gerüchte gestreut. Eine Salbe, eine Berührung, ein böser Blick der seltsam anmutenden Witwe sind plötzlich schuld an den verschiedensten Leiden. Das wäre Schadenszauber! Ist Katharina vielleicht mit dem Teufel im Bunde? Eigentümlich wirkt sie ja. So wollte sie den Totengräber einst den Schädel ihres Vaters wieder ausgraben lassen, um daraus einen Trinkkelch zu machen: Von ähnlichen Sitten will sie ausgerechnet während einer Predigt erfahren haben.
Der Bruder der Reinboldin, von Beruf Hofbarbier, möchte Katharina mit Gewalt einen "Gegenzauber" abnötigen. Sie ist schlau genug, das Ansinnen von sich zu weisen. Stattdessen erhebt sie nun eine Verleumdungsklage beim Leonberger Gericht. Der parteiische Vogt Lutherus Einhorn zögert dieses Verfahren hinaus. Dann leitet er ein Hexenverfahren gegen Katharina ein.
Die Lage spitzt sich zu, als innerhalb weniger Monate sechs "Hexen" hingerichtet werden. Ende 1615 erfährt Johannes Kepler von den Anschuldigungen, durch einen Brief seiner Schwester Margaretha. Kepler ist kaiserlicher Mathematiker und steht zusätzlich im Dienst der oberösterreichischen Stände. Sofort schreibt er aus Linz an den Vogt, den Bürgermeister und das Gericht in Leonberg. Dabei dreht er den Spieß um: Nicht seine Mutter, sondern jene, die gegen diese aussagten, hätten sich vom "leidigen Teufel" in verleumderische Machenschaften verstricken lassen.
Auf Veranlassung des Vogts darf Katharina nicht mehr über ihr Vermögen verfügen; im Falle einer Verurteilung sollen damit Prozesskosten beglichen werden. Ende 1616 reist sie widerwillig zu ihrem Sohn Johannes und dessen Gattin nach Linz. In deren Wohnung in der Hofgasse Nr. 7 verweilt sie bis zum nächsten Herbst. Das wird ihr als Fluchtversuch ausgelegt. Dann begibt sich der Astronom selbst per Schiff und Fuhrwerk nach Württemberg. Er trifft hier Lehrer sowie Freunde aus Studientagen und nimmt Einblick in die Vernehmungsprotokolle.
Katharina Kepler zieht nach Heumaden, zu ihrer Tochter und deren Gatten, einem evangelischen Pastor. Am 7. August 1620, mitten in der Nacht, wird sie abgeholt. Um Aufsehen zu vermeiden, lässt Margaretha ihre alte Mutter in einer Truhe aus dem Pfarrhaus tragen. Auch Sohn Christoph fürchtet um sein Ansehen. Er bittet umgehend um die Verlegung der Inhaftierten an einen anderen Ort. So kommt sie nach Güglingen, 30 Kilometer nördlich von Leonberg. Johannes Kepler sieht sie dort am 26. September 1620 wieder, und zwar "im Torhäuslein an ein Eisenband gelegt". Er erreicht die Unterbringung im geheizten Haus des Stadtknechts. Auch hier wird Katharina anfangs bloß mit dem Allernötigsten versorgt. Für bessere Verpflegung, für Holz zum Heizen und für die beiden verschuldeten Wächter kommt Johannes auf; ebenso für den Anwalt. Dabei sorgt bereits seine weitere Absenz aus Linz für drastische Einkommenseinbußen.
Seit Herbst 1619 liegen 49 zusammengetragene "aller schrecklichste und schändlichste" Anschuldigungen gegen Katharina Kepler vor. Wie darin vermerkt wird, sei sie von einer Hexe großgezogen worden und hätte ihren Ehemann mit Unholdenwerk vertrieben. Ihr mittlerweile verstorbener Sohn Heinrich habe außerdem schon vor Jahren erzählt, sie hätte ein Kalb zu Tode geritten. Tatsächlich hatte er das Tier selbst abgestochen, nachdem ihn, ausgezehrt aus der Fremde heimkehrend, die Lust auf Fleisch übermannte.
Durch versperrte Türen#
Der Metzger habe Schmerzen im Schenkel verspürt, als die Keplerin an ihm vorbeigegangen sei. Die beiden kranken Söhne des Schneiders wären gestorben, nachdem sie sich über deren Wiege gebeugt habe. Ein Mann hätte nach dem Genuss ihrer Suppe ebenfalls das Zeitliche gesegnet. Der Schulmeister sei seit einem Schluck von Katharinas Trank gelähmt. Außerdem soll die mutmaßliche "Hexe" an einem Ziegel schleppenden Mädchen angestreift sein, das danach über Schmerzen im Arm klagte. Andere Zeugen beteuern, die Alte sei durch versperrte Türen gekommen. In ihrem Gefängnis soll die angekettete, zahnlose Gefangene beim Essen ein Messer verwendet haben - obwohl man ihr ein solches verwehrt hatte. Sie habe den Blick der Zeugen nicht erwidert und keine Träne vergossen. Auch das sei typisch für Hexen, heißt es.
Johannes Kepler macht sich mit der verqueren Denkweise der Ankläger vertraut, die eilig eine Verschwörung mit dem Teufel wittern. Er studiert das "Hexentraktat" des Jesuiten Martin Delrio, das wiederum Werke anderer Fanatiker wie etwa den einflussreichen "Hexenhammer" des Dominikaners Heinrich Kramer zitiert.
Mit Akribie zieht Johannes den Ruf und die Glaubwürdigkeit der Zeugen in Zweifel. Die Reinboldin sei von ihrem leichtfertigen Lebenswandel, von Quecksilberkuren (die man damals unter anderem bei Syphilis anwendet) "im Kopf zerrüttet" worden. Der Schulmeister sei ein Fabelmann; seine arge Verletzung rühre von einem Sprung über einen Graben her. Das Ziegelmädchen hätte wohl zu viel geschleppt. Und was das plötzliche Erscheinen Katharinas in verschlossenen Zimmern anlangt, so wird einfach jemand vergessen haben, die Türe abzusperren.
Der Angeklagten droht die peinliche, also Schmerzen bereitende Befragung. Auch Delrio hatte die Folter als Mittel der Wahrheitsfindung gepriesen. Das unter Höllenqualen abgerungene Bekenntnis gilt dann als Rechtfertigung für die Tortur: ein Teufelskreis im wahrsten Wortsinn. Johannes Kepler weiß das: Es sei gefährlich, einen Menschen auf die Anschuldigungen abergläubischer Zeugen hin "grimmig zu zerreißen", warnt er.
Bei der Gerichtssitzung am 20. August 1621 in Güglingen hält der Stadtschreiber fest, die Angeklagte sei "leider mit Beistand ihres Sohns" erschienen. Für den 49-jährigen Astronomen ist das nicht ohne Risiko: Wer mit einer mutmaßlichen Hexe verwandt ist oder ihr beisteht, kann sich selbst verdächtig machen. Wie Kepler festhält, werde ihm bereits äußerste Gefahr angedroht. Ein Gerücht läuft um, wonach der Kaiser ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hätte.
In einem nach Württemberg gelangten Romanmanuskript hatte Johannes Kepler seine Leser vom Mond aus auf die Erde blicken lassen; denn deren Bewegung, von Kopernikus 1543 erkannt, wird von den meisten Zeitgenossen noch als Hirngespinst abgetan. In den katholischen Ländern ist es seit 1616 sogar verboten, die Erdbewegung zu lehren. Als hilfreiche Begleiter auf dem fiktiven Flug zum Mond dienen Kepler in seiner Erzählung seltsame Geister, die er, recht unglücklich, "daímones" nennt. Bei Duracoto, der Hauptfigur der Geschichte, entdeckt man biografische Bezüge zum Autor. Dessen kräuterkundige Mutter ähnelt Katharina Kepler. Johannes befürchtet, damit Öl ins Feuer gegossen zu haben.
Ader um Ader#
Er reicht eine 128-seitige Verteidigungsschrift ein. Der Herzog Johann Friedrich von Württemberg ist der vielen Eingaben der Parteien schließlich müde: Er lässt ein Gutachten der juristischen Fakultät an der protestantischen Universität in Tübingen anfordern. Einer der dortigen Rechtsexperten ist Christoph Besold, ein Freund Keplers aus Studientagen. Dieser Professor hat ihm bereits Ratschläge zur Verteidigung seiner Mutter erteilt. Wie die Fakultät am 10. September 1621 festhält, mangle es der Anklage an stichhaltigen Beweisen. Die Gefangene solle daher nicht durch Pein, wohl aber durch Angst und Schrecken zu einem Geständnis gebracht werden.
Am 28. September 1621 führt ihr der Scharfrichter die Folterwerkzeuge vor und schildert die zu erwartenden Qualen. Man könne mit ihr tun, was man wolle, beteuert Katharina, selbst eine Ader nach der anderen aus dem Leib ziehen. Sie hätte nichts zu gestehen, und falls sie solches doch täte, dann bloß der unerträglichen Schmerzen wegen. Sie betet ein Vaterunser, fällt dabei auf die Knie.
Zur Verblüffung vieler entscheidet der Herzog nun auf Freispruch. Die knapp 75-Jährige wird Anfang Oktober 1621 entlassen, nach sechs Jahren Rechtsstreit und 14 Monaten Kerker. In Leonberg legt man keinen Wert auf ihre Rückkehr. Wie der Vogt meint, würde sie dort wohl totgeschlagen werden. Die alte Frau zieht wahrscheinlich zu ihrer Tochter, die mittlerweile in Roßwälden lebt.
Der Tod ereilt sie am 13. April 1622. Heute weiß niemand, wo Katharina Kepler begraben liegt. Ohne ihre Hartnäckigkeit und das mutige Einschreiten ihres Sohns wäre sie wohl als Hexe verbrannt worden, so wie es mehr als 50.000 anderen Frauen auch tatsächlich geschah.
Christian Pinter, geboren 1959, schreibt seit 1991 hauptsächlich über Astronomie im "extra". www.himmelszelt.at