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Radkersburg 1919 #

von Peter Diem und Kurt Hengl

Die Suche nach ethnischen Grenzen#

Nach dem Zusammenbruch der k.u.k. Armee am 3. November 1918 und darauf des Habsburgerreiches, im Freudentaumel sowohl der Siegermächte als auch der Nachfolgestaaten nichtdeutscher Zunge, die Thesen Woodrow Wilsons von der Selbstbestimmung im Ohr, gingen die künftigen Nachbarn Österreichs im Norden und Süden daran, möglichst große Stücke Deutschösterreichs zu reklamieren:

Schon am 9. November berief der Kommandant des Marburger Landsturmkreises, Major Rudolf Maijster (vormals Meister), zielstrebig die Initiative ergreifend, alle Militärpersonen von Untersteier (Radkerburg, Marburger und Cillier Kreise) zur Stellung und Dienstleistung: "Staatsbürger! Südslaven! Erstanden ist uns ein Vaterland Jugoslavien".

In der Folge besetzten Truppen des neuen SHS-Staates (Slowenien-Kroatien-Serbien) vorsorglich alle reklamierten Gebiete, Marburg am 23.11., Spielfeld am 25.11. und Radkersburg am 1.12., und beseitigten die deutschsprachigen Funktionäre. Im Süden des Landes dominierten ja bei weitem die deutschsprachigen Steirer in den Städten (Radkersburg, Marburg, Pettau u.a.), während die slowenischsprechenden Steirer die Mehrheit der Landbevölkerung stellten. Das strategisch gelegene Radkersburg mit der Bahnlinie nach Spielfeld und Marburg einerseits sowie nach Luttenberg andererseits war für die Begründer Jugoslawiens ebenso wichtig wie die fast rein deutschsprachigen Städte Marburg und Pettau. Überdies reklamierte Jugoslawien die östlich an Radkersburg angrenzende und von dort leicht erreichbare bisher ungarische Gegend Uebermur/Prekamurje mit der Hauptstadt Muraszombet (heute Murska Sobota).

In der Sorge um die Versorgung der Bevölkerung von Graz, die von der südsteirischen Landwirtschaft abhängig war, wollte die Steiermärkische Landesregierung einen offenen bewaffneten Streit mit dem neuen Nachbarn vermeiden und zählte, statt eine eigene Miliz zum Schutz des Landes aufzustellen, auf den guten Willen der zukünftigen Friedenskonferenz - verfolgte doch Präsident Wilson den Grundsatz "the interest of the population concerned..." Die deutschsprachige Bevölkerung Marburgs wollte der amerikanischen Studienkommission unter Archibald Coolidge, anlässlich ihrer Visite in Marburg am 27.Jänner 1919, ein eindrucksvolles Zeichen der Zugehörigkeit zu Deutschösterreich setzen und versammelte sich vor dem Rathaus. Eine jugoslawische Patrouille eröffnete auf die unbewaffneten Demonstranten das Feuer und räumte den Platz- es waren an diesem "Marburger Bluttag" 16 Tote und mehr als 60 Verletzte zu beklagen. Augenzeuge Bruno Rungaldier berichtet:...

Eine Freischar unter dem Oberleutnant Johann Mickl versuchte am 4.Februar gegen die jugoslawische Besatzung einen Aufstand, der sich rasch bis Mureck und Spielfeld sowie ins Abstaller Feld jenseits der Mur ausbreitete; am 8.Februar musste Mickl jedoch mit den überlegenen jugoslawischen Kräften einen Waffenstillstand schließen. Dieser mündete politisch in die Marburger Vereinbarung, durch die die Besatzungszonen aufrechterhalten und die endgültigen Regelungen der Friedenskonferenz vorbehalten blieben - der Ball war nun bei den Alliierten und einem zukünftigen Friedensvertrag.

Den in Radkersburg gefallenen elf Freischarkämpfern wurde 1928 am Rathaus eine Gedenktafel gewidmet, die lokale Bundesheerkaserne nach Johann Mickl benannt.

Verzweifeltes Bemühen in Saint Germain.#

Am 18.Jänner 1919 wurde die Friedenskonferenz in Paris eröffnet, die wie kaum eine andere Konferenz bisher mit Sachkenntnis und der Beobachtung von Detailproblemen an die zu lösenden Fragen heranging. Im Obersten Rat der fünf alliierten Siegermächte fielen die Entscheidungen, seine Sitzungen waren geheim. Die Verliererstaaten hatten keine Möglichkeit, diesen Obersten Rat direkt zu beeinflussen.

Am 18.Februar legte die slowenische Delegation dem Rat eine Denkschrift vor, in der das Radkersburger Dreieck dem SHS-Königreich zufallen sollte, inklusive sein rechtsmurisches Abstaller Feld, sowie das nördliche Murufer bis Spielfeld. Die Radkersburger Frage schien praktisch entschieden, noch ehe die österreichische Friedensdelegation in Paris eingetroffen war. Ihre Verhandlungsposition war, das Drau- und Murgebiet mit Radkersburg, Marburg und Pettau als einheitliches Verkehrs- und Wirtschaftsgebiet Österreich zu erhalten; über die staatliche Zuteilung der strittigen Gebiete sollte nach dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes ("the interest of the populations concerned") eine freie Volksabstimmung entscheiden. Am 2.Juni wurde der österreichischen Abordnung der erste Teil der Friedensbedingungen zur Kenntnis gebracht: Ein Aufschrei der Empörung ging durch das Land - Abtretung eines Drittels der Steiermark. Am 20. Juli wurden die vollständigen Friedensbedingungen überreicht, welche die Bestimmungen vom 2. Juli bestätigten.

Österreich betonte daraufhin nachdrücklich seinen Anspruch auf das zusammenhängende Siedlungsgebiet in der Steiermark, gab, sich auf Radkersburg und Marburg konzentrierend, resigniert Pettau (Ptuj) auf und verlangte, analog zu Kärnten, auch für die Steiermark eine Volksabstimmung.

Am 27. August befasste sich die alliierte Gebietskommission neuerlich mit der steirischen Frage. Die französische und die britische Delegation lehnten eine Abstimmung in Marburg ab mit der Begründung, die Bevölkerung hätte die neun Monate verlaufende Besetzung des Marburger Beckens durch südslawische Truppen protest- und widerstandslos hingenommen; der Oberste Rat kam zu keiner Einigung, erwog jedoch, das Abstimmungsgebiet auf Luttenberg und Pettau auszudehnen. Österreich zeigte sich darauf bereit, auf Marburg (Maribor) zu verzichten, falls dafür Radkersburg mit seinem Abstaller Feld bei Österreich bliebe. Am 29.August entschied der Oberste Rat, ohne Abstimmung das Marburger Becken dem SHS-Königreich, das linksmurische Radkersburger Dreieck der Republik Öesterreich zukommen zu lassen. Damit war das zum Radkersburger Bezirk gehörende deutsche Abstaller Feld mit 22 Gemeinden ebenfalls verloren. Am 16. Juli 1920 erfolgte die Ratifikation des Friedensvertrages von Saint Germain, am 20.Juli erfolgte die langersehnte Räumung Radkersburgs in Anwesenheit von Staatssekretär Dr. Karl Renner, nachdem österreichische Truppen am 18. Juli Abstall räumen mussten. Die interalliierte Abgrenzungskommission besuchte noch am 25. August 1920 (!) Abstall, konstatierte die Unhaltbarkeit der neuen Grenze, konnte aber nichts mehr erreichen.

Literatur:

  • Im Brennpunkt des Geschehens 1918 - 1920, Stadtgemeinde Bad Radkersburg 2018
  • Leibnitz Aktuell 2019: Marburger Bluttag (ex Prof. Dr. Stefan Karner: Steiermark im 20. Jahrhundert, Graz 2004)



Majsters Aufruf
Majsters Aufruf
Marburger Bluttag
Marburger Bluttag
Rathausturm mit Mahner
Rathausturm mit Mahner
Gedenken an die Gefallenen der Freischar_1919
Gedenken an die Gefallenen der Freischar_1919
Tote_Grenze _zu Slowenien
Tote_Grenze _zu Slowenien

Epilog I#

Die Bewohner der 22 deutschen Gemeinden von Abstall, nunmehr Abace in Slowenien, zeigten nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland verstärkt ihren Wunsch nach einer "Heimkehr ins Reich" - am 6. April 1941 brachen deutsche Truppen bei Radkersburg über die Mur und begannen eine Regermanisierung, Aussiedlung slowenischer Familien und die Einziehung von Slowenen in die Wehrmacht, gefolgt von Terroranschlägen und Partisanenkämpfen. Während des langsamen Rückzugs der Wehrmacht verabschiedete das jugoslawische Parlament ein Gesetz, dass zur Kompensation der deutschen Politik und der Schäden des Weltkrieges alle Deutschsprachigen in Jugoslawien enteignet werden. In Slowenien traf dies hauptsächlich die Abstaller, die anfangs 1946 ermordet oder in Viehwaggons außer Landes gebracht wurden.

Abstaller Totengedenkbuch#

In der Mariahimmelfahrtskirche in Abace ist das Totengedenkbuch für die gefallenen und ermordeten Abstaller aufbewahrt: "Unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkrieges verübten die Kommunisten in Slowenien eine Reihe von Verbrechen, die in der Geschichte bisher unbekannt waren. Am markiertesten waren die "außergerichtlichen Massenexekutionen" von Kriegsgefangenen, Repatriierten und in Slowenien internierten Zivilisten. Unter ihnen waren eine beträchtliche Zahl von Frauen, Alten und Kindern. Innerhalb weniger Wochen wurden Tausende Personen umgebracht..."

Literatur:
Abstaller Totendenkbuch, Graz 2003

Theresia Pirscher: Ein Leben zwischen Bangen und Hoffen.

NS-Judenverfolgung nach 1938
NS-Judenverfolgung nach 1938
Sowjets besetzen Radkersburg
Sowjets besetzen Radkersburg
Vertreibung der Deutschsprachigen aus Apace
Vertreibung der Deutschsprachigen aus Apace
Marienkirche
Marienkirche
Gedenken an die Gefallenen und Ermordeten l
Gedenken an die Gefallenen und Ermordeten l
Totengedenkbuch Abstall
Totengedenkbuch Abstall

Epilog II Brücken vereinen#

Noch in der Monarchie, 1890, wurde aus wirtschaftlichen Erwägungen die Eisenbahn von Radkersburg über die Mur tief nach Südosten nach Luttenberg verlängert. In der Zeit nach 1919 kehrte langsam Ruhe in die ethnisch gespaltene Region (Deutsche, Ungarn und Slowenen) ein. 1941 überquerte die deutsche Wehrmacht die Radkersburger Brücken zur Invasion Sloweniens; 1945 floh sie vor den anrückenden Sowjets und sprengte Strassen- und Bahnbrücke. Die britische Besatzungsmacht errichtete 1952 eine Holzpontonbrücke, die erst 1969 durch eine Betonbrücke ersetzt und als Zeichen der Zusammenarbeit von Bundespräsident Jonas und Marschall Tito eröffnet wurde. Die Eisenbahnbrücke und die Linie nach Slowenien warten weiterhin auf eine Wiedererrichtung.

Straßenbrücke 1969 über die Murgrenze
Straßenbrücke 1969 über die Murgrenze
In Radkersburg endet die Bahn
In Radkersburg endet die Bahn
-->Text und Fotos ©: Kurt Hengl

Literatur:
Spital-Museum Murska Sobota


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