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Die vergessenen Soldaten Österreich-Ungarns#

Heimito von Doderer und viele andere Kriegsgefangene der k.u.k. Armee saßen 1919/20 in Russland fest.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 21. November 2019

Von

Gerhard Strejcek


Wir schreiben November 1919, in dem sich bereits ein strenger Winter ankündigt. Viele Zivilisten und ehemalige Soldaten werden, bedingt durch Hunger, Gewalt und Infektionen, ihr Leben lassen müssen. In Zentraleuropa herrscht nach den Friedensverträgen der Pariser Vororte ein fragiler Frieden. Aber noch befinden sich tausende Soldaten der ehemaligen Mittelmächte fern der Heimat in sibirischen Lagern in Orten wie Krasnojarsk oder Nowosibirsk (damals: Nowonikolajewsk).

Manche von ihnen versuchen, sich auf abenteuerlichen Wegen in Richtung Westen durchzuschlagen, und geraten in die Fänge des russischen Bürgerkriegs. Die Angehörigen und Frauen vermissen ihre Verwandten und Partner. Die österreichische Regierung des Staatskanzlers Renner in Wien kann den in Sibirien festsitzenden Kriegsgefangenen kaum helfen. Diese sind auf Besuche von skandinavischen Delegierten, wie etwa dem für Dänemark tätigen Xaver Schaffgotsch und guten Geistern wie Elsa Brandström, angewiesen.

Alliierte Interessen#

Die österreichische Regierung hingegen kämpft selbst mit elementaren Problemen wie dem Mangel an Nahrungsmitteln und Brennstoff. Immer noch schwelen Konflikte auf Kärntner Boden und im späteren Burgenland. Im Lichte dieser Kulisse geraten die ehemaligen k.u.k. Soldaten im fernen Osten in Vergessenheit.

Nicht alle Kriegsgefangenen waren damals in Lagern interniert, in Sibirien und Transbaikalien kämpften zur Jahreswende 1919/20 auch österreichische und deutsche Soldaten an unklaren Fronten und für fragwürdige Ziele. Viele von ihnen hatten zunächst mehrere Jahre in zaristischen Lagern zugebracht, wo zwar Flecktyphus und Ruhr grassierten, aber der kriegsrechtliche Status eindeutig war. Als sich das Ende der Kampfhandlungen an den Weltkriegsfronten näherte, gab es Hoffnung auf mehr Freizügigkeit, die Internierten durften die Lager zu Ausgängen und Arbeiten verlassen.

Doch als der Bürgerkrieg zwischen Rot und Weiß tobte, gerieten die "Plennys" (russisch für Kriegsgefangene) in Gefahr. Die lokalen Kommandeure missachteten das Völkerrecht, es kam zu Zwangsrekrutierungen und einer weiteren Verschlechterung der Versorgung. Wer im Lager verblieb oder weiter nach Osten getrieben wurde, stand nun unter der Aufsicht von Deportationstruppen oder Legionären.

Schon vor der Revolution hatten russische Kommandeure das militärische Potenzial entdeckt, das in Überläufern und in jenen Gefangenen steckte, die sie wegen der Namen für Slawen hielten. Diese galt es, freiwillig oder (häufiger) mit Gewalt dazu zu bringen, wieder an die Front zurückzukehren und gegen die einstigen Kameraden zu kämpfen.

Als Vorbild diente die Tschechische Legion, die bald 80.000 Soldaten und Offiziere umfasste und zunächst Seite an Seite mit den russischen "Brüdern" kämpfte; das änderte sich schlagartig, als die Revolution 1917 ausbrach und die neuen bolschewistisch-kommunistischen Machthaber im Frühjahr 1918 einen Waffenstillstand und später Frieden mit den Mittelmächten schlossen, um ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen. Die Tschechische Legion hätte gerne ihre militärischen Erfolge im Westen Russlands fortgesetzt und weiter gekämpft, um dann siegreich in einen eigenen Staat heimzukehren, der im November 1918 Wirklichkeit wurde.

Doch als der Krieg im Osten mit den später revidierten Abmachungen von Brest-Litowsk endete, sollte die Legion entwaffnet werden, wogegen sie sich heftig wehrte; so entstand in den Köpfen der Kommandeure, darunter der berüchtigte General Gajda, die von der Entente unterstützte Idee, statt unbewaffnet in die ČSR zu ziehen, die Waffen zu behalten und Richtung Osten bis Wladiwostok oder in den Norden nach Archangelsk zu marschieren oder per Bahn zu fahren, um sich den Expeditionstruppen der Engländer, Franzosen, Amerikaner oder Japaner anzuschließen.

Die Alliierten hatten unterschiedliche Interessen und waren sich nur in der Strategie einig, möglichst nicht in den bewaffneten Konflikt hineingezogen zu werden. Frankreich, das durch den Sieg an der Westfront wieder erstarkt war, entsandte General Janin mit Interventionstruppen nach Russland. Amerikaner standen in Wladiwostok und am Eismeer (Archangelsk) bereit, wo auch britische Schiffe landeten.

Den Japanern ging es im Osten des riesigen, ehemaligen Zarenreiches um Bodenschätze und strategische Investitionen. Dass sich japanische Topografen und das Militär ungehindert in Transbaikalien bewegen konnten, nutzten die kriegserfahrenen Asiaten, die im Ersten Weltkrieg auf Seite der Alliierten kämpften, zur Einflussnahme in dieser Region.

Geschildertes Grauen#

Offiziell standen sie hinter dem "weißen" General Semjonow und dem dubiosen deutschstämmigen Adeligen Ungern-Sternberg, doch hinter den Kulissen hielten sie den Konflikt am Kochen und motivierten die Bevölkerung, sich gegen die "weiße Tscheka" (Geheimpolizei) aufzulehnen. Die Briten erhofften sich wirtschaftliche Vorteile und Konzessionen für den Abbau in der an Bodenschätzen reichen Region.

Offiziell förderten sie die Demokratisierung und einen neuerlichen Umsturz zugunsten einer dem Westen geneigten Regierung, wie dies Alexander Fjodorowitsch Kerenski oder ein sich in der Stadt Ufa bildendes Komitee versprachen, die sich aber allesamt nicht durchsetzen konnten. Der antibolschewistische Admiral Koltschak riss die Macht in Sibirien an sich und setzte das Komitee kurzerhand ab. Er hielt sich als "starker Mann" bis Anfang 1920 an der Macht, ehe er von seinen Verbündeten verraten und im Februar 1920 in Irkutsk von Rotarmisten hingerichtet wurde.

Der später NS-affine Autor Edwin Erich Dwinger, der selbst für die "Weißen" kämpfte, schilderte, wie der von seinen Anhängern verehrte Koltschak selbst den Schussbefehl erteilte. In seinem Roman "Zwischen Weiß und Rot" gab Dwinger aber eine Schilderung der humanitären Lage ab, die das Grauen des Bürgerkriegs ermessen lässt.

Auf den Schienen verkehrten Panzerzüge, die Massaker anrichteten, aber keine Gefangenen heimbrachten. Um ihren Rückzug zu sichern, besetzten die tschechischen Truppen die strategisch wichtigen Bahnhöfe der Transsibirischen Eisenbahn. Diese Aktion wurde den nach Freilassung oder Flucht zurückreisenden Österreichern und Deutschen zum Verhängnis, da sie zwar Zentralrussland erreichten, dann aber von Tschechen und sich formierenden "weißen" Truppenteilen an der Weiterreise gehindert wurden.

Wer noch in einem sibirischen Kriegsgefangenenlager saß, wie der Autor Heimito von Doderer, versuchte entweder Arbeit vor Ort zu finden oder sich auf eigene Faust Richtung Westen durchzuschlagen. Aus jener Zeit stammen Doderers Berichte vom Holzfällen in Sibirien, das ihm die Rekrutierung ersparte. Die körperliche Hauptarbeit leistete zwar, folgt man Biograf Wolfgang Fleischer, ein türkischer Kamerad mit Urkräften und ausgefeilter Technik. Dennoch konnte sich der angehende Autor, ein Ex-Dragoner-Fähnrich, bei der Arbeit bewähren.

Die Strategie der ausgemergelten und heimkehrwilligen, ehemaligen k.u.k. Soldaten und deren Offiziere, sich nach dem Westen durchzuschlagen, scheiterte. War es zunächst die Sorge, wieder an eine (andere) Weltkriegsfront zurückkehren zu müssen, so standen nun die Tschechische Legion und "weiße" Armeen an den meisten Fluchtpunkten einer Rückkehr im Weg. Die mongolische oder chinesische Route barg große Gefahren, ansonsten gab es kein Weiterkommen.

Im Norden operierte General Miller, in Transbaikalien der grausame Ataman Semjonow. In Omsk regierte Admiral Koltschak, auf der Krim formierten sich Donkosaken unter Denikin, General Judenitsch drängte Richtung Petersburg und Moskau. Die Niederlage der Bolschewiken und ihrer "roten" Armee schien nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Die Alliierten verkauften Waffen, darunter neue Tanks (Panzer), mischten sich aber sonst kaum in den Bürgerkrieg ein.

Ehemalige zaristische Kavallerie und Kosaken schüchterten die roten Truppen durch spontane Angriffe ein. Und zwischen den Fronten saßen die Kriegsgefangenen, die nun immer stärker den Wunsch verspürten, nach Jahren endlich wieder ihre Angehörigen und die Heimat zu sehen.

Sie litten an Krankheiten, zudem drohte verschärfte Lagerhaft in der "Katorga", wie der spätere Gulag damals hieß. Wer den brutalen Aufsehern Widerstand entgegensetzte, wurde deportiert oder erschlagen. In den sibirischen Lagern kamen die Gefangenen mit den Einheimischen besser zurecht als mit den zunehmend Bewachungsaufgaben übernehmenden tschechischen Legionären, die vor allem ihre ehemaligen Vorgesetzten drangsalierten und demütigten.

Heimkehr via Baltikum#

Die Rote Armee siegte letztlich gegen die uneinigen und grausamen "weißen" Truppen. Diese hatten sich selbst diskreditiert. Bald wollte auch die Landbevölkerung nichts mehr von Abenteurern, einer zaristischen Restauration und dem Bürgerkrieg wissen und nahm das vermeintlich kleinere Übel der Bolschewisierung hin.

Die vergessenen Österreicher profitierten von der neuen Lage. Allmählich konnten die Kriegsgefangenen im Frühjahr und Sommer 1920 via Baltikum heimkehren. Wie die sibirischen Tagebücher Heimito von Doderers zeigen, schweißte die Lagerhaft zusammen, aber sie war auch Nährboden für seine Radikalisierung und Affinität zu den Rechten. Denn viele der Spätheimkehrer, wie auch der bald 25-jährige Veteran, fanden sich in der Heimat schwer zurecht.

Die Republik durfte nur mehr ein kleines Berufsheer unterhalten, das Soldatenleben war zu Ende. Es blieben nur Erinnerungen und Reminiszenzen: Der Autor, der in einer zerlumpten englischen Uniform in Wien-Landstraße ankam, wo ihn das Hausmädchen kaum wiedererkannte, traf seine "Sibiriaken" bis zu seinem Tod 1966 wieder, sofern sie im Westen wohnten. Diejenigen, welche das Schicksal traf, hinter dem Eisernen Vorhang zu leben, konnten nur selten oder gar nicht an Veteranentreffen teilnehmen.

Gerhard Strejcek, geboren 1963 in Wien, Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien.

Literatur:#

  • Wolfgang Fleischer: Heimito von Doderer. Das verleugnete Leben, Kremayr & Scheriau 1996.
  • Heimito von Doderer: Die sibirische Klarheit. Texte aus der Gefangenschaft, Biederstein 1991.
  • Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert, Hanser 2015.
  • Edwin Erich Dwinger: Zwischen Weiß und Rot. Die russische Tragödie, Leopold Stocker 2001. (Der Roman ist authentisch und spannend, stammt aber aus der Feder eines späteren NS-Apologeten).
Wiener Zeitung, 21. November 2019