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Erhebung aus der geistigen Verkümmerung #

Vor 130 Jahren fand im niederösterreichischen Hainfeld der Parteitag der österreichischen Sozialdemokraten statt. Victor Adler konnte hier die Einigung aller Splittergruppen der Bewegung und die Formulierung einer Prinzipienerklärung durchsetzen.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE, 3. Jänner 2019

Von

Wolfgang Häusler


Victor Adler, Büste
Victor Adler. Seine Büste steht am Denkmal der Republik. „Despotismus, gemildert durch Schlamperei“, so lautete sein Urteil über das herrschende Regierungssystem.
Foto: Name. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 4.0

Als ich österreichische Geschichte an der Universität zu lehren hatte, stellte ich manchmal die Verständnisfrage, wo denn Hainfeld, der Gründungsund Erinnerungsort der Sozialdemokratie, liege. Da gab es meist Ratlosigkeit oder Verwechslung mit dem aktuelleren Hainburg an der Donau. In der Tat ist gegenwärtig Hainfeld im Gölsental, seit 1927 Stadt, schwerer erreichbar als damals, da die Ausschreibung an die 110 Delegierten aus allen Kronländern (ausgenommen Dalmatien) zur Benutzung der Leobersdorfer Bahn (seit 1877) riet. Heute müsste man langwierig über St. Pölten anreisen; die Strecke zum Triestingtal über den Gerichtsberg ist eingestellt. Zehetners Gasthof „Zum goldenen Löwen“ existiert nicht mehr, er ist mit 76 Häusern bei der Zerstörung der Stadt durch die SS im April 1945 abgebrannt. Auf dem leeren Platz steht ein Denkmal, Ersatz für den Gedenkstein von 1928, der 1934 entfernt wurde. Das Denkmal wurde 1968 und 2008 neu gestaltet, mit der Inschrift „Hainfelder Einigung“, Victor Adlers Namen und seinem markanten Profilausschnitt.

Eine andere Erinnerung kann der aufmerksame Beobachter an jedes ältere Abbruchhaus Wiens knüpfen: Die Ziegel haben meistens das Doppeladlerwappen und die Initialen des Gründers der Wienerberger Ziegelfabriks- und Bau-Gesellschaft, H(einrich) D(rasche), eingeprägt. Das ist wahrlich ein Qualitätsprodukt: fußgetreten – der Lehm wurde eingestampft, um über den Winter durchzufrieren, handgefertigt auf den Schlagtischen, großteils „Weiberarbeit“. Wiener Mundartausdrücke halten den Arbeitsprozess fest: Da ist der kräftige „Anscheiber“, der den Inhalt der schweren Lehmscheibtruhen auf die Tische kippte, und der armselige „Sandler“, zu keiner anderen Arbeit mehr fähig als die Formen mit Sand auszustreuen. Das neue Wien der Ringstraße – bald sollte auch der Linienwall durch den Gürtel gesprengt werden – hat sein Fundament in der Arbeit in diesen Ziegelgruben. Über das elende Leben dieser „ärmsten Sklaven“, der „Ziegelböhm“, viele von ihnen Saisonarbeiter aus Böhmen und Mähren, berichtete der Arzt Victor Adler. Er praktizierte von 1881 bis 1889 im Haus Berggasse 19; an dieser Adresse sollte dann Sigmund Freud ordinieren. Adlers realistische Sozialreportage erschien in der aus dem väterlichen Vermögen finanzierten Wochenzeitung Gleichheit am 1. Dezember 1888: „Die Sträflinge in Sibirien sind besser versorgt als die, die das Verbrechen begehen, die fetten Dividenden für die Aktionäre der Gesellschaft zu erzeugen.“

Die Arbeiterbewegung formiert sich #

Anlässlich der 100. Wiederkehr der Proklamation der Republik am 12. November 1918 wurde an Adlers Tod am Vortag erinnert – der 44. Parteitag der SPÖ blickte aus schwerer Krise angespannt NACH VORN, die kaum reflektierte Parteigründung jährt sich nun zum 130. Mal. Auch im Haus der Geschichte Österreich ist von diesem Grundstein österreichischer Politik nicht die Rede. Hainfeld war zur Zeit des Parteitags ein „ansehnlicher Industrialort“ mit „Erzguß- und Stahlfabrik, Schmelztiegelfabrik, Nagelfabrik, Feilenfabrik, Zerrennhammer, Lohstampfe und mehreren Sägemühlen“ (Topographie von NÖ). Die Arbeiterbewegung hatte schon einen langen Weg hinter sich: Nach unterdrückten Ansätzen 1848 bot das liberale Vereinsrecht dem Gumpendorfer Arbeiter-Bildungsverein die erste Organisationsschance (1867). 1869 demonstrierten 20.000 Arbeiter auf dem Josephstädter Glacis für das Koalitionsrecht; die Wortführer wurden zu mehrjährigen Kerkerstrafen verurteilt. Die Bewegung formierte sich unter dem Einfluss der Lehren von Lassalle und Marx – die Socialdemokratische Partei wurde 1874 in Neudörfl, auf ungarischem Boden, gegründet. Die achtziger Jahre waren von erster Sozialgesetzgebung, aber auch von polizeilicher Repression geprägt – die Spaltung in Gemäßigte und Radikale lähmte die politische Tätigkeit. Mit anarchistischen Attentaten wurde die Verhängung des Ausnahmezustands über Wien und die Industriegebiete begründet.

In Hainfeld gab es seit 1873 einen Arbeiter- Gewerbeverein, Anton Stacherl besorgte die Organisation des Parteitags vor Ort. Der Bezirkshauptmann von Lilienfeld, der liberale Graf Leopold Auersperg, kontrollierte wohlwollend, er wurde als Gast eingeladen. Die Gründungslegende berichtet, er habe beim abschließenden Lied der Arbeit Tränen in den Augen gehabt: „Es war der Ernst des Augenblickes.“ Adlers Prinzipienerklärung begründete und resümierte das schon in Nr. 1 der Gleichheit (1886) ausgesprochene Programm (Solidarität der Arbeiterklasse aller Nationen, Verbreitung und Vertiefung des Klassenbewusstseins, Organisation als politische Partei, Kampf für politische Freiheit): „Die Socialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich erstrebt für das gesamte Volk ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Geschlechts die Befreiung aus den Fesseln der ökonomischen Abhängigkeit, die Beseitigung der politischen Rechtlosigkeit und die Erhebung aus der geistigen Verkümmerung.“

Das Folgejahr 1889 brachte mit der Gründung der II. Internationale in Paris, im Schatten von Eiffelturm und Weltausstellung und in explizitem Bezug zum 14. Juli 1789 (die erste Nummer der Arbeiter-Zeitung erschien am 12. Juli 1889), jene Vernetzung, die Victor Adlers Freundschaft mit Friedrich Engels verstärkte. Die hier beschlossene Feier des 1. Mai sollte die wichtigste Forderung durchsetzen – den Acht-Stunden- Tag. Es ist wenig bekannt, dass der Maifeiertag mit der Arbeiterbewegung in den USA zusammenhängt, mit der Streikaktion zum 1. Mai 1886 – die Demonstrationen führten zu Todesopfern durch Polizeieinsatz, einem nie geklärten Bombenattentat und sieben Todesurteilen: Haymarket Riot von Chicago, auch Massacre oder Tragedy genannt. Zum 1. Mai 1890 schürte die Neue Freie Presse bürgerliche Ängste: „Die Soldaten sind in Bereitschaft, die Tore der Häuser werden geschlossen, in den Wohnungen wird Proviant vorbereitet wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind verödet, Frauen und Kinder wagen sich nicht auf die Gasse.“ – Victor Adler konnte an dieser friedlichen Massenkundgebung, die in den Prater führte, nicht teilnehmen; er hatte eine seiner vielen Gefängnisstrafen abzusitzen.

Die Hofräte der Revolution #

Eine weitere, heute vergessene Kundgebungstradition kam in Wien hinzu: der Zug zum Grab der Märzgefallenen mit dem Obelisken am Schmelzer Friedhof, seit 1888 am Zentralfriedhof. Die Sozialdemokratie knüpfte an die unterdrückte bürgerlichdemokratische Revolution von 1848 an, im Ringen um das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht, das schließlich 1907 durchgesetzt werden konnte. Eine wichtige Nebenbemerkung: Für Hainfeld hatte die Fabriksarbeiterin Anna Altmann aus Nordböhmen ein Mandat, das jedoch nicht anerkannt wurde. Wolfgang Maderthaners Edition (1911) des Briefwechsels zwischen Adler und Engels (Selbstbezeichnung von Doktor und General: „wir ,Hofräte der Revolution‘“) begründet vielfach Adlers Dictum über das österreichische Regierungssystem „Despotismus, gemildert durch Schlamperei“. Die Partei sollte eben „nicht schlampert, nicht flackernd, nicht sprunghaft sein“ – in einem „Österreich, wo nicht einmal Niedertracht und Polizeipferde ordentlich gemacht werden“.

Victor Adlers Büste steht mit Bürgermeister Jakob Reumann und dem Vorkämpfer der Sozialgesetzgebung Ferdinand Hanusch am Denkmal der Republik, auch zu deren 100. Geburtstag allzu wenig beachtet. Sein Grab fand „der Doktor“ vor dem Märzobelisken, Sinnbild der Vollendung und Weiterführung der Revolution von 1848. Karl Renner liebte Pathosworte, er sprach von Hainfeld als dem „Bethlehem des österreichischen Sozialismus“. Und Peter Altenberg nannte Adler die „tönend gewordene Menschheitseele“. 1890 bekannte sich Adler als „durch und durch Optimist“. Darum, um Humanität und Solidarität muss es gehen, wenn Demokratie in ihrer politischen und sozialen Dimension Zukunft haben soll.

DIE FURCHE, 3. Jänner 2019


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