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unbekannter Gast

„Vollstrecker des Nationalsozialismus“ #

Die ÖBB arbeiten ihre Geschichte in der NS-Zeit auf und sind dabei auf Schicksale vergessener Widerstandskämpfer und erschreckende Details zur Rolle der Bahn im Holocaust gestoßen. #


Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: DIE FURCHE (21. Juni 2012)

Von

Oliver Tanzer


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Lehrlingswerkstätte Knittelfeld 1942.
Foto: Fotoarchiv der ÖBB-Lehrwerkstätte St. Pölten

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Ankunft in Auschwitz.
Foto: Fotoarchiv Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem

Leopold Strasser hatte an Politik eigentlich kein großes Interesse. Er liebte seine Arbeit bei der Eisenbahn, Motorräder, Volksmusik und seinen kleinen Garten in Kirchstetten in Niederösterreich. Ganz zuletzt hat er seine Frau noch um die Zusendung der Gärtnerzeitschrift ins Gefängnis gebeten. Da war sein Unterkiefer schon beim Verhör von Gestapowächtern zertrümmert worden und das Todesurteil schon rechtskräftig. In seinem letzten Brief schrieb er: „Von Montag bis Freitag können immer Hinrichtungen sein, wessen es ist, weiß man nie. Dann kommt so ein schrecklicher Tag und man hört wie links und rechts Leute weggeführt werden, es ist fürchterlich und so geht das, bis es einen selbst trifft, wenn nicht ein Wunder geschieht.“ Leopold Strasser wurde am 29. April 1943 im Wiener Straflandesgericht geköpft. Sein Verbrechen: Er hatte für die Familien von inhaftierten oder hingerichteten Kollegen Geld gesammelt. Das Gericht sah das als „Vorbereitung zum Hochverrat an“.

Strasser ist einer von 154 österreichischen Eisenbahnern, die zwischen 1938 und 1945 wegen Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime hingerichtet wurden. 1.438 wurden zu Zuchthaus oder KZ-Strafen verurteilt. Nach 1945 gerieten sie in Vergessenheit. Die Widerständler ebenso wie die vielen Kollaborateure des Regimes in den Reihen der Reichsbahnen in der Ostmark. So wie die Rolle der Bahn bei den Deportationen von Millionen Juden und anderen rassisch und politisch verfolgten Gruppen. Nun hat sich die ÖBB dazu entschlossen, die Vergangenheit aufzuarbeiten, oder wie ÖBB-Vorstandsvorsitzender Christian Kern es ausdrückt: „Wir müssen diese Zeit als Teil unserer Geschichte akzeptieren. Wir sind verpflichtet zu gedenken.“

Foto: Fotoarchiv der ÖBB
Foto: Fotoarchiv der ÖBB

Erschreckende Erkenntnisse #

Das Gedenken ließ sich die ÖBB eine zweijährige Forschung kosten. Die Durchforstung der ÖBB-Archive unter Leitung der Historikerin Traude Kogoj von den ÖBB und Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte erbrachte neue zum Teil erschreckende Details über die Einbindung der Bahn in den Holocaust, aber auch das Schicksal zahlreicher unbekannter Widerstandskämpfer. Das alles wurde nun zu einer eindrucksvollen von Milli Segal koordinierten Ausstellung zusammengeführt.

Zur Zeit des sogenannten „Anschlusses“ Österreichs an Hitlerdeutschland arbeiteten 57.000 Angestellte bei den ÖBB (damals BBÖ). Tausende Mitarbeiter wurden sofort aus rassichen und politischen Gründen vom „Berufsrecht“ ausgeschlossen. Über 9000 politisch Gewogene wurden neu eingestellt, die Generaldirektion ausgewechselt. 21.000 Angestellte wurden „gemaßregelt“. Noch am Abend des 11. März wurde ein Fluchtzug politisch anders denkender Richtung Italien von Kollaborateuren an der Abfahrt gehindert. „Die SA-Männer gingen mit Hundepeitschen von Waggon zu Waggon und zwangen Männer, Frauen und Kinder, wieder auszusteigen. Wie Vieh wurden sie ins Gefängnis getrieben“, schrieb der Journalist und Augenzeuge Eric Gedye.

Nach der Verstaatlichung der Bahnen galten die Bediensteten der Eisenbahnen offiziell als „Vollstrecker des Willens des nationalsozialistischen Staates“. Der Amtseid musste auf „Treue und Gehorsam dem Führer gegenüber“ abgelegt werden. Der Hitlergruß war in- und außerhalb des Dienstes verpflichtend. Der Verkehr mit Juden war verboten, desgleichen die Ehe von Bahnbeamten mit Juden.

Foto: Fotoarchiv der ÖBB
Foto: Fotoarchiv der ÖBB

Doch der Widerstand unter den gut organisierten, zumeist kommunistischen oder sozialistischen Bahnbediensteten blieb beträchtlich. Allein in Wien und Umgebung wurden 1939 47 Brand- und Sprengstoffanschläge verübt. Schon 1940 sah sich das Reichsicherheitshauptamt genötigt, Studien zur „Terrororganisation in der Ostmark“ zu verfassen. Wer erwischt wurde, war todgeweiht. So wurden 75 als Saboteure verurteilte Eisenbahner 1942 ins KZ Mauthausen deportiert. Sechs der Inhaftierten ließ die SS gleich nach der Ankunft von Wachhunden zerfleischen. Einen Tag später wurden die Schwerverletzten erschossen.

Ab 1939 waren es die Reichsbahnen, die die Deportation von Millionen Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager ausführten und Millionen von Zwangsarbeitern aus dem Osten in die Reichsgebiete brachten. Die Historiker fanden in den Archiven Dokumente, in denen die Fahrdienst eiterfesthalten, wie viel tausend „Stück“ Juden sie abgefertigt haben. Bis Kriegsende wurden 65.000 österreichische Juden in den Lagern ermordet. Mehr als 160.000 wurden ins Exil gezwungen, darunter auch Kinder, deren Ausreise ihre Eltern vom Regime erkaufen mussten. Erwin Rennert war damals 13 Jahre alt: „Mein Vater hilft uns noch die Koffer zu verstauen, auch meine Mutter betritt noch das Abteil. Eine letzte Umarmung, sie streicht mir übers Haar, küsst mich, dann muss sie aussteigen. Ich sehe noch ihr blasses, verweintes Gesicht und wie der Vater sie am Arm hält. Beide winken, dann sind sie verschwunden.“ Erwin Rennert sah seine Eltern nie wieder. Sie wurden Opfer des Holocaust.

Die bleibende Last #

Nach dem Krieg wurden die Reichsbahnen der Ostmark zu den ÖBB. Die Aufarbeitung der Nazizeit im Unternehmen fand allerdings kaum oder gar nicht statt. Im Gegenteil. Projektleiterin Traude Kogoj berichtet von „vielen Akten von Führungspersonen der Reichsbahn, die nicht mehr auffindbar waren“. Auch, dass die Reichsbahn massiv von den Arisierungen profitiert hatte, blieb unerwähnt. Bis 2006 besaß die ÖBB ein arisiertes Palais in der Wiener Innenstadt, das den eigentlichen Besitzern auch nach dem Krieg durch skandalöse Gerichtsurteile vorenthalten worden war.

Ein Nachwort zum Fall Strasser: Seine Familie musste für die Hinrichtung 600 Reichsmark Gebühr entrichten und wurde von allen Sozialleistungen ausgeschlossen. Strassers gnadenloser Richter, Otto Riedel-Taschner, setzte nach dem Krieg seine Karriere ungehindert fort. Er stieg zum Senatsvorsitzenden des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen auf. In seiner Urteilsbegründung gegen den almosensammelnden Strasser findet sich unter anderem der Satz: „Für solche Übeltäter (Strasser, Anm.) ist kein Platz in der Volksgemeinschaft, nur die schwerste zulässige Strafe allein kann ihrem Verschulden gerecht werden.“

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Ankunft eines Kindertransports in London.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

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Antisemitische Ausstellung im Nordwestbahnhof schon im Jahr 1938.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

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Ertüchtigung für den Führer in den Lehrwerkstätten der Reichsbahnen.
Foto: Privatsammlung Reinhold Kainbrecht

DIE FURCHE, 21. Juni 2012


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