Was die Stunde schlägt#
Der französische Schriftsteller Jean Echenoz vermittelt ein Gefühl dafür, was die Kriegsjahre 1914-18 für den Einzelnen bedeutet haben: Schock und Normalität, Schrecken und Langeweile, Irrsinn und Absurdität.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 26./27. April 2014)
Von
Andreas Wirthensohn
Nun also doch Krieg. Der 23 Jahre Anthime aus der Vendée hat es irgendwie schon geahnt, aber dass es ausgerechnet heute der Fall sein würde, an diesem wunderbaren 1. August, der noch dazu ein Samstag war, nein, damit hat Anthime nicht gerechnet. Er ist an seinem arbeitsfreien Tag mit dem Rad unterwegs, um die "pralle Augustsonne" zu genießen, doch plötzlich kommt ein heftiger Wind auf, und noch bevor er das Läuten der Glocken hören kann, sieht er in all dem Sturmgetöse ringsum, wie sie hin und her schwingen und die Männer zu den Waffen rufen: Mobilmachung!
Aufbruch aus dem Idyll#
Und so versammeln sich Anthime, sein Bruder Charles, die Freunde Padioleau, Bossis und Arcenel tags darauf in der Kaserne, rechtzeitig genug, um noch einigermaßen gut sitzende Uniformen zu bekommen. Vor den Augen von Blanche, die von Charles schwanger und doch auch ein wenig in Anthime verliebt ist, ziehen sie los in Richtung Ardennen, und der Spruch, der allen am meisten Trost verspricht, ist der, dass das Ganze in zwei Wochen wieder vorbei sein werde und sie alle wieder zurück sein würden in ihrem idyllischen Städtchen südlich von Nantes.
Knapp 120 Seiten später ist der Krieg in Jean Echenoz’ Roman "14" wieder vorbei. Drei der fünf Freunde sind tot, Padioleau ist "wegen eines schwach nach Geranien duftenden Gases" erblindet, und Anthime hat "ein verspäteter Granatsplitter" den rechten Arm abgetrennt - eine der besten Wunden, die man sich zuziehen kann, denn sie bringt einen nicht nur nach Hause, sondern auch nie wieder an die Front. Daheim "befruchtet" er seine verwitwete Schwägerin, und pünktlich zur letzten Schlacht von Mons wird den beiden ein Sohn geboren, den sie Charles nennen, zu Ehren des Mannes, der auf den "Feldern der Ehre" geblieben ist.
Zwischen zwei Idyllen also spannt Echenoz seine Kurzerzählung des Ersten Weltkriegs. Wie ein Filmregisseur zerlegt er dievier Jahre in verschiedene Sequenzen, einmal geht er ganz nah heran ans Geschehen, dann legt er wieder Distanz zwischen den Blick des Erzählers und das Geschehen, wechselt den Schauplatz oder den Protagonisten. Echenoz, ein Meister der kleinen Form, weiß nur zu gut, dass jeder Versuch, La Grande Guerre panoramatisch in den Blick zu nehmen, scheitern muss: "All das ist schon tausendfach beschrieben worden", und auch als große "stumpfsinnige, stinkende Oper" will er den Krieg nicht verstanden wissen. Stattdessen möchte er uns so etwas wie ein Gefühl vermitteln, was diese Jahre für den Einzelnen bedeutet haben: Schock und Normalität, Schrecken und Langeweile, Irrsinn und Absurdität.
Natürlich weiß Echenoz, welche Folgen dieser Krieg für die hundert Jahre, die seither vergangen sind, hatte. Aber er weigert sich, ihn ausschließlich im Rückblick, mit diesem Wissen zu schildern und sich damit über seine Figuren zu erheben. Vielleicht liegt gerade darin die größte Leistung dieses schmalen Büchleins.
Doch bei allem Familienglück am Ende: eine Rückkehr zur Normalität ist nach den vier Jahren des massenhaften Mordens vor allem an der Westfront nicht mehr möglich. Der allwissende, gottgleiche Erzähler hat es schon bei Kriegsausbruch gewusst.
Ende eines Zeitalters#
Als Anthime an jenem strahlenden ersten Augusttag des Jahres 1914 unterwegs war, hatte er auch ein Buch dabei. Doch dafür hatte er keinen Gedanken mehr, als er das Läuten der Glocken vernommen hatte und sich auf den Heimweg machte, der zugleich auch der Weg in den Krieg war.
"Ein plötzliches Rumpeln, und ohne dass Anthime es bemerkte, fiel das dicke Buch vom Fahrrad, öffnete sich während des Falls und blieb für immer und ewig allein am Straßenrand liegen, auf dem Bauch, auf der ersten Seite eines mit Aures habet, et non audit überschriebenen Kapitels." Er hat Ohren, doch er hört nicht - dieser Satz ziert einen Kapitelanfang in Victor Hugos "1793", seinem letzten Roman, der vom Aufstand königstreuer Bauern in der Vendée handelt und den Heinrich Mann ein "Buch entfesselter Menschheit" nannte.
Auch Anthime und die meisten Anderen ahnten nicht, was die Stunde geschlagen hatte: Das lange 19. Jahrhundert, für das sinnbildlich Hugos Roman steht, war 1914 endgültig zu Ende gegangen, an seine Stelle war das kurze 20. Jahrhundert getreten, das "Zeitalter der Extreme", wie Eric Hobsbawm es genannt hat.
Es sollte noch unzählige weitere Schrecklichkeiten bereithalten, aber der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war tatsächlich die "Urkatastrophe" dieses Jahrhunderts. Selten ist prägnanter, kürzer, lakonischer davon erzählt worden als bei Echenoz.
Jean Echenoz: 14. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Berlin, 2014, 125 Seiten, 15,40 Euro.