Wo Dr. Adler am 1. Mai 1890 feierte#
Am ersten Festtag der Arbeiter in Wien fehlte der Kopf der Sozialdemokratie.#
Von der Wiener Zeitung (Freitag, 30. April 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Alfred Schiemer
Na, das schaut dem Doktor wieder ähnlich! Man stelle sich vor: So mir nichts, dir nichts (standeswidrig, müsste man eigentlich sagen) schlüpft der Arzt in abgetragenes Maurergewand und schleicht sich dermaßen getarnt in das Areal einer Fabrik ein. Mit seinem Hausfriedensbruch will er für die Heilung der Gebrechen der Arbeiter wirken – nun, man kennt die ausgefallenen Rezepte dieses Mediziners...
Perplex ist man freilich, wenn man beobachtet, wie die Patienten dem Wunderheiler in hellen Scharen zufliegen. Der Mann gewinnt die Herzen der Leute im Sturm. Anders hätte der unechte Maurer nie aufs Betriebsgelände vorstoßen können, sah doch ein Blinder, was gespielt wurde.
Aber die Beschäftigten hielten zu dem vermeintlichen Kollegen vom Baufach, der die gebotene Chance weidlich ausnutzte. Wie ein professioneller Spion spähte der Kerl alles aus, um einen Bericht zu erstellen, der sich gewaschen hatte!
Es ist nicht genau überliefert, welchen Reim sich k.k. Polizeikonfidenten auf den von ihnen lange als Staatsfeind betrachteten Dr. Victor Adler machten – die Skizzierung in der ersten Spalte dürfte jedoch grob den Rahmen abstecken. Denn der Armenarzt, der 1852 als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Prag zur Welt gekommen war, gab subalternen Staatsdienern zweifellos Rätsel auf: Warum tat sich ein Akademiker das an? Und warum fand er so viel Sympathie?
Höheren Orts im k.k. Behörden-Reich wunderte man sich wahrscheinlich weniger. Denn wer Rechtsgeschichte gepaukt hatte, wusste: Ruhestörer gab es seit der Antike. Solche Elemente waren energisch zu bekämpfen. Speziell dieser Rädelsführer Adler, der zuviel Staub aufwirbelte.
Ziegelstaub zum Beispiel.
Stahl sich der Mediziner doch Ende 1888 verkleidet, wie eingangs erwähnt, in eine Firma ein und prangerte dann die Ausbeutung der Arbeiter in der Wiener Ziegelfabriks- und Baugesellschaft an – sogar von weißen Kolonialsklaven am Wienerberg schrieb Reporter V. A. in der von ihm (wieder-)begründeten Wochenzeitung "Gleichheit"!
Die kaiserliche Staatsmacht verbot 1889 das Blatt. Den suspekten Dr. Adler hatte man damals längst im Visier. Der k.k. Justiz erleichterte vor allem ein rigides Pressegesetz die Arbeit: 1887ff verurteilte man den Aufdecker und Aufbegehrer 17-mal. Immer wieder musste er hinter Gitter, ingesamt für mehr als 18 Monate.
Selbst nach der Einigung der österreichischen Sozialdemokratie zur Jahreswende 1888/89 kam deren nunmehriger Vorsitzender in Haft. Den "Bildungsurlaub", für den er viel Literatur in die Zelle schleppte, nahm er äußerlich stets gelassen auf. Doch als er ausgerechnet am 1. Mai 1890 der Freiheit beraubt war, dürfte ihn schwere Sorge bedrückt haben.
Still feiern konnte "der Doktor", wie man ihn auch in der Partei nannte, den Festtag der Arbeiter zur Not in der versperrten Klause. Das war es nicht.
Aber den Massen fehlte sein Rat, seine Autorität. Würde die junge Bewegung die Bewährungsprobe bestehen? Vor 120 Jahren ging es nicht um irgendeine Maikundgebung, sondern um die erste in der Geschichte. Monate zuvor hatten in Paris 20 sozialistische Parteien verschiedener Länder bei der Gründung der Zweiten Internationale dazu aufgerufen, in möglichst vielen Metropolen Aufmärsche zum neuen Welttag der Arbeit abzuhalten. Für Österreichs Sozialdemokratie hatte den Appell Adler unterzeichnet.
Nach Ansicht von Beobachtern ballten sich am Vorabend der Wiener Demonstration dunkle Wolken zusammen: Man sah die geplante Großfeier ins Wasser fallen, weil es am 30. April 1890 noch regnete; man befürchtete blutige Zusammenstöße kleinerer Gruppen mit Polizei bzw. Militär.
Es kam anders. Der Himmel strahlte. Die von Bezirkstreffen in den Prater strömenden Arbeiter hielten eisern Disziplin. Ihr eigener Ordnerdienst funktionierte gut. Nicht zuletzt die kaiserliche "Wiener Zeitung" vom 2. Mai 1890 bestätigt das:
In Wien haben 29 Arbeiterversammlungen stattgefunden (...).
Alle verliefen ruhig (...).
Die Zahl der Kundgebungsteilnehmer im Prater dürfte 30.000 überstiegen haben (Anm. d. Red.: das waren einst offiziöse Angaben; von über 100.000 gehen Historiker aus).
Weiters: Beim Marsche (...) in den Prater fanden die Ordner (...) das willigste Gehör.
Übrigens schrieben nicht alle Tagesblätter so sachlich.
Worauf fußte die Haltung der "WZ"? Der Mitarbeiterstab der k.k. Zeitung hegte kaum Sympathien für Adler und Genossen. Aber der von dem Liberalen Friedrich Uhl geführten Redaktion bedeutete die historische Dimension viel. Offensichtlich spürten die "WZ"-Gestalter, dass sich am 1. Mai 1890 eine neue gesellschaftliche Kraft Bahn gebrochen hatte und dem zollten sie Respekt.