Ergänzung zu#
„Die zwei Mütter Jesu“ v. 3. Juni 2017#
Vorbemerkung:#
Von
Herbert Kohlmaier
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 224-2/2017
Auf die „Gedanken“ Nr. 224, in denen ich mich kritisch mit dem ausufernden Marienkult und insbesondere den angeblichen Erscheinungen in Medjugorje auseinandersetzte, erhielt ich mehrere Zuschriften, die mir zustimmten. In einer teilte mir freilich ein Leser mit, dass er mit seiner Frau vor zehn Jahren mit großem seelischem Gewinn in Medjugorje gewesen sei und heuer noch an einer Pilgerfahrt nach Fatima teilnehmen werde. Nach seinem Gefühl seien die ersten Botschaften, welche die Seherkinder im Jahr 1981 empfangen hätten, echt, die späteren Botschaften dann wohl nicht mehr.
Es gibt viele, die ähnliche religiöse Erfahrungen gemacht haben, ich hörte auch immer wieder davon. Ganz sicher geht es da nicht um bloße Einbildung, sonst würden nicht so zahlreiche Besucher Orte wie Medjugorje aufsuchen. Die Frage ist allerdings, ob diese Erlebnisse tatsächlich auf ein Handeln der Gottesmutter zurückzuführen oder ob sie nicht anders zu erklären sind. Um dem nachzugehen, bedarf es einiger weiter reichender Überlegungen. Von unserer Seele sagt der Dichter, dass sie ein weites Land sei. Dorthin bitte ich, mir zu folgen!
Der Mensch ist Gestalter#
Zunächst: Für Atheisten oder nichtreligiöse Menschen, vor allem für auf ihr Gebiet eingeengte Naturwissenschaftler ist unser Bewusstsein evolutionsbedingt entstanden und Folge von biologisch zu erklärenden Vorgängen im Zentralnervensystem. Dies bedeutet allerdings eine total reduzierte Sicht menschlicher Existenz, denn sie blendet aus, was als „Welt des Geistes“ zu bezeichnen wäre. Der bekannte Physiker Anton Zeillinger etwa hält es für sicher, dass es eine solche „außer unserer materiellen Existenz“ gäbe. Genau betrachtet leben wir tatsächlich weitaus überwiegend in dieser Sphäre, das ist sich schon einfach daran zu erkennen, was uns tatsächlich alle Tage unseres Lebens beschäftigt.
Unendlich viele Produkte des menschlichen Geistes sind es, die uns da begegnen, von banalen Regeln, die wir erkannt oder geschaffen haben über Wissenschaftssysteme bis hin zu den Werken der Literatur und der Kunst. Sie alle existieren nicht nur von Fall zu Fall als erlernte Gedankeninhalte in unseren einzelnen Köpfen, sondern haben nach meiner Überzeugung ihre reale Existenz – eben in der nichtmateriellen Dimension unseres Lebens.[1]
Die Erforschung, wie und unter welchen Umständen der Mensch in diese Welt des Geistes übertritt, wird allerdings bedauerliche Weise von den so genannten „Schulwissenschaften“ arg vernachlässigt. Die Fähigkeiten, die wir bei Überschreitung des physikalisch und medizinisch erforschbaren Bereichs haben, werden allzu oft als Unfug, Aberglaube oder unter dem recht unzulänglichen Sammelbegriff „Esoterik“ beiseitegeschoben, obwohl es zahlreiche und eindeutig erwiesene Phänomene gibt, die keiner naturwissenschaftlichen Erklärung zugänglich sind.
Davon seien in diesem Zusammenhang nur einige erwähnt, die Gegenstand der parapsychologischen Forschung sind, welche mit einwandfrei wissenschaftlichen Methoden vorgeht.2 So kann eindeutig davon ausgegangen werden, dass Menschen Wahrnehmungen über Umstände haben, die sie nicht mit ihren Sinnesorganen erkennen können (Außersinnliche Wahrnehmungen – ASW) oder die erst zukünftig eintreten (Präkognition). Exakte Zuverlässigkeit ist da nicht garantiert, aber signifikantes Überwiegen der Richtigkeit schließt Zufallstreffer eindeutig aus. In jüngerer Zeit befassen sich zunehmend auch Naturwissenschaftler mit diesen Beobachtungen, auch angeregt durch die Ergebnisse der theoretischen Physik.[3]
Ist Religion „Esoterik“?#
Offenbar besteht insgesamt ein „nichtlokales“ Informationssystem außerhalb der Koordinaten von Zeit und Raum.[4] Dem wäre hinzuzufügen, dass viele Mediziner heute von der Bedeutung seelischer Vorgänge für unsere Gesundheit und der Heilkraft von Spiritualität ausgehen.[5] Soweit ist das ja alles bekannt und keinesfalls neu, nämlich unsere viel weiter als oft gedacht reichenden Fähigkeiten der Wahrnehmung. Aber ganz wesentlich ist, dass dem Mensch das Schöpfungswerk Gottes anvertraut ist! Wir gestalten unsere gesamte Umwelt, in materieller und geistiger Hinsicht, und diese Fähigkeit der Kreativität unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen. Hier erfolgte der „Sprung“ von der biologischen Existenz zur Gottähnlichkeit der Menschennatur.
Ein höchst interessantes Kapitel ist, um nun unserem Thema näher zu kommen, wie Empfindungen und Wahrnehmungen von Menschen in Wechselwirkung treten, wenn sie in einer Gemeinschaft gleichen anregenden Situationen ausgesetzt sind. Aufschlussreich ist, dass da der Begriff „Massenseele“ auftrat, denn das Entstehen von so etwas wie einem gemeinsamen Bewusstsein wird sichtbar. Sei es bei politischen Kundgebungen oder beim begeisterten Publikum von musikalischen Darbietungen wie Popkonzerten. Gewaltige Emotionen können da ausgelöst werden und zu kollektivem Handeln bewegen. In dieser gesamten Betrachtung unseres Existierens jenseits des Physischen kommt naturgemäß den Religionen eine besondere Bedeutung zu. Gerade sie sind Bestandteile jener Welt, die im großen katholischen Glaubensbekenntnis als die „unsichtbare“ bezeichnet wird. Sehr oft geht es da um Übersinnliches, das eigentlich der vielgeschmähten Esoterik zuzurechnen wäre! Die Bibel schildert, dass der greise Simeon im Jesuskind den künftigen Erlöser erkennt [6]. Josef soll erfahren haben, dass er mit Weib und Kind nach Ägypten fliehen muss. In Träumen oder auch im Wachzustand erfolgen Anweisungen direkt von Gott oder durch Engel. Da wissen dann die Akteure, was passieren wird oder soll, obwohl sie es eigentlich gar nicht „wissen“ können. Das sei alles, so wird uns erklärt, immer Gottes Handeln! Aber ist es nicht in der Menschennatur angelegt?
Es gibt Personen, an denen sich die Wundmale Christi (Stigmatisation) zeigen. Das ist, wie die Wissenschaft festgestellt hat, kein Schwindel, sondern ein von der Psyche gesteuertes Geschehen am Körper. Es kommt also ganz eindeutig „von innen“, auch wenn der Solches auslösende Blick „nach oben“ gerichtet wurde. Jeder Bericht über himmlische Botschaften muss uns also zur Frage mahnen ob diese nicht Produkt innerer Empfindungen sind. Wer kann das wirklich beatworten? Da bedarf es der Unterscheidung der Geister, der sich schon die frühe Theologie bewusst war und die in den Exerzitien des Ignatius von Loyola als ganz wichtig beschrieben wird.
Damit sind wir beim entscheidenden Punkt angelangt. Nach kirchlichem Glauben hat sich Gott vielfach geoffenbart, nämlich solchen, die nach ihm gesucht und ihn dann auf irgendeine Weise wahrgenommen haben. Für uns Christen kann allerdings nur eine Offenbarung Gottes ganz außer allem Zweifel stehen, nämlich die unüberbietbare durch seinen Sohn. In allen anderen Fällen ist die nüchterne Feststellung angebracht, dass es sich bei jeder Wahrnehmung von Göttlichem um menschliches Erleben handelt. Wieviel davon kommt wirklich von Gott und wieviel ist „Selbstgemachtes“?
An dieser Frage kommt man gerade bei den Marienerscheinungen nicht vorbei. Keinesfalls soll ausgeschlossen werden, dass Geoffenbartes Ergebnis eines begnadeten Wahrnehmens sein kann, aber eines ist wohl sicher: Gott, auch in Gestalt des Heiligen Geistes, diktiert keine Texte, diese Annahme bleibt dem Islam in Bezug auf den Koran vorbehalten. Zu Recht nennt das II. Vatikanum die Evangelisten „heilige Schriftsteller“. Wenn die Bibel immer wieder berichtet, dass Gott selbst oder mithilfe eines Engels zu Menschen gesprochen habe, beschreibt sie in Wahrheit, was von diesen als seine Botschaft verstanden wurde. Es mag zu ganz wichtiger Erkenntnis oder gar zur Erleuchtung geführt haben, aber spielte sich stets im Inneren des Empfängers ab!
Ich habe unter dem Titel „Die zwei Mütter Jesu“ eingehend dargelegt, warum ich nicht daran glaube, dass die (angeblich leiblich im Himmel weilende) Jungfrau Maria Menschen erscheint, zu ihnen spricht und uns damit Botschaften oder gar große Geheimnisse anvertraut. Was wir da sehen, entspringt ganz offensichtlich dem Bedürfnis, das Göttliche unmittelbar, also eigentlich mühelos wahrnehmen und erreichen zu können. Aber damit ist die vom eingangs erwähnten Leser gestellte Frage nicht beantwortet, ob in Medjugorje nicht doch „echte“ Glaubenserlebnisse stattfinden können.
Die Dynamik gemeinsamer Frömmigkeit#
Kommen wir an dieser Stelle nochmals auf die dem Menschen eigenen geistigen Fähigkeiten zurück, insbesondere wenn sie sich gemeinsam entfalten. Dazu gehört ganz wesentlich das Schaffen von geistigen Gebilden, die dann sehr wohl auch ihre eigene Realität haben. Religionen insgesamt sind solche Gebilde des menschlichen Geistes. Das bedeutet keineswegs, dass sie nicht mit Gott zu tun hätten, ganz im Gegenteil! Sie rühren ja von unserem Bedürfnis her, sich ihm anzunähern, ihn zu erkennen und nach seinem Willen zu handeln. Aber Gott gibt uns da nichts fix und fertig vor, er überlässt alles dem zwar beschränkten, aber doch so notwendigen und redlichen Bemühen unserer Vorstellungskraft. Es soll ja nicht „Einbildung“ sein, welche Bilder wir uns schaffen.
Das Ergebnis mag sich in vielen Fällen auf rechtem Weg befinden, aber niemand ist davor bewahrt, diesen zu verfehlen und Illusionen zu erliegen. Es gibt daher gewiss keine „Glaubenswahrheiten“, sosehr auch die Kirche deren Besitz für sich reklamieren mag. Unsere Suche ist eine niemals endende und sie muss als uns Menschen gestellte Aufgabe eine solche sein. Aber wir sind dabei keineswegs allein gelassen. Gottes führende Hand ist im rechten Augenblick und an rechtem Ort nahe; und auch das Erfahrungsgut der Generationen vor uns bedeutet uns Quelle religiösen Wissens.
Jedenfalls ist es eine vielfach wahrzunehmende Tatsache, dass gemeinsamer Glauben eine gewaltige seelische Dynamik hervorbringen kann. Unabhängig davon, ob da „Richtiges“ gedacht wird, werden wir von miteinander verrichtetem Gebet oder kultischen Handlungen erfasst, berührt oder gar fasziniert. Meditative Versenkung besonders in der Gemeinschaft beflügelt unsere Sinne, unabhängig davon, in welcher Religion sie stattfindet. Gleich, ob Mönche sich zum Chorgebet versammeln, islamische Sufis sich in den Koran vertiefen oder Buddhisten das Om mani padme hum rezitieren. Da zeigt sich einfach der Ausdruck allumfassender religiöser Hingabe.
Damit wiederum zum Glaubenserlebnis in Medjugorje. Wenn Menschen dorthin fahren, weil sie ein besonderes Solches erwarten, werden sie Teil einer spirituellen Gemeinschaft. In dieser wirken dann all jene Phänomene, die zu beschreiben waren. Es können somit auch Wahrnehmung verschiedener Art auftreten, die sich einer Prüfung auf „objektive“ Richtigkeit entziehen, aber sehr wohl reales Erleben darstellen. Es wirkt dann unser suchender und gestaltungswilliger Geist auf diese eigenartige Weise einer gemeinsamen Hinwendung zum Numinosen.
Zu Gott gibt es viele Wege, wer darf sich schon anmaßen, davon welche zu verwerfen und andere als richtig anzusehen? Unsere Seele will wie die Vögel des Himmels nicht im Käfig eingesperrt sein, sondern den Flug in die Weite antreten. Damit verbietet sich das Beurteilen und vor allem das Verurteilen. Frömmigkeit ist stets zu achten, wenn sie zum Göttlichen hin orientiert ist. Doch keinesfalls sollte übersehen werden, was ich im vorangegangenen Beitrag darlegen wollte, nämlich dass „beim Glauben Vernunft und Verstand nicht auf der Strecke bleiben dürfen, schon gar nicht das, was aus dem ursprünglichen und unverfälschten Evangelium zu erschließen ist“.
Glaube und Wahrheitssuche bedürfen sehr wohl eines gewissen Maßes von Disziplin, auch das muss der religiöse Mensch bedenken. Womit wieder auf die Unterscheidung der Geister zurückgekommen sei. Die Seele als Vogel des Himmels fliegt und singt immer schön. Aber eine zielführende Route des Fluges sollte niemals aus den Augen verloren werden.
Fußnoten#
[1] Ich habe mich mit diesem Umstand in zwei Büchern eingehend befasst: „Schwebende Wirklichkeit –Esoterik und Christentum – ein Widerspruch?“ 2001 und „Kirchenlust statt Frust“ 2017, beide Edition va bene.
[2] Siehe http://parapsychologie.ac.at
[3] Der amerikanische Physiker Russel Targ beschreibt in seinem Buch „PSI - Die Welt ist anders, als sie zu sein scheint“ (Crotona 2013), wie die USA mit der besonderen Fähigkeit von Menschen geheime gegnerische Rüstungsanlagen erfolgreich orteten.
[4] dazu etwa Herbert Pietschmann „Aufbruch in neue Wirklichkeiten - der Geist bestimmt die Materie“, Weitbrecht Verl. 1997
[5] Anschaulich dargelegt vom Theologen und Mediziner Johannes Huber – „ES EXISTIERT“, edition a 2016.
[6] Lk 2,25–35