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Was kann uns Religion über den Tod sagen?#


Von

Herbert Kohlmaier

Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 294/2019


Vorbemerkung#

Das Thema des Sterbens beschäftigt wohl jeden, umso mehr, wenn man bereits ein hohes Alter erreicht hat. So wollte ich einmal in den „Gedanken“ meine Sicht dazu darlegen und da kam mir Wolfgang Oberndorfer insofern zuvor, als er am 16. März auch dieses Thema in seinen Ausführungen über die Unzulänglichkeit der kirchlichen Lehre behandelt hat[1]. Ich stimme ihm weitgehend zu, halte es aber für sinnvoll, meinen eigenen und etwas anderen, vielleicht „einfacheren“ Zugang zu diesen existenziellen Fragen hinzuzufügen.

* * *

Eine höchst bedeutsame Alternative#

Wenn es um das Ende unseres irdischen Daseins geht, steht naturgemäß die ganz entscheidende Frage im Vordergrund, ob wir als menschliche Individuen nicht nur vergängliche physische Organismen, sondern auch „beseelt“ sind, also an der transzendenten Dimension allen Seins teilhaben.

Hier stehen einander heute als Ergebnis des wissenschaftlichen Fortschritts seit der Aufklärung zwei prinzipiell verschiedene Standpunkte gegenüber. Allen religiösen Vorstellungen, welcher Art auch immer, widerspricht die Auffassung, dass unser Bewusstsein samt allen seinen vielfachen Entfaltungen der Wahrnehmung, des Empfindens, des Denkens, Beurteilens und kreativen Handelns als Ergebnis biologischer Vorgänge in unserem Zentralnervensystem zu verstehen ist. Man spricht hier zutreffend von einer materialistischen Weltsicht, weil sie tatsächlich alles auf die Materie und die in ihr wirkenden Gesetze zurückführt.

Es muss sohin bei dem zu behandelnden Thema eines Fortlebens der Seele von dieser Alternative ausgegangen werden, nämlich ob es neben der naturwissenschaftlich erforschbaren Dimension unserer Welt eine andere, also transzendente, den unmittelbar wahrnehmbaren Bereich überschreitende gibt. Stimmt die rein materialistische Weltsicht, wäre es ja müßig, über Gott, über den Glauben und natürlich auch über eine Fortexistenz nach dem Tode nachzudenken. Es handelte sich dann nur um Vorstellungen, um Projektionen unsers biologisch zu erklärenden und so gesteuerten Bewusstseins.

Es ist nicht möglich, die Richtigkeit einer der beiden Auffassungen wissenschaftlich zu beweisen, wahrscheinlich wird bis zum Ende aller Zeiten darüber diskutiert werden. Und das nicht immer ausgewogen, denn es gibt nicht nur religiöse Eiferer, sondern auch Naturwissenschaftler und Skeptiker aller Art argumentieren nicht immer leidenschaftslos. Es geht hier um ein subjektives Urteil, denn man kann – wie es scheint – trotz Einsatz des Intellekts zu beiden Ergebnissen gelangen und steht daher vor einer persönlichen Entscheidung, die einem niemand abnehmen kann. Es ist auch nicht möglich, soziale Nützlichkeit oder Schädlichkeit des einen oder anderen Standpunkts festzustellen. Gibt es doch anständige Menschen, die keinen Glauben haben, und Missetäter, die sich bei ihrem Handeln auf einen solchen oder gar auf Gott berufen.

Wie plausibel ist es, den Mensch (nur) als biologische Apparatur zu sehen?#

Ich beginne mit dem an der Universität Hamburg lehrenden Rechtsphilosophen Reinhard Merkel, der sich mit dem Problem strafrechtlicher Schuld unter dem Gesichtspunkt der Willensfreiheit befasst. Diese sieht er durchaus skeptisch. Handlungsbeschlüsse seien ja vom „physikalischen System“ Gehirn abhängig. „Wer handelt, kann im Moment seines Ansetzens dazu nicht anders handeln, sei diese Handlung nun gut oder böse“. [2] Was Merkel dabei allerdings zu übersehen scheint, ist die eigentlich zwingende weitere Schlussfolgerung, dass er, wenn man ihm folgen wollte, auch bei dieser seiner Feststellung, die er der Welt mitteilt, von seinem Gehirn dazu veranlasst worden sein muss, also auf dessen „Befehl“ handelt. Ist das dann überhaupt noch als wissenschaftliches Tun anzusehen?

Wirklich verräterisch ist allerdings seine weitere Feststellung, das alles wäre eben „nicht steuerbar“. Damit erhebt sich die ganz wesentliche Frage, wem eigentlich die Fähigkeit dazu abgehen sollte? Wer will das Steuer ergreifen, aber kann das nicht, weil das Gehirn stärker ist? Vielleicht doch gar ein Ich, das – wie Merkel meint – den Gehirnvorgängen irgendwie ausgeliefert sei (was man, wie er meint, Straftätern doch zubilligen sollte)! Es geht also um dieses Ich und darum, ob es wirklich nur dem Organismus Leib als dessen bloßer Bestandteil oder gar Anhängsel zuzurechnen ist. Sehr viel spricht allerdings dagegen.

Zunächst ist es ja so, dass wir auch unseren Körper als Außenwelt erleben, besonders dann, wenn er uns Schwierigkeiten und Beschwerden macht. Natürlich sind wir mit ihm aufs Engste verbunden. Unsere gesamte Befindlichkeit und auch unsere Fähigkeiten hängen von seinen Funktionen ab, deren Ausfall zur Bewusstlosigkeit führt. Aber das bestreitet ja niemand und dafür gibt es ein recht anschauliches Bild aus unserem heutigen Denken. Die „Software“ Bewusstsein kann nicht funktionieren, wenn die „Hardware“ Organismus nicht einsatzbereit ist.

Es geht aber bei dieser unserer Betrachtung nicht darum, ob diese „Software“ unabhängig von der „Hardware“ Gehirn funktionieren kann, sondern darum, ob sie als steuerndes Element über eine eigene und selbständige Existenz verfügt. Ein wesentlicher und dafür sprechender Umstand ist wohl, dass der Mensch nicht nur, wie erwähnt, seinem Körper beobachtend und empfindend gegenübersteht, sondern überhaupt der materiellen Welt, der Natur. Im Verhältnis zu dieser liegt ja eine ständige Interaktion vor, die wesensmäßig zwei Akteure, also zwei voneinander unabhängige Pole voraussetzt!

Führen wir uns das an einem ganz einfachen Beispiel vor Augen: In der Natur finden sich Blüten, die als Ergebnis der Evolution so geartet sind, dass sie Insekten zur Befruchtung anlocken. Der Mensch pflückt sie und bindet sie nach seinen Vorstellungen zu einem Strauß, der in ihm das ästhetische Gefühl der Schönheit hervorruft. Er nutzt also die Natur auf seine eigene Weise, die vom Geschehen in dieser unterscheidet. Das hat sich im Lauf der Menschheitsgeschichte auf unermessliche Weise entfaltet, bis hin zur Bildung neuer chemischer Verbindungen oder der Beobachtung und Spaltung von Atomen in gewaltigen Anlagen.

Als dessen Ergebnis leben wir heute weitaus überwiegend in einer Welt, deren Herstellung durch die Natur ermöglicht wird, die wir aber selbst geschaffen haben. Hat dies die Materie bewirkt, trägt sie die Fähigkeiten dazu in sich? Also sich selbst zu beobachten, zu definieren und ihre Gesetzmäßigkeiten zu nutzen, um stets Neues und nicht „Natürliches“ zu schaffen? Wenn man das annimmt, wäre die Materie eigentlich göttlich oder gar Gott selbst.

Es ist unübersehbar, dass die materielle Welt unfassbar viele, wirklich perfekte und geradezu „maßgeschneiderte“ Voraussetzungen für die vom Menschen erdachten und hergestellten Gebilde bietet. Dass dies der Fall ist, kann man sehr wohl als „Sinn“ des Existierens der Materie auffassen. Rechter Glaube erblickt in der Nutzung dessen eine gewaltige Aufgabe und Herausforderung für den Menschen. Kommt auch diese Verpflichtung, die wir empfinden, aus der Natur, die sich diese dann so zu sagen selbst stellen würde? Oder stehen wir ihr und der Materie nicht doch als eigenständige Entitäten gegenüber? Dafür spricht wohl sehr viel und damit für eine nicht nur vom Leib „produzierte“ Seele als Träger des Bewusstseins.

Betrachtet man es recht, gibt es eine Linie oder Schwelle, wo überall in unserem gesamten Leben der „Sprung“ von der Materie zur Sphäre des Geistigen erfolgt. Ganz simpel gesagt: Wird eine Symphonie aufgeführt, spielt sich aus der Sicht rein naturwissenschaftlicher Betrachtung nichts anderes ab, als dass menschlich geartete biologische Lebewesen unter Zuhilfenahme von Geräten Schallwellen erzeugen, die durch das Medium Luft zu den Sinnesorganen der anderen versammelten Organismen gelangen, wo sie durch Reizleitung über Nervenbahnen im Gehirn bestimmte Wahrnehmungen erzeugen. Dass damit das Geschehen der Darbietung bis ins Unkenntliche reduziert und entstellt wird, liegt auf der Hand. Das Gleiche gilt, wenn man eine Kunstausstellung nur so betrachten wollte, dass die von Farbpigmenten auf Leinwand sich verstreuenden Lichtwellen die Augen der anwesenden „mit Intelligenz versehenen Bioautomaten“ erreichen. Dazu kommt aber Weiteres und Wesentliches. Bleiben wir beim Vergleich mit Computern und gehen wir im Sinne des Materialismus von menschlichen Körpern als ganz auf sich gestellte biologische Apparaturen aus. Deren Software „Bewusstsein“ müsste für die geschilderten kulturellen und überhaupt alle Erlebnissen jeweils programmiert werden, um diese erkennen und verarbeiten zu können. Also etwa mit einem Programm „wie nehme ich eine Symphonie wahr, wie erlebe, beurteile und bewerte ich sie“? Aber dieses „Programm“ ist in allen Köpfen vorhanden und wohl kaum Ergebnis einer seit der Geburt bestehender genetischer Ausstattung oder gängiger Erziehung. Also bedarf es – wiederum nach Computersprache – einer „Cloud“, zu der es einen Zugriff gibt und wo die wunderbare Musik und deren Qualität für jeden Nutzer „gespeichert“ sind, nicht freilich die der physischen Welt angehörende Partitur auf Papier.

Es spricht wohl sehr viel dafür, dass dieser Ort das unser Leben dominierende, ewige und faszinierende Geistige ist, das schwerlich nur Produkt individuell ablaufender biologischer Vorgänge sein kann. Der Physiker Anton Zeilinger zeigt sich persönlich davon überzeugt, dass es „eine geistige Welt außerhalb der materiellen Existenz“ gibt.[3] Ist es nicht so, dass sich unser Leben eigentlich ganz und gar hier abspielt, mit jedem Empfinden, Denken und Handeln? Offensichtlich werden alle Produkte des menschlichen Geistes in diese Sphäre eingefügt und existieren dort auf durchaus reale, wenn auch naturwissenschaftlicher Forschung nicht zugängliche Weise. Dabei geht es um unendlich viel und eigentlich alles, nämlich Sprache, mathematisches Denken, Regeln und Gesetze – oder auch Religion!

Nur erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass die These von den Bewusstseinsvorgängen als rein biologische Produkte der einzelnen Gehirne nicht erklären kann, warum es außersinnliche Wahrnehmung wie „Gedankenübertragung“ und Präkognition, also den Blick auf kommende Ereignisse, gibt. Alle diese Phänomene, die physikalisch nicht erklärbar sind (es gibt keine Wellen einer Übertragung von Bewusstseinsinhalten), sind vielfach und zweifelsfrei erwiesen. Viele und seriöse Naturwissenschaftler akzeptieren übersinnliches Geschehen als evident aber unerklärlich, während es von anderen einfach ignoriert oder bestritten wird.

Die Schulwissenschaft steht dem von ihr nicht Erklärlichen in teils interessierter, teils ablehnender Distanz gegenüber. Meist wird es recht ungenau dem Sammelbegriff der „Esoterik“ zugeordnet. Diese teilt ihr Schicksal mit dem Glauben, den keine Nachweise stützen können. Aber bei diesem gibt es einen weitgehenden Konsens des gegenseitigen Respektierens um des lieben Friedens willen, denn der Streit über den Glauben und zwischen seinen Richtungen war und ist Quelle böser Konflikte.

Konditionierung zur „Unsterblichkeit“?#

Die dargelegten Gedanken zur Welt des Geistes, die wir ganz und gar bewohnen, haben ganz wesentlich mit der Frage einer Fortexistenz nach dem Tod zu tun. Gibt es diese Sphäre, liegt nahe, dass uns diese eigentliche Heimat nicht verloren geht, wenn der Körper stirbt, der wie die gesamte physische Welt gleichsam als die Infrastruktur des Transzendenten zu betrachten wäre. Trifft das zu, wären wir nach dem Tod unseres Körpers dann eben in der Welt des Geistes, der wir zu jeder Zeit angehören, weiterhin als Geistwesen existent. Aber losgelöst von unserem Organismus, in dem die unsterbliche Seele, wie Plato meinte, als das Eigentliche des Menschen wie in einem Kerker gefangen war.

Die Auffassung von einer unsterblichen Seele dominiert in vielen Religionen, natürlich auch im Christentum. Die Kirche lehrt das „ewige Leben“. Was von uns in diesen Zustand gelangen und wie das geschehen soll, wirft allerdings eine Reihe gewichtiger und theologisch nicht plausibel beantworteter Fragen auf.

Zunächst: Ein ewiges Leben würde bedeuten, dass die wesentlichen Merkmale dieses Begriffes erhalten blieben. Leben bedeutet Veränderung, sonst ist es kein solches. Es erfordert Individualität, also eigenes Sein in einer wahrnehmbaren Umgebung auch anderer Individuen. Leben im menschlichen Sinn muss mit Denken, Empfinden und Handeln verbunden und auch in einen Zeitablauf eingebettet sein, währenddessen sich das alles in ständiger Aufeinanderfolge ereignet. Zur Zeit unserer irdischen Existenz ist unser Körper als Verbindungsglied zur physischen Welt Träger all dessen, ohne ihn ist eine gleichartige Fortsetzung bisherigen Lebens im Jenseits nicht vorstellbar.

Eine Fülle von Bildern , wie sie die Religionen kennen und auch die Kirche verwendet, versetzt uns dennoch einfach als Person ins Jenseits, vor allem in den „Himmel“, wo wir Gott gegenübertreten, ihn von Angesicht zu Angesicht schauen (!) und singend (!) in den Jubel der Engelschöre einstimmen. Derartiges persönliches Erleben soll durch die Auferstehung der Toten in Form einer Wiedergewinnung der Leiblichkeit möglich sein.

Eine physische Wiederherstellung unseres Körpers wird sicher nicht stattfinden. Würde dieser als jugendlicher oder gealterter Organismus wieder aufleben? Mit allen Organen oder ohne solche der Verdauung oder gar der Fortpflanzung samt einschlägigen Hormonen? Derartigen Fragen entgeht die katholische Lehre durch die Vorstellung eines „verherrlichten“, eines „überirdischen“ oder auch „verklärten“ Leibes, dessen Auferstehung eine Teilhabe an jener Jesu Christi bedeutet. Im Tod werden, wie im Katechismus nachzulesen, Seele und Leib getrennt, dieser fällt der Verwesung anheim, während die Seele Gott entgegengeht und darauf wartet (sic!), dass sie mit ihrem verherrlichten Leib wiedervereint wird, dem dann ein unvergängliches Leben gegeben ist. Dies alles würde „am Letzten Tag“ geschehen, eng verbunden mit der Wiederkunft Christi Allerdings muss man sich fragen, weshalb wir im Jenseits überhaupt eines Leibes bedürfen sollten, der ja ganz der Biologie zugehört und so ausgestattet ist, dass wir unter irdischen Bedingungen leben und überleben können. Braucht die Seele, das fortbestehende Ich, dieses Gebilde der Natur, das atmet, isst, trinkt und verdaut? Wohl eher nicht! Die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung rührt offensichtlich zunächst vom jüdischen Glauben her, der die Dualität von Leib und Seele nicht kannte. Aber ganz allgemein wirkt ein sehr verständliches Wunschdenken. Diesem erscheint unerträglich, dass unser Körper, der wahrlich als Wunderwerk der Natur gebildet wurde, und der uns so vertraut, ganz wichtig und unentbehrlich ist, gleichsam vernichtet werden soll. Im Jenseits sollte alles so wie bisher weitergehen, nur ohne Leid, Krankheit, Schmerzen und Unbill aller Art, eben in Seligkeit.

Aber es wird sicher nicht so sein; religiösen Vorstellungen dieser und anderer Art helfen uns nicht weiter, um einer Vorstellung oder gar einem Wissen über das Danach näher zu kommen. Das Nirwana des Buddhismus etwa, dem man im Kreis der Wiedergeburten durch Überwindung des Karmas zustreben soll, beschreibt überhaupt nicht ein Leben nach dem Tod, sondern ein Erwachen in bildloser Loslösung vom Irdischen.

An dieser Stelle soll die wirklich absurde Vorstellung nicht unerwähnt bleiben, der Tod sei Folge der Sünde. Das ist schon deswegen unsinnig, weil die gesamte Entwicklung der einzelnen Formen des Lebens auf unserem Planeten nur durch eine Abfolge von Generationen sich genetisch verändernden Existenzen möglich wurde. Das Naturgesetz der Evolution wurde nicht von Adam und Eva herbeigeführt, sondern vom Schöpfer. Und was wäre dieser für ein Gott, würde er für eine stattgefunden Verfehlung unzählige nachfolgende Generationen mit der schrecklichsten denkbaren Strafe büßen lassen? Wieder zeigt es sich: Die Kirche hat nicht die Fähigkeit, die Fehlerhaftigkeit früherer Betrachtungen zu überwinden, weswegen wir mit einer geradezu schrecklichen Lehre belehrt werden sollen.

Doch weg davon und zurück zu unbeeinflusstem Nachdenken! Oft wird erklärt, dass wir mit dem Tod nicht nur die Erde und die Welt, sondern überhaupt Raum und Zeit verlassen. Ist das so, träte etwas ein, das für uns absolut unvorstellbar ist, denn alles, was wir tun, erleben und denken spielt sich innerhalb der von daher rührenden Koordinaten ab. Kann Individualität, über die ja auch die Seele verfügen sollte, ohne Raum-Zeit-Kontinuum gedacht werden? Braucht doch das Ich eine wie immer geartete Lokalisierung in einer Umgebung mit deren Dimensionen. Den sich in Ermangelung dessen eigentlich zwangsläufig ergebenden Verlust der Identität beschreibt Roger Lenaers im „Traum des Königs Nebukadnezar: „Man kann denken an Regentropfen, die ins Meer fallen … Nichts von ihrem Wesen geht dabei verloren, nur ihre Individualität“.

Heimkehr in die „Welt des Geistes“?#

Doch die Annahme eines Verlassens von Zeit und Raum haftet an einer rationalen Weltsicht, wenn sie diese Dimensionen unserer physischen Existenz als bestimmend für den Zustand nach dem Tod ansieht. Wenden wir uns daher wieder der Welt des Geistes als Gegenstand unserer bisherigen Überlegungen und unserer dort bestehenden eigentlichen Beheimatung zu. Sie wäre jene Schöpfung Gottes, der wahre und bleibende Realität eigen ist. Sie würde gleichsam den „Überbau“ des Universums darstellen, von diesem nicht erzeugt und dessen Gesetzmäßigkeiten nicht unterworfen, aber doch existierend und sogar absolut dominierend.

In ihr könnte sehr wohl unabhängig von physischer Existenz so etwas wie ein Leben und Erleben stattfinden, es könnte dort sehr wohl Objekte, Subjekte und auch die Zeit geben, allerdings auf eine andere und nicht beschreibbare Art. Eine Sphäre des Transzendenten, aus der wir kommen und in die wir zurückkehren, wäre also etwas, dessen Vorhandensein wir annehmen, aber wie es auch in Bezug auf Gott ist, nicht erforschen können. Hier käme eine andere Art des „Lebens“ zur Entfaltung, jenes Lebens, das Gott als dessen Urheber offenbar will und nicht ins Nichts zerstört.

Nescimus, wir wissen es nicht und niemand auf Erden wird es je wissen. Niemand kam noch zurück und auch die erforschten Nahtoderlebnisse können nur die Schwelle beschreiben, nicht aber das, wohin sie führt. So bleibt letztlich nur eine Schlussfolgerung. Wenn mich Gott in dieses irdische Leben berufen und mir hier Aufgaben gestellt hat, kann ich darauf vertrauen, dass seine liebevolle Sorge für mich, wie sie Jesus beschreibt, mit dem Tod nicht endet. Mit meinem Tod, der so wie das Geborenwerden von Gott kommt.

Eine Hölle, wo der Teufel die Bösewichter in alle Ewigkeit auf grausame Weise quält, gibt es sicher nicht. Gott weidet sich nicht an Leid und Schmerz. Wir bestimmen aber in unserem Leben die Beziehung und Nähe zu ihm durch die Wahrnehmung des Liebesgebotes. Wer sich dem bewusst verweigert, dem droht, wie wir uns denken können, zwar nicht die Hölle, aber das große Versäumen. Verdammnis? Die bleibende Ferne von Gott ist wohl das Schlimmste, das zu befürchten ist.

Luther hat das bedeutsame Wort geprägt, dass derjenige, mit dem Gott geredet hat, unsterblich sei. Das andauernde Gespräch mit Gott wäre damit gleichsam die Lebensversicherung nach dem Tod. Dieser Gedanke ist von wunderbarer Einfachheit und Überzeugungskraft. Er stellt alles in den Schatten, was uns Religion über das Mysterium des Todes erklären will.

Fußnoten#

[1] Nr. 291 v 16. 3. 19.
[2] Wiener Zeitung v. 2. 10. 14, „Gute Strafrichter haben schlechtes Gewissen“ – siehe „Gedanken Nr. 130 v. 11. 10. 14.
[3] Gespräch mit der „Wiener Zeitung v. 7. 12. 12