Gedanken über Gedanken#
Von
Fritz Tüchler
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 272/2018
Die Gedanken von Christian Lauer in der Ausgabe 271[1] geben mir Anlass, eigene “Gedanken” zum Ausdruck zu bringen. Was sind aber “Gedanken”? Woher kommen sie? Nach dem bekannten Neurowissenschaftler Antonio Damasio (geb. 1944, Professor an der University of Southern California) gilt: “Im Anfang war das Gefühl” (Buchtitel). Er bezieht sich darin auf seine Forschungen von ersten Phasen der biologischen Evolution bis zur Entfaltung menschlichen Bewusstseins in dessen staunenswerten Komplexität. Demnach sind “Gefühle” nicht nur Gefühlsregungen im engeren Sinn, sondern die im wahrsten Sinn ur-sprünglichen “Schnittstellen” von Wahrnehmung und damit die Steuerelemente sowohl für die „Mechanismen“ der Evolution in allen Phasen wie für das Erwachen des Bewusstseins.
Vereinfacht gesagt, geben sie das Know how, das Werkzeug und das Grundmaterial für die weiteren Entwicklungsschritte. Als Feedback aus einem noch unbewussten Bereich geben sie sozusagen „Anregungen“ für kreative Prozesse und später auch für bewusstes „Denken“. Damit hat auch das allzu reduktive Konzept des “Zufalls” eine neue Bedeutung bekommen: der “Zufall” in der Evolution ist nicht mehr total “blind”. Er ist eher von der “gefühlten” und auf Grund bisheriger Erfahrungen interpretierten “Orientierung” bestimmt. Deshalb bleibt ein “Fort-Schritt” noch immer ein Tasten, das mit dem Schicksal des Irrtums leben muss. Selbst die katastrophalsten Irrtümer haben jedoch die Evolution nie zum Stillstand gebracht: wir könnten heute nicht danach fragen, wer wir denn sind und was wir tun sollen/wollen.
Dass wir das können, haben wir dem schrittweisen Aufbau in einem für unseren Begriff sehr langen Prozess zu verdanken. Man könnte sagen: Wir sind in einer fortgeschrittenen Phase – und wir müssen nach wie vor mit der ständig präsenten Möglichkeit von Irrtümern (und deren Folgen) leben. Wir dürften uns daher nicht der Illusion hingeben, alle Geheimnisse gelüftet zu haben. Aber wir dürfen – und können – aus der Hoffnung leben und lernen, dass es, abgesehen von Ausbrüchen, Einbrüchen, Abbrüchen und Umbrüchen nur eine Richtung gibt: vorwärts. Dass es dazu offenbar eine Energie (oder ist es “Motivation”?) gibt, die immer wieder zu Aufbrüchen drängt. Vielleicht trifft es Nelly Sachs ganz gut, wenn sie sagt: “Alles beginnt mit der Sehnsucht”. Ist es eine “Sucht”, die uns treibt? Oder doch eher eine Suche – ein Ver-Suchen, was mit neu gewonnenen Informationen “realisiert” werden kann? Unsere Welt ist – gefühlt – sehr komplex geworden. Letztlich ist es aber nicht die Welt an sich, sondern unser – gefühlter – Zugang zu ihr. Genauer gesagt, unsere “subjektive” Wahrnehmung und deren Verständnis, die wir – um der “Ordnung” willen – als objektive Realität definieren. Schließlich ist es – vielleicht - doch so, dass ordnende Gedanken und in weiterer Folge Gedankensysteme und Entscheidungsmuster die gefühlte Wahrnehmung in bestimmte Sprachmodelle “kleiden” und auf diese Weise objektivierbar “machen”, und das bedeutet meist auch Messungen und Analysen in Experimenten zugänglich machen. Experimente haben eine Vorgeschichte bzw. eine Motivation: in “Hypothesen”. Diese fallen jedoch nicht so mir nichts, dir nichts “vom Himmel”. Oder doch, in einem gewissen Sinn? Ist eine Hypothese, die nach “Beweisen schreit”, nicht eine Art gefühlte Ahnung, ein Spüren, dass da noch mehr ist als das bisher Bekannte?
Baut nicht jeder Fortschritt auf diesem “Gefühl” auf, und gibt, eben auch über Denkprozesse nicht eher “Ruhe”, bis sich die Information über die gefühlte “Schnittstelle”, vielleicht in einem spontanen “Geistesblitz” nach vielen vergeblichen Anläufen, einen Weg an die Oberfläche der Realität gebahnt hat? Wir versehen dieses Potential mit dem Begriff “Intuition”, der objektiv nicht fassbar, aber als grundlegende Erfahrung doch so “real” ist, dass Fortschritte anders kaum “denkbar” sind. Wo aber dockt diese Schnittstelle an, um die Transformation in unser Bewusstsein und damit in vielfache “praktische” Anwendungen zu ermöglichen? Kann Information schon in “Dingen” stecken, die noch nicht realisiert – also de facto nicht existent sind?
Bahnt sich unaufhaltsame “Mutation” als Sprung vorwärts an? Dieser mein Versuch einer “philosophischen Zeitreise” könnte näher an vielen religiösen und kirchlichen Themen sein, als uns bewusst ist, wie sie seit jeher und aktuell zum Teil sehr “heiß” diskutiert werden. Die „Gedanken“ 271 haben mir dazu erneut “Wasser auf die Mühle” gegeben. Wie kam das zustande, was uns heute als “dogmatische und institutionelle Problematik” im Magen liegt? Letztlich doch auch auf – oft verschlungenen – Wegen, wie gefühlte Wirklichkeit zu “ordnenden” Gedanken, Denksystemen und schließlich “praktischerweise” zu Institutionen und Organisationen geworden ist. Grundsätzlich ist das ja positiv zu sehen, um eine gewisse Übersichtlichkeit und damit “Kontrolle” darüber zu ermöglichen, was Gefühle und Intuition nicht ohne weiteres preisgeben. Grob betrachtet, beginnt das Problem dort, wo der “reale Sündenfall” einsetzt: bei der Versuchung zur Machtausübung mit Überordnung und Unterordnung, die sich nicht mehr an der “Naturordnung” orientiert bzw. sie zu eigenen Zwecken (fehl)interpretiert.
So kann ich die “Gedanken” von Christian Lauer über eine “Universalkirche” verstehen: als zunehmend “unbehagliches Gefühl”, dass allzu straff definierte und gesteuerte Religion die Rückbindung an den “Ur-Sprung”, an den Ur-Grund als kreativem Potential der Wirklichkeit nicht mehr fördert, sondern mehr und mehr behindert. Ist es wieder nur “blinder” Zufall der Evolution, dass das zunehmend hilflose, wenn zum Teil auch dominante Agieren und Reagieren von Kirchenmännern chaotische Züge annimmt? Bahnt sich vielleicht eine nicht unbedingt spontane, aber doch unaufhaltsame “Mutation” an, die einen Schritt, einen Sprung vorwärts einleitet, der nicht mehr gehemmt (Weihbischof Helmut Krätzl) werden kann? Wovor haben die Granden der Kirchen (siehe auch Orthodoxie!) tatsächlich Angst, wenn nicht davor, dass ihnen die “Zügel” aus der Hand gleiten – oder von einer „höheren Macht“ genommen werden? Das gefühlte “Unbehagen” in und über organisierte und standardisierte (Katechismus und Kirchenrecht) “Religion” könnte sich der Wirklichkeit näher erweisen als die konstruierten “Wahrheiten” – und damit Hoffnung geben. Dieses Gefühl könnte mehr umfassen, als es Denksystemen und Schemata möglich ist: “Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt” (Blaise Pascal). Es könnte sich in den Bemühungen der Reforminitiativen zu “Wort melden”, strukturelle Veränderungen (Zölibat, Frauenordination) in Gang zu bringen. Es könnte sich auch darin “manifestieren”, dass den Reformbewegungen ein massiver Rückhalt der Mehrheit der kirchlich gläubigen wie auch der kirchlich “unmusikalischen” Menschen versagt geblieben ist. Vielleicht deshalb, weil die Initiativen von vielen zu vordergründig, weil eher als kircheninterner Modus erfahren wird.
Viele Menschen fühlen sich damit in ihren Lebensfragen nicht wirklich berührt und verstanden und verlieren so ihr “Interesse” bzw. ihr Zugehörigkeitsgefühl dafür, dass Kirche als Gemeinschaft gelebten Glaubens erlebt werden könnte, die dem Leben einen tragfähigen Boden gibt. Die nicht enden wollenden Meldungen über Missbrauch und dessen Vertuschung tun ein Übriges, um diesen Boden erst gar nicht mehr zu fühlen. Vielleicht sind auch der alte und der neue Atheismus, das Boomen der Wellness-“Religion” und andere aktuelle “Erscheinungen” Symptome für anstehende Veränderungen, die weiter gehen als kirchenkosmetische Renovierungen. Vielleicht gibt es eine schrittweise “Gesundung” und Entwicklung, vielleicht bleibt aber auch von überkommenen Denkbastionen kein Stein auf dem anderen... Die Frage steht natürlich im Raum, woran für eine “Universalkirche” Maß zu nehmen wäre. Es wäre sehr schade, das Rad neu erfinden zu wollen und eine vielfach durchaus bewährte Infrastruktur über Bord zu werfen. Es wäre sehr schade, auf die Feierkultur zu verzichten bzw. sie den konservativen “Kreisen” zu überlassen. Tradition ist nicht altes Eisen oder erkaltete Asche, in ihr steckt die Glut von Erfahrungen, das Gespür, wie Krisen zu bewältigen sind und wie das Leben Sinn und damit Heimat gibt. Der alte Wein in den alten Schläuchen ist sauer geworden, er schmeckt nicht mehr. Vielleicht hat ihn verdorben, was ihn zum Selbstzweck gemacht hat: das krampfhafte Bewahren-wollen von Formen. Jesus ermutigt dazu, neuen Wein auch in neue Schläuche zu füllen – und damit die Feste zu feiern, wie sie fallen.
Was das konkret bedeuten kann, dafür haben wir doch eine Portion Kreativität mitbekommen – wenn auch viele noch nicht draufgekommen sind, was an Potential da ist und auf Entfaltung wartet. Für eine “Kirche neu” in Gestalt einer Universalkirche gibt es kein Patentrezept, kein sichtbares jedenfalls. Ein Blick – oder mehrere – auf die Evolution erinnert uns: Im Anfang war das “Gefühl”. Auch in der Technik basiert effiziente Steuerung auf Fühlern, auf „Sensoren“. Wo das Gefühl aus Systemen verbannt wird, weil es der Machtkontrolle im Weg ist, ist es, als ob sie ihr Blut verlieren – und damit das Leben in seiner Dynamik. Das Gefühl hat seinen Platz an vorderster Front, um zu fühlen, ob Gedanken und daraus manifestierte Systeme lebendig oder am Erstarren sind. Das Gefühl muss Neuland in Verbindung mit Erfahrungen erfühlen, bevor es von Gedanken erobert und vereinnahmt wird. Und es dient der „Nachjustierung“: wie sich Ergebnisse von Denkprozessen anfühlen.
Wir können zu jeder Stunde den “Aufbruch” wagen
Aber: Ist das nicht zu einfach, zu naiv? Wir “wissen” nur zu gut, dass Gefühle auch täuschen können. Ja, das können sie. Gefühle sind das, was “Fühler” gefühlt haben: sie können sich dabei auch irren. Besonders dann, wenn sie “konditioniert” sind, das heißt, wenn sie von Vorgaben beherrscht sind, die ihnen sagen, was sie zu beobachten, zu fühlen und zu “berichten” haben. Dann können Gefühle keine neuen Erfahrungen sammeln und auch nicht vermitteln: die Aktualisierung von Erkenntnis und Entwicklung stagniert. Wer weiß, wo die Evolution zum Stillstand gekommen wäre, hätte sie dem Fühlvermögen die Freiheit beschnitten. Oder, um in religiöser Sprache zu bleiben - hätte Gott ein Machtwort gesprochen: Schluss mit dem Gefühl für Dynamik, es lebe die vorgegebene Statik! Gott hat es nicht getan, zu keiner Zeit. Gott wollte den Menschen als Mitschöpfer, und Gefühle können im Vorfeld von Gedanken durchaus als Inspiration gesehen werden.
Das haben offenbar so manche Kirchenmänner gründlich “missverstanden” – oder missinterpretiert. Gott hat nicht alles dirigiert: er hat der Schöpfung, besonders dem Menschen, auch das Gefühl gelassen, wie es ist, wenn es, irrtümlich oder absichtlich, danebengeht. Als die Zeit gekommen war – als die Kontrollsucht durch Gesetze überhandnahm – kam in Jesus von Nazareth der “Christus”, der Gesalbte, der Sohn: damit die Menschen wieder ein Gefühl für das Leben bekamen. Für ein Leben in Gott, in Beziehung mit Gott. Gesetze können in Geboten und Verboten Orientierung geben, aber auch eine Menge Barrikaden aufbauen. Und dabei eine Beziehung blockieren, die vom Gefühl, vom Erleben lebt. Jesus hat den Menschen ein Gefühl gegeben: wie sich das Reich Gottes anfühlt, wie sich damit wahrhaft leben lässt. Jesus hatte im Gegensatz zu den Hütern der Religion keine Angst vor dem “Unkraut”: in seinem Umgang mit offiziell definierten Sündern ist Gottes Heil an bzw. in ihnen sichtbar geworden. Trotz solch neuem Zugang zum Gefühl bleiben wir noch skeptisch. Wir sollten es eher in Bezug auf die Konditionierung bzw. Manipulation sein, die wir verpasst bekommen und vielfach weitergeben. Das geht oft so weit, dass ein bestimmtes Lebensgefühl zur “Sünde” gemacht wird, weil es eine Norm so „will“: damit wird uns das Gefühl für das Leben, für das göttliche Leben in seiner Vielfalt verdorben. Jesus hatte seine Not mit den “frommen” Pharisäern, aber nicht mit der “stadtbekannten Sünderin”, die ihn liebevoll gesalbt hat: sie ist mit Tränen zu ihren Gefühlen gestanden. Gefühle sind vielschichtig, weil sie zum Leben in all seinen Facetten gehören. Mit ihrer versuchten Zähmung durch Gebote und Verbote ist nach Jesus mehr gesündigt worden als durch Gefühle, die oft genug fehlgeleitet wurden. Dabei büßen sie ihre wertvollste Eigenschaft ein: ihre Qualifikation als Führung.
So wird allzu leicht übersehen, worin die “Funktion” dieser Führung besteht: als Ausdrucksmittel von Gottes schöpferischem Geist und unserem Anteil daran. Was wir fühlend erleben, geht in “Fleisch und Blut” über. Wohl das stärkste Beispiel dafür: was wir durch Liebe erleben. Jesus hat dem relativ offenen Pharisäer Nikodemus eine weitreichende Perspektive eröffnet: die “Wiedergeburt im Geist“ (Joh 3). Das bedeutet, das Leben in seiner ganzen Tiefe zu fühlen: in seiner Bezogenheit auf Gott, der Liebe ist. Der Samariterin am Jakobsbrunnen, die nach rechtgläubiger Konvention gleich zweimal “daneben steht”, offeriert Jesus das “lebendige Wasser”: Gott will im Geist “angebetet” werden, im Herzen, im Gefühl als Wesenskern des Menschen, nicht an einem Ort oder einem zweckbestimmten Gebäude (Joh 4). Anders gesagt: eine echte Gottesbeziehung ist eine geradezu “intime” Gottesbeziehung, und diese wird nur verstanden als gefühlte, also erfahrene Gottesgegenwart im Leben. Das ist es, was Mystiker ansatzweise in Bildern weiterzugeben versuchten. Leben kann eine Universalkirche, eine Kirche neu nur aus und in dem “lebendigen Wasser”, von dem Jesus spricht. Sie kann den Rahmen, die Infrastruktur dafür zur Verfügung stellen, der als Erfahrungsraum dienen kann. Das kann durchaus mit herkömmlichen Formen geschehen. Aber das Leben, das Jesus meint, das gefühlte Leben, kann nie an diese Formen gebunden sein, sie zur Voraussetzung haben. Solange das der Fall ist, kann es klarer Weise nur “Teilkirchen” geben, die sich an ein abgegrenztes “Bekenntnis” klammern. Eine Universalkirche wird auch ein erweitertes, weil gefühltes Verständnis von Eucharistie haben, wie es Jesus in Joh 6 “erläutert”: ICH BIN das Brot des Lebens. Noch laufen wir wie die Jünger damals davon: die einen in einen eng gefassten konventionellen Rahmen, die andern in ein vernebeltes “Verständnis”, dem sie keinen Geschmack mehr abgewinnen können. Die gute Nachricht: wir können zu jeder Stunde den “Aufbruch” wagen. Viele haben es für sich vielleicht schon getan. Vielleicht fühlen sie schon die Universalkirche. Vielleicht fühlen sie die Einheit in der Vielfalt – auch und gerade ohne konfessionelle “Uniformierung”. Vielleicht wünschen sich viele aber doch einen “organisierten Raum”, in dem auch das sinnenorientierte Fühlen die Verbundenheit spüren lässt und damit den Weg zum spirituellen Fühlen des Einsseins sichtbar macht. Ein Fühlen, dass den “Glauben” zur Fülle bringt. Warum nicht auch im “Raum” der konventionellen Kirche, in die ich hineingeboren oder eingewandert bin? Warum nicht, wenn sich mein Gefühl die Freiheit des Geistes bewahrt: zu fühlen, welche Konventionen förderlich oder hinderlich sind in meinem Wachsen und Werden zu dem, was ich für Gott schon immer bin: sein geliebtes “Kind”...
Fritz Tüchler ist Absolvent der theologischen Kurse Wien sowie einer Ausbildung in Gestaltpädagogik und steht im praktischen Einsatz als ehrenamtlicher Krankenhausseelsorger.
Fußnote#
[1] Wie Kirche zu gestalten wäre, damit das Christentum für Menschen wieder attraktiver wird, v. 20. 10