Für eine umfassende “Metanoia”#
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 338/2020
Von
Fritz Tüchler
Vielen herzlichen Dank für die Gedanken Nr. 324! Sie bringen die aktuelle Situation mit ihren “Innenproblemen” wieder einmal zielgenau nicht nur auf den Punkt, sondern auf die ganze Bandbreite der umfassenden Thematik. Gewiss ist das dort angesprochene Thema der Gottesund Christusfrage der Kern von allem, was nicht erst aktuell in der Luft hängt. Wenn wir von den alten “Bildern” nicht wegkommen, gehen wir im Kreis. Wir – wir alle. Nicht nur – mehr oder weniger gut - römische Katholiken, nicht nur die andern christlichen Konfessionen, auch alle anderen Religionen und Weltanschauungen. Gewiss, das hört sich weit ausladend an. Aber sind wir nicht eine Menschheit auf diesem Planeten Erde, unserer “Mutter“ Erde?
Die sich – drastisch? – mehrenden Anzeichen eines Klimawandels, der nichts Gutes verspricht, könnten ein globales Signal sein für eine umfassende “Metanoia”, für ein Umdenken, eine “Umkehr”, einen Sinneswandel für einen Eintritt in eine neue Epoche, die einen besseren Blick für
mehr Gerechtigkeit hat als bisher. Gewiss, viele “moderne” (und auch als solche aber konservative!) Zeitgenossen hören das Wort von der sozialen Ungleichheit nicht gern, die weltweit offenbar zunehmend grassiert. Die glorreiche Idee von der Leistungsgesellschaft ist ein zweischneidiges Schwert. Sie ist nicht einfach grundfalsch – aber sie wird oft weitgehend missbraucht. Und dann wird sie zur Unterdrückung, dann kann sie auch “töten”, wie es Papst Franziskus in “Laudato si”[1] ausgedrückt hat.
Die Politik wäre da massiv gefordert, Spekulanten in Wirtschaft und Politik grundlegend das Handwerk zu legen, statt zu fördern, wie es auch in demokratischen Rechtsstaaten ein “Sport” zu werden scheint. Es geht nicht darum, allen alles nachzuwerfen, sicher nicht. Aber es heißt eben auch nicht umsonst, dass “der Fisch am Kopf zu stinken beginnt”. Anders gesagt: Sozialschmarotzertum fängt nicht auf den unteren Stufen der sozialen Leiter an. Da breitet es sich schließlich aus, wenn soziale Schieflage im System mit der Bürokratie als Komplizin problematische Folgen produziert: erst das apathische “Is eh alles wurscht!” (Indikator Wahlbeteiligung), und irgendwann wird dann nach Alternativen gefragt (nicht nur in Deutschland). Bei uns war es halt das “blaue Experiment”, aber die “schiefe Ebene” nach rechts sackt nicht nur europaweit weiter ab. Die Lösung liegt freilich auch nicht in linken Systemen, sondern immer noch im Gleichgewicht einer “gesunden” Mitte...
Aber nun von der politischen Ebene zur kirchlichen. Ist der Unterschied zwischen beiden Ebenen wirklich so grundsätzlich? Traditionell orientierte Kirchenmänner propagieren nicht nur eine ausgeprägte Art eines “Leistungsprinzips” – sie haben es auch in einem weitgehend monolithischen System festgemacht. Der Zahn der Zeit hat zwar – Gott sei es gedankt! – so manche allzu scharfen Kanten genommen. Etwa die nach der Devise: “Und wer das nicht glaubt, wird mit dem Anathema belegt!” Wer meint, das sei total vom Tisch, scheint nicht zu merken, wie sich das Prinzip in subtilen Formen noch immer festklammert. Die “Prügel”, die Papst Franziskus bei seinen “sanften” Reformschritten bzw. –versuchen vor die Füße bekommt, sprechen eine deutliche Sprache. Ist es wirklich seine Überzeugung, wenn er in seinem Schreiben zur Amazonas- Synode das Thema Zölibat links liegen lässt, wo er doch vorher immer wieder zu “mutigen Schritten” aufgerufen hat? Muss er da einer klerikalen “Meute” Konzessionen machen? Um zumindest nach außen den längst bestehenden Riss nicht allzu deutlich erscheinen zu lassen?
Ich meine, die Relation dieses überwiegend kirchlichen Problemfeldes mit dem Zölibat etc. im Vergleich zur politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Ausbeutung der indigenen Völker und ihrer Lebensgrundlagen muss eine Kirche unbedingt an vorderster Stelle im Blick haben. Kirche muss ihren Blickwinkel im Hinblick auf (nur?) vergangene Engführungen auf ihre primäre Berufung als sozialer Anwalt von Benachteiligten weiten. Es genügt nicht, “Mitglieder” zu lukrieren und bei der Stange zu halten. Die traditionelle Sichtweise hat da noch immer ziemliche Schwierigkeiten, statt den Mächtigen die Unterdrückten unter ihren Schutz und Schirm zu nehmen. Ist auch hier der Klerikalismus am Werk?
Es wurde im Kontext mit einer Lockerung des Pflichtzölibats damit argumentiert, dass die “eucharistische Versorgung” besser als bisher gewährleistet werden soll, auch um die Abwanderung zu Freikirchen einzudämmen. Mir scheint dieses Argument nicht sehr gut fundiert zu sein, weil es doch sehr auf eine Bindung an die römische Kirche hinausläuft. Mir fällt auf, dass diese eucharistische Versorgung in Form einer Messfeier durch einen zölibatären Priester nicht unbedingt das größte Anliegen von Papst Franziskus zu sein scheint. Er plädiert nach meinem Gefühl dafür, dass sich in den entlegenen Gemeinden möglichst viele Menschen begeistern lassen, die Gegenwart Christi in der Feier von Gottes Wort, im Beten und Singen und Tanzen, im Erleben der Gemeinschaft lebendig werden zu lassen. Die weitgehende – oder ausschließliche? – Reduktion der Gegenwart Christi auf eine von einem Priester zelebrierte Messe ist nicht unbedingt im Sinn des “Erfinders”. Hier zeigt sich eine “klerikale” Verengung mit Bindung an das hierarchische System. Das trifft bei den Freikirchen nicht zu, da hat der örtliche Vorsteher einer Gemeinde die Kompetenz, einen Gottesdienst authentisch zu leiten. Die Furcht der römischen Hierarchie vor einem “Wildwuchs” ist wahrscheinlich nicht unbegründet. Aber Hand aufs Herz: der “Heilige Geist” hat auch in der “einzig wahren Kirche” viel an Wildwuchs – und Missbrauch zugelassen. Die Erfahrungen nicht nur des letzten Jahrzehnts, sondern auch der letzten Jahrhunderte sollten doch sichtbar werden lassen, dass es mehr auf das “Charisma” von Menschen ankommt als auf kirchrechtliche Vorgaben und Modelle, um im Feiern des Glaubens die Christusgegenwart der Menschen lebendig werden zu lassen. Sollte Papst Franziskus gar in diese Richtung die Fühler ausstrecken und dem Wind des Geistes Raum lassen wollen? Könnte das nicht viel mehr “Sinn” machen, als die Barrikade des Zölibats millimeterweise zu lockern? Das wäre eben eine Entwicklung, wie Gottes Geist die Kontrollbarrieren des Kirchenrechtes umgeht – oder überhaupt aushebelt... Gottvertrauen wäre die Devise...
Diese Gedankengänge sind mein Versuch, mich auf dem Weg über aktuelle Vorgänge dem in Nr. 324 behandelten Thema anzuschließen. Ein ziemlicher Umweg? Ich denke doch nicht. Vielleicht – oder eher wahrscheinlich – ist das der “Brennpunkt”. In den Gedanken und Überlegungen des Verfassers, auch in früheren Beiträgen, kommt es immer wieder zur Sprach: das Gottes- und Christus-“Problem”. Ein Problem ist es freilich nur insofern, wenn es als monolithischer Block festgeschrieben ist. Wenn der dynamische Geist Gottes Bewegung in die Entwicklung bringt, nimmt er/sie keine Rücksicht auf alte Bilder und Vorstellungen. Die hierarchischen “Statiker” sind freilich entsetzt, wenn ihre Säulen zu wanken beginnen. Sie reden dann vom “Verlust des Gottesglaubens”, vom Abweichen vom “wahren Weg” etc. Auch mit einer modernisierten Version des alten “Extra ecclesiam nulla salus” wird das dynamische Wirken von Gottes Geist “unter lehramtliche Kontrolle” zu bringen versucht. Wenn die Entwicklung aber doch nicht aufzuhalten ist, entstehen “notgedrungen” Risse und Spalten bzw. Spaltungen – und eine Kirchenkrise. “Gott” hat deshalb noch lang keine Krise. Höchstens jener “Gott”, das heißt jenes Gottesbild, das vom hierarchischen System geprägt und vermittelt wurde. Dass es in einer Zeit des Umbruchs, in dem das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht im Blick ist, zu Verwirrungen kommt, ist nicht verwunderlich. Deshalb habe ich das “ungute” Gefühl, dass es die Amtskirche “verschlafen”, um nicht zu sagen versäumt hat, das vermittelte “Bild” von Gott bzw. Christus zeitgerecht weiter zu entwickeln, ja zu “entfalten”.
In diesem Kontext möchte ich meiner “Ahnung”, nein, meinem Gottvertrauen auch in Bezug auf Christus bzw. eine “Menschwerdung” Gottes eine sprachliche Gestalt geben. Ich möchte ausdrücklich betonen: ich deklariere kein neues oder irgendwie anderes Gottes- bzw. Christus-“Bild”. Ich versuche, gar nichts “abzubilden”. Ich versuche – und das leitet und trägt mein Leben – offen zu sein für das Geheimnis Gottes, mich davon einfach berühren zu lassen, mich davon durchdringen zu lassen, und immer mehr hinein zu “sinken” – um mich “selbst” darin zu finden. Ich weiß, solch “mystischer” Zugang ist Vielen ein rotes Tuch, die konkrete Anhaltspunkte wollen: in einer “wahren” Lehre, in Ritualen und Formen, in amtlich berufenen und ordinierten Personen – und in einer starken Institution. Ich habe ja auch nichts grundsätzlich dagegen – ich lasse mich nur nicht an Vorgaben binden, die eine dynamische Beziehung zu Gott als dem Geheimnis der Liebe kontrollieren und begrenzen. Mit Paulus kann ich sinngemäß sagen: “Nicht dass ich es schon erfasst hätte, aber ich bin auf dem Weg, mich immer mehr von Christus erfassen zu lassen”. Ich weiß mich dabei ermutigt und begleitet von vielen Vorbildern und “Begleitern”. Ich nenne nur einmal den Franziskaner Richard Rohr, speziell sein Buch “Pure Präsenz”. Wo traditionelle “Türen” knarren und klemmen, öffnen sich da Perspektiven. Aber nicht in ein diffuses Allerlei oder Nichts, sondern in die Geborgenheit einer ewigen Liebe. Der “kleine” Unterschied zu her4 kömmlichen “Glaubens-Formen” und Formeln, zu sakramentalen “Zeichen” etc. ist einfach der: ich kann mich direkt “fallen lassen”. Das religiöse Rüstzeug und Angebot der “Kirche” ist dann nicht mehr “Bedingung”, sondern eine durchaus reichhaltige Möglichkeit, auf der sinnlichen Ebene meiner Christusbeziehung Ausdruck zu verleihen, eben auch im gemeinsamen Feiern. Ich kann auch da mit Paulus sagen: “Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir”. Und das ist ja auch in etwa die in der N. 324 erwähnte Intention von Angelus Silesius. Auf einen einfachen, aber eben nicht vereinfachenden Nenner gebracht, ist damit das “Geheimnis” der Menschwerdung angesprochen, wenn auch nicht “erklärt”: weil wir mitten in diesem Prozess stehen und gehen, fällt es uns so schwer, uns darin zu finden – mit unserem extrovertierten (oder introvertierten?) Selbstverständnis.
Mir ist schon klar, dass ich mit solcher Sicht keine offenen Türen einrenne, mich vielleicht auch in den Verdacht der Häresie bringe. Aber ich will ja auch nicht die kirchliche Lehre in meinem Sinn korrigieren, sondern mich auch an Paulus halten: “Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit”. Und ich weiß mich auch besonders im Johannes-Evangelium “beheimatet”. Ich habe jedenfalls keine Berührungsängste mit Johannes, wie anscheinend manche Verkünder und ihre Gläubigen.
Was mich in diesem Kontext auch immer wieder “sanft berührt”: die Implikationen der “Quantentheorie”. Mag es auch nicht dem wissenschaftlichen Konsens genügen: für meinen Begriff scheint es eine Art Brücke zu geben zu meinen Ausführungen von vorhin. Was die sprachliche Fixierung des Gottesgeheimnisses in allen vorhandenen Formen, eben auch kirchlicher Lehre betrifft, könnte es in weitestem Sinn eine “Parallele” geben: sobald ein “Teilchen” auf seinen “Ort” hin beobachtet bzw. angesprochen wird, ist es darauf “fixiert”. Seine Möglichkeiten sind auf diese Fixierung beschränkt bzw. scheinen es zumindest. Vorher gibt es jedoch “unendliche” Möglichkeiten für seine “Gegenwart”. Ist es nicht bei einer nichtrationalen “Wirklichkeit” ähnlich: sobald sie in ein Wort, einen Satz, eine Lehre hereingeholt wird, ist sie auf diese Gestalt fixiert. Ähnlich scheint es mit einem anderen quantentheoretischen Phänomen zu sein: die Verschränkung bzw. Nichtlokalität. Wir haben uns so sehr an das Analysieren und Zerlegen in Teile gewöhnt, dass wir die Beziehungen aus dem Blick verloren haben, die ein Ganzes erst dazu machen.
Das trifft in der Natur im Wesentlichen überall zu, wie manche Forschungsergebnisse vermuten lassen, bis hin zum menschlichen Bewusstsein. Unser methodischer Ansatz führt dazu, dass wir die Teile “verorten”, ihnen einen Platz zuweisen, aber ihre Verknüpfung unterschätzen. Besonders das Ineinander der Erscheinungsformen der Wirklichkeit auf materieller, energetischer und “spiritueller” Ebene erscheint uns noch weitgehend undurchsichtig. Und da möchte uns kirchliche Lehre die “Wahrheit” an fixen Stellen verorten? Und dabei in die eigenen Fallen gehen, wie z. B. bei Galilei oder der Evolution?
Ich kann hier auch nur einen Versuch wagen, das in Sprache zu bringen, was mich berührt und bewegt. Ist das deshalb Illusion? Ich glaube und vertraue, ich brauche nicht zuerst ein “Glaubens- Wissen”, sondern die Offenheit, mich immer neu berühren zu lassen – vom ewigen Geheimnis der Gottes- und Christusgegenwart. Ich brauche mich “nur” davon durchdringen lassen – damit Menschwerdung geschehen kann, auch gemeinsam mit anderen, mit der ganzen Menschheit in vielfacher Gestalt. Dann ist Christus die treibende, tragende und leitende “Kraft” der Evolution auf einer “höheren” Ebene. “Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben”, sagt schon der johanneische Jesus. Und: “Niemand kommt zum Vater außer durch mich”, auch bei Johannes. Aber Gott als “Vater” (und Mutter) und wir als “Kinder Gottes” – das wäre ein weiterführendes, das heißt, weiter nach “innen” führendes Thema. Dabei wird das “Vater Unser” so oft gesprochen, “gebetet”. Aber: genügt es denn, wenn es gesprochen wird?
Damit lasse ich es bei meinen “Visionen”. Ich unterlasse es, mich gegenüber dem Lehramt in irgendeiner Weise “rechtfertigen” zu wollen, genauso der Kirche als “Gemeinschaft der Gläubigen” gegenüber. Aber auch ebenso allen fundierten Analysen vieler Beiträge dieser Reihe und ihren Autoren gegenüber. Es ist wie unter dem nächtlichen Sternenhimmel: jede und jeder wird ihn auf seine Weise “interpretieren”...
Fritz Tüchler ist in der Krankenhausseelsorge tätig.