MODERNE IRRENPFLEGE#
Im Laufe der vergangenen Woche (Oktober 1906), tagte in Mailand unter dem Vorsitz des Professors Lombroso der Internationale Kongress für Irrenpflege, auf welchem sämtliche europäischen Staaten durch ihre hervorragendsten Psychiater und Verwaltungsbeamten vertreten waren, Für Österreich waren der Leiter der physiatrischen Klinik, Dozent Dr. Alexander Pilez, sowie Oberinspektionsrat Gerenyi erschienen.
Es gibt wohl kein Gebiet der öffentlichen Verwaltung, das der internationalen Behandlung bedürftiger ist, als die Irrenpflege. Es ist daher begreiflich, wenn ebenso Ärzte wie Administrationsbeamte der Irrenpflege die Absicht und das Bedürfnis haben, mit den Kollegen anderer Länder ihre Erfahrungen auszutauschen. Die Irrenpflege hat noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hinter den vergitterten Fenstern der geschlossenen Irrenanstalten mit Beschränkungsmitteln gearbeitet, die an die Folterwerkzeuge des Mittelalters erinnerten, seither aber einen ungeheuren Aufschwung genommen.
An Stelle der großen kerkerartigen Gebäudekomplexe sind luftige, mit Veranden versehene Pavillonbauten getreten, in welchen sich die Kranken der größten Freiheit erfreuen und zur Ablenkung von ihren Wahnideen in den verschiedensten Arten beschäftigt werden.
Unter den Kongressvorträgen über die Fortschritte in der Irrenpflege in den letzten Jahren nahm das Referat unseres Delegierten Oberinspektionsrat Gerenyi, die erste Stelle ein. Dieser führte unter anderem aus: Die Irrenpflege des Landes Niederösterreich ist im Jahr 1902 durch die Errichtung der Anstalt in Mauer-Öhling und besonders durch die Einführung der Familienpflege in Niederösterreich in eine neue Periode getreten, die ihren Höhepunkt erreichen wird mit der 1907 erfolgenden Eröffnung der neuen Landes- Heil- und Pflegeanstalt in Wien mit dem Belegraum von zweitausend Personen. Die Einführung der Familienpflege hat sich ganz ausgezeichnet bewährt; es befinden ich fast 300 Kranke bei niederösterreichischen Familien in Pflege. Sie bewährt sich in therapeutischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht und übt besonders einen erziehlichen Einfluss auf die bäuerliche Bevölkerung welche, um Kranke zu bekommen, die hygienischen Verhältnisse ihrer Wohnungen zu verbessern bestrebt ist.
Geradezu mustergültig und den hervorragendsten Instituten dieser Art ganz ebenbürtig ist die Kaiser Franz Joseph Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Mauer Öhling, deren Anstaltsleben in Bildern zu sehen ist.
Man sieht auf denselben Kranke bei der landwirtschaftlichen Arbeit, in den Werkstätten, Tischlerei und Schlosserei, und in der Nähstube beschäftigt. Die Arbeit übt ihre heilsame Wirkung und es verbessert sich unter dem Einfluss derselben zusehends der Zustand der Irren. Kranke, welche vor ihrer Entlassung aus der Anstalt noch auf ihre Verlässlichkeit geprüft werden sollen, oder aber unheilbare, harmlose Patienten werden in die sogenannte Familienpflege abgegeben. Sie sind dabei unter Aufsicht der Anstaltsärzte entweder bei Bediensteten des Hauses oder aber in fremden Bauernfamilien gegen einen seitens der Anstalt zu leistenden Verpflegskostenbetrag untergebracht und fühlen sich in der neuen Umgebung bald so heimisch, dass sie sich in den Verband der Familie vollständig einfügen.
QUELLE: Österr, Illustrierte Zeitung sowie Bilder der ÖNB
HINWEIS: 22 Mauer-Öhling
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