WOHNUNGSNOT#
Die Monarchie war zerfallen, der Erste Weltkrieg zu Ende alles kehrte von irgendwo nach Hause zurück. So auch nach Wien, deren Wohnungsnot sich daher noch mehr verschärfte. Im Wiener städtischen Wohnungsamt waren zu dieser Zeit allein 14.000 Parteien vorgemerkt, die dringend eine Wohnung benötigten, oder einen Wohnungstausch anstrebten.
Das Wohnungsamt hatte eine eigene Kommission eingesetzt, die nach derartigen Wohnungen Ausschau halten sollten. Die Wohnungen der Reichen, die Villen und Paläste waren ihr Ziel.
Die Vollzugs Anweisung bestimmte bekanntlich, dass ungenügend bewohnte Räume zwangsweise zur Vermietung gebracht werden konnten. Hatte man anfangs vor allem an Doppelwohnungen gedacht, so ging man nun so weit, ganze Gebäude mit Beschlag zu belegen und was vielleicht noch als weit einschneidende Maßnahmen empfunden wurde, einzelne Hausteile abzutrennen und zu selbständigen Wohnungen zu adaptieren. Für diese Adaptierungen hatte die Gemeinde Wien dem Wohnungsamt einen Kredit von sechs Millionen Kronen eingeräumt, ein Betrag, der ungeheuer groß anmutete, aber, an der enormen Teuerung aller Bauarbeiten gemessen, es gar nicht war.
Die Palais – die Schlösser der Reichen! Es schien so einfach, hier Platz zu schaffen für die „Wohnung Notleidenden“, aber in der Praxis wurde die Sache ein vielfältiges Problem; der Kommissär des Wohnungsamtes musste ein kluger, vielseitig gebildeter und erfahrener Mann sein, wenn er es vom bautechnischen, praktischen und künstlerischen Standpunkt aus lösen wollte.
HINDERNIS
Solch ein Palais oder Schlösschen, wie es Fischer von Erlach, Ferstel oder einer der Modernen baute, ist ein organisches Ganzes. Eine große, oft durch zwei Stockwerke ragende Halle, lange Korridore mit überhohen, ineinander gehenden Räumen, eine große Zentralküche, die in den alten Palais überdies oft ungünstig und unpraktisch gelegen war. Ein neues, kleineres Ganzes zu schaffen, eine Wohnung, wie sie der Bürger will, die besser und bequemer ist, als die Behausung, die er aufgeben soll, war meist nur mit den größten Schwierigkeiten zu konstruieren. Fast überall mussten Küchen eingebaut werden, eine Aussage, die unter den heutigen Verhältnissen sehr ins Gewicht fiel. Vorzimmer, Diener Zimmer und gar Badezimmer der neuen Wohnungen einzurichten, war oft unmöglich. Am günstigsten stellen sich die Nebenräume der großen Palais zur Adaptierung. Sie enthielten manchmal komplette, kleine, wenn auch nicht übermäßig komfortable Wohnungen, die von Kammerdienern, Hausverwaltern usw. bewohnt gewesen und ohne viele Adaptierung Schwierigkeiten belegt wurden.
Und noch ein weiterer Umstand fiel schwer ins Gewicht. Viele dieser Baulichkeiten stellen Kunstwerke von hohem Rang dar. Ihre Anlage, ihre Ausgestaltung und Inneneinrichtung hatten künstlerischen Wert und bilden oft den Rahmen für liebevoll gehegte Sammlungen insbesondere Gemäldesammlungen, welche nicht ohne großen Schaden verpflanzt werden konnten. Wir sind so arm an Kunstwerken – sollten diese wenigen, bestehenden, die uns keine fremde Macht rauben kann, die verwachsen sind mit dem Boden Wiens, zerschlagen werden um einer Not willen, die, an den unvergänglichen Kunstwerten gemessen, nur kurz und vorübergehend sein wird? Denn ein ein vollständiger Umbau, ein Zerreißen der Gebäude durch welche viele allein in bürgerliche Wohnungen verwandelt werden könnten, würde hier unheilbar zerstören. Es ist der Kommission zu danken, dass sie auch in dieser Beziehung Rücksicht walten ließ.
PALAIS WOHNUNGEN
All diese Schwierigkeiten, die praktischen und künstlerischen Erwägungen, der Kostenpunkt, der Zeitaufwand, sind schuld daran, dass trotz ungeheurer Arbeitsleistung das Wohnungsamt nur eine verhältnismäßig geringe Zahl von Palais Wohnungen zur Verfügung stellen konnte. Bisher nur 50 Palais kommissioniert und in denselben ungefähr 800 Zimmer sichergestellt werden konnten. Es waren hauptsächlich Gebäude im 1. 4. und 3. Bezirk, doch werden alle anderen an die Reihe kommen.
IM BELVEDERE
wurden drei schöne Wohnungen eingerichtet. Das Hauptgebäude selbst musste verschont bleiben, da es sonst Schaden gelitten hätte. Dagegen bot der Ambasserhof zwei hübsche ehemalige Kammerdiener Wohnungen, eine der Kammergarten, Im Kammergarten sollte noch eine dritte, größere Wohnung eingerichtet werden. Der Kostenüberschlag ergab aber einen Adaptierung Aufwand von 30.000 Kronen! Da wurde der Ausweg gerne eingeschlagen, dass die Schloss Verwaltung im eigenen Wirkungskreis für die Umwandlung dieser Räume zu Wohnungszwecken und ihre Vermietung Sorge trug.
DAS SCHWARZENBERG PALAIS
dieses Juwel, das die unschätzbare Kostbarkeit seiner Bildergalerie enthält, erwies sich ebenfalls als unbrauchbar. Nur Nebengebäude konnten der Adaptierung dienen. Es wurden vier bis fünf Wohnungen dort gewonnen, ehemalige Dienerwohnungen, die, niedrig, nicht komfortabel, aber gesund und freundlich und – billig sind. So fordert Fürst Schwarzenberg – welch Ideal von einem Hausherrn - für eine hübsche Dreizimmerwohnung einen Jahreszins von - 400 Kronen.
Ähnlich verhielt es sich im Neuwaldegg Schlösschen des Fürsten Schwarzenberg. Auch hier konnte der Haupttrakt nicht zerrissen werden: im Nebengebäude wurde hübsche kleine Zweizimmerwohnung eingerichtet, schmuck, gesund und billig, in welche hochbeglückt ein neu vermähltes Ehepaar einzog.
Zwei schöne komfortable Wohnungen die selbst den verwöhnten Geschmack entsprachen, bot dagegen das Sternberg Palais in der Prinz Eugen Straße.
IM ROTHSCHILD PALAIS
Tief eingegriffen wurde in die Häuser der Rothschild Familie. Das Palais in der Prinz Eugen Straße ließ sich drei Wohnungen entreißen, bei deren Einrichtung allerdings umfangreiche Adaptierungen notwendig waren. Das Stock hohe kleine Palais in der Plößgasse das unbewohnt stand, wurde zur Gänze mit Beschlag belegt und in zwei Wohnungen geteilt. Vom Palais Alfons Rothschild in der Theresianum Gasse ließ das Wohnungsamt die Hand da hier nur hätte zerstört werden können, doch sollen in einem der Nebengebäude zwei Wohnungen eingerichtet werden.
Auch das Palais Schönburg-Hartenstein in der Rainergasse hat nur im Nebengebäude Gelegenheit zur Adaptierung einer Wohnung. Das Kunstwerk Fischer von Erlachs, eine Miniaturausgabe des Schwarzenberg Palais, zeig im unteren Geschoß mehrere wundervolle sechs bis acht Meter hohe Prunkräume, darüber liegen die vom Eigentümer bewohnten Schlaf- und Wohnräume.
PALAIS CZERNIN
am Schmidplatz, welche eine sehr wertvolle Gemäldesammlung, einen wahren Schatz .Wiens, umschließt, wurde im Parterre eine, im ganzen zweiten Stock drei Wohnungen eingerichtet. Die Parterre Räumlichkeiten sollten ursprünglich zur Einrichtung einer Gemeinschaftsküche dienen. Es ergab jedoch, dass die abziehenden Dünste und Dämpfe, für welche, ohne allzu enorme Kosten, kein Abgang errichtet werden konnte, die Bildersammlung in Gefahr gebracht hätte.
Im Palais Thurn-Valsassina wurden zwei kleine Wohnungen eingerichtet, im Palais Franz Harrach in der Favoritenstraße 4. Das übrige Gebäude wird vom Eigentümer und seiner Dienerschaft bewohnt. Nun schreibt die Vollzugsanweisung vor, dass auf die Dienerschaft keine Rücksicht genommen werden dürfe, Wie verträgt sich das aber zum neun Hausgehilfinnen Gesetz, das jedem Diener ein Zimmer zuweist. Und wie denkt sich die Vollzugsanweisung die Lösung des neuen Problems, wenn die, vielfach verheirateten, langjährigen Diener an die Luft gesetzt werden und sich ein neues Heim suchen müssen? Da heißt es eben in der Praxis die Theorie der Anweisungen korrigieren.
Das Palais Fürstenberg in der Giselastraße gab es eine ganze Reihe unbewohnter Räume, welche der amerikanische Kommission des „Children Relief Büro“ vom Eigentümer unentgeltlich eingeräumt und sogar eingerichtet wurden. Die Kommission kann jetzt von diesem schönen Heim aus ihr segensreiches Werk für die Wiener Kinder fortführen.
DIE ERZHERZOGLICHEN PALAIS
Eine zweite Mission, und zwar die französische Militärmission hat sich im Palais Marie Therese in der Favoritenstraße etabliert. Das ganze Gebäude steht ihr zur Verfügung; die Mission hat sich hier häuslich eingerichtet, menagiert selbst und nimmt ihre Mahlzeiten in zwei wunderschönen prunkvollen Speisesälen des Palais ein. Das Palais Friedrich in der Hofgartenstraße ist voll besetzt mit Büros und mit Wohnungen von den Angestellten. Hier konnten nur zwei Wohnungen gewonnen werden, darunter eine große, komfortable, die ehemals von der Prinzessin Parma bewohnt wurde. Das Albert Palais, das die wundervolle Albertina enthält, sperrt sich, seiner ganzen Anlage nach, gegen eine Adaptierung. Dagegen wurden im Augustiner Stöckl 25 freundliche Zimmer sichergestellt, welche der ehemalige Erzherzog Friedrich schon vor einigen Monaten einem Studentenheim unentgeltlich überließ.
Das Palais Karl Stephan wird eine ganze Reihe schöner Wohnungen ergeben, doch bedarf es zu ihrer Adaptierung zeitraubender Arbeiten.
Das Palais des Deutschen Ritterordens am Wilhelminenberg ist für Wohnzwecke nicht geeignet. Es wird erwogen, hier, um das Gebäude dennoch brauchbar zu machen, Büros zu installieren.
Das Palais Rainer ist vollständig im Umbau begriffen, Abgesehen von den ungeheuren Kosten würde es Monate brauchen, bis es wieder in bewohnbaren Zustand gebracht wäre. Ein Trakt des Palais erregt aber die Aufmerksamkeit und Mißgunst der Passanten. Es gleicht einem großen Einstock hohen Gebäude, dessen Fensterreihe leer und verwahrlost sind. Dieses leere Haus, das den Groll aller Wohnung Lüsternen auf sich zog, ist aber eine - Reitschule, deren Fenster bloß so hoch angelegt sind, dass sie wie im ersten Stock gelegen aussehen. In den Nebengebäuden des Palais aber konnten immerhin drei Wohnungen eingerichtet werden.
DIE NIETEN
So gibt es ein unermüdliches Besichtigen, Wägen und Prüfen, und nur zu oft muss die Kommission unverrichteter Dinge von dannen ziehen.
Das Palais des Don Alfonso von Bourbon erwies sich als zu klein und durch die Familie des Eigentümers voll besetzt, so dass der Besitzer, dem man arg mitspielte und bereits zwei Grazer Häuser requirierte, unbehelligt bleiben konnte. Ergebnislos verlief die Kommissionierung auch im Palais Colloredo und im Hause Haas-Teichen, während Auersperg nur für Bürozwecke in Frage kam und das Staatsdenkmalamt aufnehmen wird.
Nieten sind auch die meisten der kaiserlichen Schlösser, auf die man, beim ersten Anblick so große Hoffnungen gesetzt hatte. Die Hofburg, Eckartsau, Hetzendorf, auch der Haupttrakt von Schönbrunn wurden kaum zu Wohnungen adaptiert. Tausend Gründe sprechen dagegen, die alle ernst und gewichtig waren. Dagegen hoffte man in einzelnen Palais deren Besichtigung in den nächsten Tagen stattfinden werden, so auch im Augarten Palais, bessere Erfolge zu haben.
DIE MIETER
So viele Wohnungen aber diese Razzia auf Räume ergab, sie werden nicht ausreichen können, um die Zahl der Anwärter zu befriedigen. Wie gesagt, es warten 14.000 Familien in Wien auf eine Wohnung! Hoffe daher keiner, dass ihm hier ein guter „Typ“ gegeben ist und er schleunigst um eine Palais Wohnung einschreiten kann. Die Namen der „Glücklichen“, die in den Palästen der Reichen ein Heim gefunden, verschweigt das Wohnungsamt. Es sollen in erster Linie ehemalige Beamte Tschechiens und Jugoslawiens sein, die, als Deutschösterreicher, von unseren freundlichen Nachbarn einfach an die Luft gesetzt wurden, und die in der fremden Stadt, mit Weib und Kind, verzweifelt nach einer Wohnung suchten. Sehr berücksichtigt wurden auch junge Ehepaare.
Ein paar hundert Menschen sind derzeit. Wenn auch gewiss nicht für alle Zeit, der Wohnungssorge enthoben, da ihnen die Reichen in ihren Schlössern Platz gemacht haben. Aber noch immer stehen Tausende da, die kein Heim gefunden. Jenen allen wird auf diese Art, auf diese mühevolle, Geld- und Zeit verschlingende und dabei so wenig ergiebige Art nicht geholfen werden können. Und so haben auch die Schlösser der Reichen die bange Frage des Proletariers „Wo werde ich wohnen!“ nicht aus der Welt schaffen können.
QUELLE: Der neue Tag 10. Mai 1919 Seite 4,ANNO Österreichische Nationalbibliothek, Bild Graupp
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