Die Utopie einer Welt ohne Krieg#
Die Friedensforschung liefert wichtige Beiträge zum Verständnis der Weltpolitik – österreichische Forscher sind daran maßgeblich beteiligt#
Mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung (Samstag, 11. September 2010)
Von
Gerald Mader
Die ersten "Peace Studies"-Programme sind in der nordamerikanischen Friedensforschung entstanden, und deren Strukturen, Ansätze und Methoden haben die Grundlage für den Aufbau einer europäischen Friedensforschung gebildet. Die gemeinsamen Impulse waren das Ende des Zweiten Weltkrieges, der neue Ost-West-Konflikt, der Rüstungswettlauf und die damit verbundene Gefahr eines Atomkrieges (Kuba-Krise). Die Friedensforschung der nordamerikanischen Friedensuniversitäten war entsprechend ihrer Eigentümerstruktur auf Konsens ausgerichtet und am Status quo orientiert, während die Zielsetzungen der europäischen Friedensforschung auf Veränderung des aktuellen Zustandes gerichtet waren.
Wertorientierung#
In der europäischen Friedensforschung gab es, trotz dem gemeinsamen Grundverständnis (Verhinderung der Kriege und Reduzierung der Gewalt), einen großen Dissens, der seinen Ursprung neben politischen Ideologien in der Komplexität von Begriffen wie Frieden, Krieg, Gewalt und Konflikt hatte. Aus diesen Streitfragen sind im Zusammenhang mit den weltpolitischen Veränderungen (Auflösung der Sowjetunion) neue Perspektiven entstanden, die weniger auf die Überwindung des Krieges als vielmehr auf die Analyse und Bewältigung der Friedensprobleme (Not und ökologische Katastrophen) abzielen.
Das "Österreichische Studienzentrum für Friedens- und Konfliktforschung" (ÖSFK) und das "Europäische Universitätszentrum für Friedensstudien" (EPU) in Schlaining haben sich immer zu einer Friedensforschung bekannt, deren normatives Ziel es ist, den Krieg zu überwinden und Frieden herzustellen. Dazu will die Friedensforschung durch Erforschung der Ursachen von Kriegen und Gewalt sowie der Bedingungen des Friedens beitragen. In diesem Sinne stellt Frieden einen Wert dar, aus dem sich der normative Anspruch der Forschung ergibt. Es gibt sehr unterschiedliche Friedensdefinitionen, aber alle bedürfen eines Minimums an Friedenswerten: Beseitigung der militärischen Gewalt und Einhegung von Gewalt. Aus dieser Wertorientierung ergibt sich, dass Friedensforschung keine wertfreie Wissenschaft ist. Sie ist nicht wertneutral gegenüber Krieg und Gewalt. Dies schließt eine objektive Ermittlung von Fakten, Tatbeständen und Sachverhalten nicht aus. Das Bekenntnis zum Frieden soll jedoch anderen nicht aufoktruiert werden. Das wäre mit den Grundprinzipien eines zumindest potentiellen Weltfriedens nicht vereinbar, der nicht mit Gewalt verbreitet oder erzwungen werden kann. Friedenswissenschaft geht nicht von postmoderner Beliebigkeit aus, lehnt aber ebenso einen diktatorischen Friedensanspruch ab, auch wenn der einer wert- und normgebundenen Friedensforschung von Kritikern zuweilen unterstellt wird.
Die Abschaffung von zwischenstaatlichen Kriegen ist eine Utopie, der sich Schlaining schon in der Zeit des Kalten Krieges verschrieben hatte. Wir brauchen positive Utopien zur Verbesserung der Welt und nicht negative Utopien, die den Weltuntergang prophezeien. Inzwischen wurde aus der Utopie insofern Realität, als heute die Länder der EU und der OECD sich in einem nicht kriegerischen Zustand befinden. Heute ist der Gedanke von Krieg als Mittel der Politik weder bei der Bevölkerung noch bei den Politikern der EU vorhanden. Diese positive Entwicklung ändert nichts daran, dass der Krieg ein Chamäleon ist, das auch in anderen Formen als durch zwischenstaatliche Kriege auftreten kann, also in Form von Bürgerkriegen, neuen Kriege und vergessenen Kriegen. Die Kriegsursachenforschung und die zivile Konfliktbearbeitung sind daher weiterhin von großer Bedeutung.
Moderner Pazifismus#
Der moderne Pazifismus mit seiner kategorischen Ablehnung des Krieges entwickelte sich mit den Krisen und Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts. Er wurde religiös, moralisch-weltanschaulich, politisch-wissenschaftlich, aber auch völkerrechtlich ("Legal Pacifism") begründet. Über den Inhalt des Pazifismus gibt es fast so viele Interpretationen wie über den Friedensbegriff.
Beim Meinungsstreit über das pazifistische Wertesystem geht es in der Praxis um die Frage, ob es trotz der Ablehnung des Krieges und abgesehen vom Selbstverteidigungsrecht Ausnahmesituationen geben kann, in welchen militärische Mittel zur Wahrung des Krieges und Durchsetzung des Rechts notfalls angewandt werden dürfen oder sogar müssen. Dies führt zur Diskussion über die humanitäre militärische Intervention; der Angriff der NATO auf den Kosovo gilt als Beispiel für eine erfolgte Intervention und der Völkermord in Ruanda für eine unterlassene Intervention, die aus moralischen Gründen jedoch geboten gewesen wäre.
Die humanitäre Intervention wird mit der Schutzverantwortung für die Bevölkerung anderer Staaten zur Verhinderung schwerster Unrechtshandlungen ("Responsibility to Protect") begründet. Manche Befürworter gehen von einer moralischen Pflicht zur Intervention aus, weshalb Georg Meggle Pazifismus sogar als Verbrechen bezeichnet und Herfried Münkler von der "Freikaufmentalität postheroischer Gesellschaften" spricht. Das Problem einer absoluten Pflicht zur militärischen Intervention ergibt sich jedoch erst dann, wenn man sie nicht an die völkerrechtliche Zustimmung (Sicherheitsrat der UNO) bindet. Davon unabhängig bleiben bei der Argumentation der Befürworter die geschichtlichen Erfahrungen unberücksichtigt. Die Entscheidung hängt immer von der Einschätzung der Lage ab, und da gibt es bekanntlich Fehleinschätzungen, wie der Irak-Krieg gezeigt hat. Hinzu kommt, dass die Großmächte nur dann zu einer militärischen Intervention bereit sind, wenn sie gleichzeitig nationale, wirtschaftliche oder geopolitische Interessen verfolgen können. Alle Erfahrungen zeigen außerdem, dass militärische Interventionen nicht zu einem wirklichen Frieden führen. Am 1. April 1985 veröffentlichte das überparteiliche Personenkomitee Dr. Kreisky zur Unterstützung des Österreichischen Instituts für Friedensforschung in Stadtschlaining folgende Erklärung: "Seit einigen Jahrzehnten sind in Zypern (seit 1972) und auf den Golan-Höhen (seit 1974) insgesamt 20.000 Angehörige des Österreichischen Bundesheeres mit friedenserhaltenden Aufgaben erfolgreich befasst gewesen. Damit leistet Österreich heute einen wichtigen Beitrag zur Entspannung. Das allein genügt aber nicht. Nur wenn es möglich ist, das Problem der Friedenserhaltung mit allen seinen Aspekten zu studieren, die Ursachen von Konflikten zu erforschen und die Idee des Friedens zu verbreiten, kann jene Meinungsbildung entstehen, die in demokratischen Staaten von entscheidender Bedeutung für die Politik ist. Dieser Aufgabe hat sich in letzter Zeit mit besonderer Intensität das Österreichische Friedensforschungsinstitut in der von der Burgenländischen Landesregierung zur Verfügung gestellten und restaurierten Burg Schlaining gewidmet. Es erfüllt seine Aufgaben in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der immerwährenden Neutralität Österreichs."
Die von Bruno Kreisky selbst verfasste Erklärung ist nicht nur eine immer noch gültige Beschreibung der Aufgaben eines Friedensforschungsinstitutes, sondern dokumentiert auch die österreichische Neutralität während des Ost-West-Konfliktes.
Friede und Neutralität#
Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (Maastricht, Amsterdam, Lissabon) hat die österreichische Neutralität eingeschränkt. Daraus entstand eine politische Auseinandersetzung über die Frage, ob Österreich auf seine Neutralität verzichten, der NATO beitreten und das österreichische Bundesheer an militärischen Einsätzen der EU (auch ohne UNO-Mandat) teilnehmen soll. Die im Jahre 2001 von der Schwarz-Blauen-Koalition beschlossene Sicherheitsdoktrin geht in diese Richtung. Die zur Debatte stehende neue Sicherheitsdoktrin soll nicht nur dem politischen Kurswechsel, sondern auch der veränderten sicherheitspolitischen Lage Rechnung tragen. Es geht um die sicherheitspolitische Position Österreichs zur EU und innerhalb der EU.
Die österreichische Neutralitätspolitik ist problemlos mit einer Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU vereinbar, solange sich die EU an ihre friedenspolitischen Gründungsziele und an das Gewaltverbot der UNO hält. Das gilt auch für die Integration der EU und ihre Vertiefung, die im wohlverstandenen Interesse der EU und ihrer Mitglieder liegt. Eine Aufrüstung und eine Militarisierung der EU liegen nicht im gemeinsamen legitimen Interesse der EU und ihrer Mitgliedsstaaten.
Die Zukunft der EU liegt in einer Friedenspolitik, die sich auf den Vorrang ziviler Mitteln stützt und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft (NGOs) sucht. Das Ziel ist eine EU, die nicht militärischer, sondern ziviler Global Player werden will und ihre wirtschaftliche Stärke für Entwicklungshilfe nützt. Das wäre eine Rolle, die mehr Ansehen und Einfluss bringt als das Streben nach und die Ausübung von immer mehr Macht. Das Ziel ist eine EU im Sinne einer Supra-Neutralität.
Ist das eine Utopie auf der Basis von Fakten? Realisten werden dies verneinen. Aber in Umbruchzeiten verläuft die Geschichte nicht immer linear, wie es die Gründung der UNO, der KZSE und die friedliche Beendigung des Ost-West-Konfliktes zeigen.
Beim Richtungswechsel der europäischen Friedensforschung (von der traditionellen zur kritischen Friedensforschung) in den 60er- und 70er-Jahren ging es vor allem um zwei Fragen:
1) Soll die europäische Friedensforschung statusorientiert sein (wie die USA) oder soll ihre Zielsetzung auf Veränderung unter Mobilisierung der Öffentlichkeit gerichtet sein?
2) Soll die Friedensforschung weiter eingeschränkt bleiben (enger Friedensbegriff), oder soll sie auch einen gesellschaftlichen Frieden trotz der Definitionsschwierigkeiten umfassen?
Der Wunsch nach Veränderung und inhaltlicher Erweiterung wurde damals von den meisten Forschern und Forscherinnen, ja sogar vom deutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann vertreten ("Krieg ist nicht der Ernst des Lebens"). Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg und Gewalt hieß es damals, aber das "mehr" wurde nicht definiert. Es war Johan Galtung, der mit seinem Begriff der strukturellen und kulturellen Gewalt wissenschaftliche Kritik und einen politisch/ideologischen Diskurs auslöste. Dies führte in der Folge zu einer Beendigung der theoretischen Reflexion über die Erweiterung des Friedensbegriffes.
Während des Ost-West-Konfliktes standen im Vordergrund der Friedensforschung Kriegsursachen mit den akademischen Disziplinen der internationalen Beziehungen, Politikwissenschaft, Soziologie und Rechtswissenschaften (Völkerrecht). Staatliche Politik im Westen stand unter dem Druck der Friedensbewegung. Durch die Initiative der UNESCO, welche die „Kultur des Friedens“ ausrief, wurde das Arbeitsfeld der Friedensforschung um Kultur, Kultur und Konflikt, Friedenspädagogik erweitert. Die kulturellen Zusammenhänge von Kultur und Konflikt wurden wissenschaftlich analysiert und erörtert. Das Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik im Rahmen der Alpen-Adria Universität Klagenfurt hat die Verbindung von Friedensforschung und Friedenspädagogik zum inhaltlichen Charakteristikum gemacht und einen wichtigen Beitrag zur Friedenskultur geleistet.
Kultur des Friedens#
Die Einbeziehung der Kultur in das Arbeitsfeld der Friedenswissenschaft zeigt an, wohin der Weg geht und wo die Chancen einer umfassenden Friedensforschung liegen. Eine ambitionierte Friedensforschung sollte sich daher der alten und neuen Herausforderung der Friedensursachen stellen und versuchen, die einzelnen Schwerpunkte zu systematisieren und unter dem Dach der Friedensforschung zu integrieren.
Die meisten Menschen fürchten sich nicht mehr vor militärischen Aggressionen, sondern vor Not, Armut, Umweltkatastrophen und empören sich über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die soziale Ungerechtigkeit. Ein Crash kann à la longue nur dann verhindert werden, wenn es gelingt, einen annehmbaren wirtschaftlichen Ausgleich weltweit herbeizuführen, womit aber Konflikte und Opfer in den westlichen Demokratien verbunden wären. Gefragt ist heute eine Wirtschafts-Sozial-Umweltpolitik, die auf einer Kultur des Friedens beruht.
Aufgabe einer an Friedensursachen orientierten Friedensforschung sollte es daher sein, das Thema Ökonomie und Konflikt und damit auch den Kapitalismus in den Mittelpunkt zu rücken und damit die menschlichen Grundbedürfnisse anzusprechen. Es gibt eine Flut von Analysen und Lösungsvorschlägen von ökonomischen Experten zur Zähmung oder Überwindung des herrschenden neoliberalen Kapitalismus. Aber es fehlt noch die trans- und interdisziplinäre Bearbeitung, welche die Einzelforschung der vielen akademischen Disziplinen unter dem Dach der Friedensforschung zu einem Team zusammenführt. Das wäre Friedensforschung auf neuen Wegen zu einer neuen Marktlogik, zu einem anderen Kapitalismus, oder zu einer utopischen universalistischen Sozialdemokratie.
Die Zähmung der Kapitalismen und der Aufbau eines gerechteren Wirtschaftssystems erfordert die Mitwirkung der Politik, in Zusammenarbeit mit einer selbstbewussten Zivilgesellschaft; ansonsten drohen Crash, Chaos und Selbstzerstörung. Die Politik befindet sich jedoch heute in einer Krise, die nicht nur mit der Globalisierung – Einschränkung der realpolitischen Handlungsspielräume – , sondern auch mit dem Glaubwürdigkeitsverlust der Politik selbst zusammenhängt. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik schwindet immer mehr. Um die Glaubwürdigkeit der Politik wieder herzustellen, sind Politiker und Politikerinnen nötig, die über fachliche Eigenschaften und über soziale und moralische Kompetenzen verfügen. Gefordert ist eine politische Ethik, die den politisch/moralischen Anforderungen des 21. Jahrhunderts entspricht. Der Aufbau einer internationalen Anti-Korruptions-Akademie (IACA) in Laxenburg ist ein guter Anfang.
Aber es genügt nicht, sich bloß an das Strafrecht zu halten. Warum kann sich die Politik nicht einem Ehrenkodex verpflichten, der ethische Standards festlegt? Die Moral ist kein Dekor, sondern ein Grundwert unserer Gesellschaft; auch wenn Zyniker darüber nur spotten.
Das Friedenszentrum Burg Schlaining#
Das "österreichische Institut für Friedensforschung" ist 1982 – in der Zeit des Wettrüstens – gegründet worden. Der wichtigste Initiator war Gerald Mader, damals burgenländischer Landesrat, dem es gelang, die Burg Schlaining als Standort zu gewinnen.
Zu den vielen Aktivitäten des Instituts gehören alljährlich stattfindende Sommerakademien und wissenschaftliche Publikationen zu den Themen "Friedens- und Konfliktforschung" und „Friedenserziehung".
Das "Europäische Universitätszentrum für Friedensstudien" bietet einen universitären Lehrgang in Friedensforschung an. An einer Umwandlung dieser Einrichtung in eine Privatuniversität wird derzeit gearbeitet. www.aspr.ac.at
Gerald Mader ist Gründer und Präsident des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) und des European University Center for Peace Studies (EPU), Burg Schlaining