Steht Europa im Spannungsfeld zwischen Ost-West- und Süd-Nord-Wanderung?#
Josef Kohlbacher
Die Globalisierung der Ökonomie ist eng gekoppelt mit einer Globalisierung der Migration. Die in den 1960er Jahren einsetzende Gastarbeiterwanderung war eine Süd-Nord- Wanderung, die aufgrund der Nachfrage der europäischen Volkswirtschaften des Nordens nach Arbeitskräften in Gang gesetzt wurde.
Das ursprüngliche Konzept der Rotation, also der Rückkehr der Gastarbeiter in ihre Heimatländer und deren Austausch durch andere, hat sich als unrealistisch herausgestellt. Die Gastarbeiter blieben, holten ihre Familien nach und bildeten so die Basis für eine wachsende Immigrantenbevölkerung.
Die Süd-Nord-Wanderung ist nach wie vor eine wichtige Komponente der gesamteuropäischen Migration, hat aber ihre Einzugsbereiche ganz wesentlich ausgedehnt. Nach Nordafrika und sogar tief in den schwarzen Kontinent hinein, in den Vorderen Orient, nach Pakistan, Indien und Bangladesh. Diese Länder liegen zwar im Osten, sind aber zugleich Länder der südlichen Hemisphäre. Es sind heute auch nicht mehr Gastarbeiter, sondern Asylwerber und Wirtschaftsflüchtlinge, die auf ein besseres Leben in Europa hoffen.
Die Ost-West-Migration setzte in großem Umfang nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein, die zahlenmäßigen Dimensionen der jährlichen Ost-West-Wanderung nach Deutschland übrschritt in den frühen 1990er Jahren die Millionengrenze, jene nach Österreich die Marke von 100.000 – eine Massenzuwanderung noch nie dagewesenen Ausmaßes. Europa begann sich durch verschärfte Asyl- und Fremdengesetze gegen diesen Ansturm abzuschotten, worauf sich die reguläre Ost-West-Wanderung stark reduzierte.
Beide Wanderungsströme weisen – bei aller Ähnlichkeit – aber auch wesentliche Unterschiede auf. Stammten die Gastarbeiter zumeist aus ländlichen Regionen des Balkans und der Türkei, so kommt der typische Ost- West-Migrant aus dem urbanen Bereich.
Wichtig ist auch der Unterschied hinsichtlich des Bildungsniveaus und der Qualifikationsstruktur: Die Gastarbeiter wiesen in der Regel nur Pflichtschulbildung auf, ihr berufliches Ausbildungsprofil war sehr bescheiden. Polnische, slowakische oder russische Migranten sind in der Regel gut ausgebildet und weisen oft hohe berufliche Qualifikationen auf. Führten bereits die Gastarbeiter ein „Leben in zwei Gesellschaften“ (Elisabeth Lichtenberger), so gilt dies umso mehr für slowakische Tages- oder polnische Wochenpendler. „Arbeiten im Westen, leben im Osten“, lautet ihre Devise.
Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Viel wird davon abhängen, in wie weit es gelingt, die West-Ost-Disparitäten hinsichtlich des Lebensstandards abzubauen. Angesichts geringer Fertilität in ganz Osteuropa dürfte aber mit keiner Massenmigration zu rechnen sein.
Anders bei der Süd-Nord-Wanderung: Rapides Bevölkerungswachstum, ökonomische Unterentwicklung und politische Krisen werden etwa die Migration aus Schwarzafrika in die EU zu einem nur schwer lösbaren Problem werden lassen.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch: