Ist Russland ein europäischer Staat oder eine asiatische Zentralmacht?#
Otmar Höll
Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion 1991 fehlt der russischen Föderation eine für alle Staatsbürger akzeptable Bewertung des Charakters des neuen Staates. Mehr als 25 Millionen Russen befanden sich plötzlich außerhalb der neuen Landesgrenzen der russischen Föderation, die meisten davon in der Ukraine und in Kasachstan.
Von Anfang an sah sich der als „gemeinsamer Staat der Russen und Russinnen“ verstandene Rechtsnachfolgestaat der Sowjetunion mit einer großen Reihe von sozioökonomischen Problemen konfrontiert. Auch heute ist der nichtrussische Bevölkerungsanteil mit 20 % noch immer hoch und dezentralistische Tendenzen der Regionen und Republiken trugen zusätzlich zu einer geringen Stabilität des Staatsganzen bei. Russlands politisches Institutionengefüge ist auch unter seinem jetzigen Präsidenten, Wladimir Putin, eher ein Faktor der internationalen Instabilität geblieben, die Entfaltung rechtsstaatlicher und demokratischer Institution wurde und wird durch die autoritäre Verfassung von 1993 behindert.
Bis 1997 war das Bruttoinlandsprodukt kontinuierlich zurückgegangen, eine Trendumkehr setzte erst nach 1999 ein. Dennoch ist das Leistungsvolumen der russischen Wirtschaft vergleichsweise gering, insbesondere das Pro-Kopf-Einkommen liegt weit hinter den führenden OECD-Mitgliedstaaten zurück. Zudem ist ein großer Teil der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte seit 1999 auf die hohen Weltmarktpreise für Energie zurückzuführen und die Einkommen sind sehr ungleich zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten verteilt. Tatsächlich stellt Russland als Land mit den größten Ölreserven außerhalb der OPEC die wichtigste auch zukünftige Quelle für eine wirtschaftliche und politische Verbesserung im Innenverhältnis als auch nach außen dar.
Die meisten anderen Faktoren für einen möglichen politischen Bedeutungsgewinn,wie etwa die Entwicklung des Humankapitals, entwickelten sich auf Grund eines dramatischen Rückgangs der Bevölkerung negativ. Das militärische Potenzial Russlands, in der sowjetischen Zeit die faktische Grundlage des Supermachtsanspruchs des Staates, ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ebenfalls dramatisch zurückgegangen. Auf Grund der beschränkten finanziellen Möglichkeiten hat sich Russland nahezu vollständig darauf beschränkt, die nukleare Schlagkraft im Wesentlichen zu erhalten, und seine militärischen Kapazitäten kaum modernisiert.
Dementsprechend langsam geht auch die politische und staatliche institutionelle Konsolidierung voran, der demographische Rückgang und eine verschleppte Militärreform sind wichtige Faktoren eines eingeschränkten außen- und sicherheitspolitischen Spielraums des heutigen Russlands. Dies alles hat dazu geführt, dass der außenpolitische Einfluss Russlands in der engeren Nachbarschaft zwar weiterhin besteht, eine darüber hinausgehende Position als globaler Akteur ist nicht mehr gegeben.
Russland konnte seine Beziehungen gegenüber der Europäischen Union meist stabiler gestalten als jene zu den USA. Diese haben sich aber nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 deutlich verbessert. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Verflechtung mit der europäischen Union strebt Russland eine vertragsrechtlich unterstützte Annäherung gegenüber der Union an, versteht sich aber selbst als Zentrum und Motor eines eigenen Integrationsraumes, der weitgehend auf den Bereich der ehemaligen Mitgliedstaaten der UdSSR beschränkt ist. Aus diesem Umstand leitet Russland den Anspruch ab, gleichberechtigter strategischer Partner der Europäischen Union, der USA und – zunehmend – auch Chinas zu sein. Das Verhältnis gegenüber China ist aber dadurch belastet, dass es China in Zukunft gelingen könnte, Russland im wirtschaftlichen Bereich deutlich zu überholen und zu einer zumindest regionalen Hegemonialmacht aufzusteigen.
Eine allgemeine Einschätzung der Bedeutung Russlands muss darauf bedacht nehmen, dass Russland auf Grund seiner Größe, seines Humankapitals und seiner Ressourcenausstattung sowie seiner engen Verflechtung mit dem gesamten OECD-Raum auch in Zukunft von großer Bedeutung sein wird.
Russland benötigt die OECD und ihre Mitgliedstaaten dringend, um die notwendigen Modernisierungsschritte setzen zu können, die OECD-Mitgliedstaaten wiederum sind auch in Hinkunft auf innerstaatliche Stabilität Russlands und v. a. auch auf den großen Ressourcenreichtum Russlands (inbesondere seine energetischen Ressourcen) angewiesen. Es wird nicht zuletzt an den Fähigkeiten russischer Politik liegen, die innerstaatliche Entwicklung voranzutreiben, um als ein stabiles Gemeinwesen jene Fähigkeiten auszubilden, deren es bedarf, um ein gleichrangiger Partner der Europäischen Union, der USA und in Zukunft auch von Staaten wie China und Indien sein zu können.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch: