Russland - Europas schwieriges Gegenstück#
Russland präsentierte sich im Lauf der Geschichte immer wieder als Alternativmodell - und hatte damit auch Erfolg.
Von Gerhard Lechner
Wiener Zeitung vom 29./30.01.2022
Russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine, monatelanges
Säbelrasseln, Ängste, dass die europäische Friedensutopie, in der man
es sich spätestens seit 1991 wohlig eingerichtet hat, jäh beendet
werden könnte: Gut 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, der
damals Optimisten als ein Auftakt zu einer Art ewigen Frieden erschien,
herrscht in Europa wieder Furcht vor. Es ist eine altbekannte Furcht: die
Angst vor Russland, vor der Großmacht im unwirtlichen Osten, dem
Riesenreich zwischen Ostsee und Pazifik. Vor jenem Staat, der als
UdSSR über Jahrzehnte die Hälfte Europas beherrschte - neben der
transatlantischen Supermacht USA.
Doch während Letztere gewissermaßen Fleisch vom Fleisch des
liberalen Europa war, eine Macht, die als "Neue Welt" den Anspruch
erhob, die Freiheitsversprechen des alten Kontinents zu erfüllen,
gestaltete sich das Verhältnis Europas zu Moskau oder St. Petersburg
stets komplizierter. Schon geografisch umfasst Russland große Teile
Europas, dehnt sich aber auch weit nach Asien aus. Kulturell fühlt man
sich Europa verwandt, was auch daran ablesbar ist, dass die Moskauer
Eliten trotz aller Konfliktrhetorik ihre Urlaube am liebsten in Europa
verbringen, ihre Kinder in Europa studieren lassen und sich generell an
der europäischen - und nicht etwa der chinesischen -
Konsumgesellschaft orientieren.
Nicht nur Russlandkritiker verweisen aber auch immer wieder auf tief
sitzende Unterschiede: Etwa auf die Kontinuität autoritären Regierens in
Russland, die historisch erklärt wird: Die Moskauer Großfürsten wären
lange von Europa abgeschnitten und den Mongolen tributpflichtig
gewesen. Von dort, heißt es, hätten sie auch die Herrschaftstechniken
übernommen.
Verwestlichung mit dem Hammer
Die ebenso schwierige wie innige Beziehung Europas zu Russland hat
tatsächlich tiefe Wurzeln. Man war über Jahrhunderte vereint durch das
christliche Bekenntnis und sich deshalb nicht völlig fremd, aber auch
getrennt durch den konfessionellen und kulturellen Graben zwischen
lateinischer und griechisch-orthodoxer Welt. Russland bezog sich
immer wieder auf Europa, erklärte Moskau, nachdem Konstantinopel
den Türken in die Hände gefallen war, zum "Dritten Rom". Die
moskowitischen Zaren erhoben sich und ihren Staat damit zu einem
Modell - auch für Europa. Im Gegensatz zum Westen, so meinte man,
verfüge man über den rechten Glauben, der den Weg zum ewigen
Seelenheil weise. Russland wurde zu einer Art alternativem Europa.
Spätestens im Zeitalter der beginnenden Aufklärung konnte man
jedoch auch in Moskau nicht übersehen, dass sich das Zarenreich
gegenüber dem zivilisiert-barocken Kontinent in einem
Entwicklungsrückstand befand. Es war Peter der Große, der in einem
Gewaltakt Russland der westlichen Moderne zu öffnen suchte. Mithilfe
der überkommenen autoritären Herrschaftsmethoden setzte man eine
Art Imitation des Westens in Gang. Mit St. Petersburg ist die
Verwestlichung Russlands Stein geworden: Die neue Hauptstadt wurde
in kürzester Zeit aus dem sumpfigen Boden nah der Ostsee gestampft.
Russland wurde eine europäische Großmacht - zumindest äußerlich.
Militärische Siege sorgten dafür, dass das früher entfernt gelegene
Land auch machtpolitisch aus Europa nicht mehr wegzudenken war.
"Gendarm Europas"
Gegenmodell blieb Russland dennoch - besonders, als sich in Europa
nach dem aufgeklärten Absolutismus kurzzeitig die Prinzipien der
Französischen Revolution durchsetzten. Für das multinationale,
autoritär regierte Russland waren die Prinzipien von Gleichheit, Freiheit
und Brüderlichkeit purer Sprengstoff. Der Blutrausch, in dem die
Revolution von Paris endete, tat sein Übriges: Nach der Niederringung
Napoleons galt der russische Zar als "Gendarm Europas", der über die
Einhaltung der Ordnung des Wiener Kongresses wachte. Und das auch
im Inneren, wo man immer wieder mit Aufständischen zu tun hatte, die
von europäischen Ideen "infiziert" waren. Der russische Zar war für
liberale Westeuropäer die Personifikation von Rückständigkeit und
Reaktion.
Mit der Oktoberrevolution änderte sich das plötzlich. Mit einem Schlag
verkündete Russland, nicht länger von gestern, sondern im Gegenteil
progressiv und fortschrittlich zu sein. Für viele links geprägte Europäer
war das so lange verpönte Land plötzlich ein lockendes Gegenmodell
zum alten Europa, das im Ersten Weltkrieg abgewirtschaftet hatte.
Russland war jetzt nicht länger Hort der Reaktion, sondern ein
Zukunftsversprechen: Der erste sozialistische Staat erhob - ähnlich den
USA - den Anspruch, die Versprechen Europas nach einem
funktionierenden Utopia einzulösen.
Plötzlich "fortschrittlich"
Die zahllosen Verbrechen der Kommunisten, ihre brutalen Methoden,
die die Repression des Zaren weit übertrafen, wurden dabei bei vielen
"Gläubigen" im Westen geflissentlich übersehen. Selbst Massenmorde
wie den Holodomor in der Sowjet-Ukraine wollten die meisten
westlichen Beobachter nicht zur Kenntnis nehmen - hätten sie doch das
Bild, das man sich zurechtgelegt hatte, zerstört. Russland verkörperte
die Zukunft, das bessere, strahlende, fortschrittliche Europa.
Bekanntlich hielt diese Potemkin’sche Illusion nicht ewig. Lange bevor
die UdSSR zerbrach, war auch in Moskau der Kommunismus mausetot.
Das neue Russland schickte sich in den 1990er Jahren an, erneut
Europa zu imitieren. Der Wunsch, endlich wieder dazuzugehören, war
weit verbreitet. Das Scheitern der Reformpolitik unter Ex-Präsident
Boris Jelzin verdüsterte das Bild aber rasch. Dass sich US-Präsident Bill
Clinton in den 1990er Jahren auch aus innenpolitischen Gründen (es
ging um die Stimmen osteuropäischer Einwanderer) für die Nato-
Osterweiterung entschied, wurde in Moskau zwar hingenommen - aber
mit deutlich vernehmbarem Groll, ebenso wie das Bombardement auf
Belgrad 1999.
Putin ideologisch flexibel
Mittlerweile tritt Russland gegenüber Europa wieder als Gegen- und
Alternativmodell auf. Ideologisch zeigt man sich unter Präsident
Wladimir Putin dabei höchst flexibel - erlaubt ist, was Russland nützt:
So zeigt Moskau keine Berührungsängste zu Rechtsaußenparteien in
Europa. Frankreichs Marine Le Pen pflegt ebenso gute Kontakte zum
Kreml wie die deutsche AfD oder die heimische FPÖ. Andererseits nützt
Russland auch die immer noch guten Kontakte zu ex-kommunistischen
Linksparteien und unterstützt das Regime im sozialistischen
Venezuela.
Dass sich in Europas kulturellen und politischen Eliten ein linksliberaler
Konformismus ausbreitete, erwies sich für Russlands Präsident
Wladimir Putin als Glücksfall: Mit seiner Kritik an allzu liberaler
Migrations- und Genderpolitik konnte er bei europäischen
Konservativen punkten - noch bevor Ungarn und Polen innerhalb
Europas zu Gegenmodellen wurden. Der tradierte russische
Konservatismus erwies sich plötzlich nicht als Klotz am Bein, sondern
als ein mögliches Atout.
"Denken in Einflusssphären"
Mittlerweile verfügt der Westen nicht mehr über die Kraft, die von ihm
geprägte Weltordnung aufrechtzuerhalten. Der Aufstieg Chinas
absorbiert die Kräfte der USA, die gezwungen sind, sich dem
pazifischen Raum zuzuwenden. Russland gewinnt wieder an
Selbstbewusstsein und lässt die Muskeln spielen.
In Europa wird damit die Frage wieder neu aufgeworfen: Wie umgehen
mit Russland, mit diesem Land, das viele schreckt, einige aber auch
romantisch anzieht? Die Fronten gehen dabei quer durch die politischen
Lager. Konservative vom alten Schlag treten zusammen mit
linksliberalen Anhängern einer offensiven Menschenrechtspolitik für
eine Politik der Abschreckung gegenüber Moskau ein. Sie verweisen
auf das Recht der an Russland grenzenden osteuropäischen Staaten,
ihr Schicksal selbst zu bestimmen - ohne Vormund im Kreml. Und sie
werfen Russland vor, in Großmachtkategorien des 19. Jahrhunderts
und in Einflusssphären zu denken. Dies sei im 21. Jahrhundert längst
überwunden.
Renaissance der Geopolitik?
Ein Befund, dem auf der Linken wie der Rechten widersprochen wird:
Das Denken in Großmachtkategorien, heißt es, sei nicht verschwunden
(und, wie Rechte meinen, auch nicht aus der Welt zu bannen). Ganz im
Gegenteil finde eine Renaissance geopolitischen Denkens statt. Mit der
Ausdehnung seiner Einflusssphäre betreibe der Westen selbst
Machtpolitik und dürfe sich daher nicht über eine Gegenreaktion
wundern. Die Politik der Stärke, heißt es, habe erst selbst jene Probleme
hervorgerufen, für die sie sich als Lösung anbietet.
Ob das stimmt, bleibt Gegenstand der Spekulation. Wog der Schmerz nach dem Verlust des Imperiums so schwer, dass sich der Revanchismus in Russlands Eliten auch dann herausgebildet hätte, wenn sich der Westen nicht gen Osten ausgedehnt hätte? Oder hätte eine stärkere Rücksichtnahme auf russische Empfindlichkeiten, aber auch geopolitische Interessen des Kremls den neuen Kalten Krieg abgewendet, der jetzt unausweichlich scheint? Wissen wird man es nie. Sicher ist aber eines: Russland ist heute wieder das, was es so oft in seiner Geschichte war - ein Gegenmodell zu Europa.
- Siehe auch Diskussionsforum Beiträge 6 und 7