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Die schwedische Kehrtwende#

Die Schweden waren bislang für ihre „Politik der offenen Arme“ bekannt. Als im vergangenen Jahr 163.000 Flüchtlinge um Asyl baten, zog die Regierung aber unter Tränen die Notbremse.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 27. Oktober 2016).

Von

Juliane Fischer/Öresund


Asylwerber
Foto: AFP/Bernd Wüsteneck

Die Grenze schließen? – Vor eineinhalb Jahren fühlten sich die meisten schwedischen Politiker beleidigt, dass sie so etwas überhaupt gefragt wurden. Die humanitäre Haltung hat in Schweden Tradition und die großzügige Gewährung von Asyl ist Teil des liberalen Selbstverständnisses in Skandinavien. „Das schwedische Volk beweist nach wie vor eine große Solidarität in schwerer Zeit“, sagte vor einem Jahr Stefan Löfven, der Ministerpräsident. An seiner Seite stand an jenem Dienstagnachmittag Mitte November 2015 seine Stellvertreterin Åsa Romson, die Chefin der schwedischen Grünen. Sie konnte die Tränen nicht unterdrücken, während sie von schrecklichen Entscheidungen sprach, in einer Krise für die Menschen, die in Europa Schutz suchen. Die Situation sei unhaltbar geworden, sagte sie. „Für die Menschen, die hier Asyl wollen. Für das Personal. Für alle, die sich um wichtige Funktionen der Gesellschaft sorgen.“

Behörden und Helfern ging die Luft aus#

Unterkunft, Schule, Gesundheitsversorgung in jeder Woche für 10.000 Menschen mehr. Den Behörden und Helfern ging die Luft aus. Die Asylanträge stiegen seit 2012 kontinuierlich. 2014 nahm das Land rund 81.000 Asylwerber auf, im Vorjahr waren es doppelt so viele. Damit ist das kleine Land – es hat mit circa 9,8 Millionen Einwohnern nur 1 Million mehr als Österreich – an die Grenzen seiner Einwanderungspolitik gestoßen. Die schwedische Regierung betont aber auch das Unvermögen der gemeinsamen EU-Asylpolitik. Immerhin entfallen mehr als zwölf Prozent aller in der EU gestellten Anträge auf Schweden. Nur in Ungarn wurden im Verhältnis zur Einwohnerzahl noch mehr Anträge gestellt. Den dritten Platz nimmt Österreich ein.

Die schwedische Regierung grenzte den Familiennachzug ein, befristete das Bleiberecht, führte als einziges Land zusätzlich zu den Grenzkontrollen externe ID-Kontrollen in Dänemark ein. Wie kann man diese Maßnahmen, die einen extremen Paradigmenwechsel darstellen, erklären? Welche politischen Folgen könnten sie mit sich bringen? Zwischen September und November vergangenen Jahres war Schweden mit 100.000 Asylanträgen konfrontiert. Christian Fernández, Politologe an der Hochschule Malmö, geht in seinem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit schon zurück zum Sommer 2014. Er erinnert an eine Rede des damaligen Ministerpräsidenten Frederik Reinfeldt, der einen Monat vor den Parlamentswahlen appellierte, das „Herz zu öffnen“ und die ökonomischen Lasten der Flüchtlingsaufnahme zu akzeptieren.

Laut Fernández trieb diese Rede migrationsskeptische Wähler der Mitte-Rechts- Koalition zu den Einwanderungsgegnern der Schwedendemokraten (SD). Dass Reinfeldt das stillschweigende Tabu gebrochen hatte und über die Kosten der Immigration sprach, hätte den fremdenfeindlichen Diskurs der SD befeuert. Bei den Wahlen kam sie von 5,7 auf 12,9 Prozent. Mittlerweile liegt sie in Umfragen bei 20 Prozent.

Mehr Kontroversen, andere Sichtweisen#

„Die grundlegende Vision (...) ist, dass Einwanderung hilft, den schwedischen Arbeitsmarkt und die Wirtschaft zu revitalisieren. Einwanderer bringen neues Wissen und neue Erfahrungen aus ihren Herkunftsländern mit“, hieß es damals von der Regierung. Aufnahmebereitschaft und Empathie bestimmten die Einstellung von Medien und Bevölkerung. Dieses Bild hat sich gedreht. Der Fokus auf die Probleme löste eine konstruktive Debatte ab. Andererseits ist das Spektrum an politischen Meinungen über Zuwanderung und Asylpolitik vielfältiger und weniger einvernehmlich geworden.

Spannend ist jetzt: Bereitet die abrupte Kehrtwende den Weg für eine geerdete Diskussion, die der liberalen Tradition treu bleibt und Schwierigkeiten anspricht? Oder schwächt sie das Vertrauen der schwedischen Wähler in die etablierten Parteien weiter? Gesetzliche Lockerungen sind nicht in Sicht, schließlich ist 2018 wieder ein Wahljahr, und kein Land, abgesehen von Ungarn – das nicht in den Verdacht gerät, Integrationsvorbild zu werden – hat so viele Flüchtlinge in die Gesellschaft einzubinden wie Schweden. Bewältigt es nun nach dem „größten Flüchtlingseinsatz in der modernen Geschichte“, wie Löfven es nennt, auch die Integration, so bleibt Schweden trotz der strikten Maßnahmen ein humanistisches Vorbildland.

DIE FURCHE, Donnerstag, 27. Oktober 2016

Weiterführendes#