Warum tun sich in den Großstädten immer mehr soziale Klüfte auf?#
Josef Kohlbacher
Gewalttätige Jugendliche, brennende Autos und zerstörte Infrastruktureinrichtungen – Medienberichte aus den Vororten französischer Städte haben die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Sie waren sichtbarer Ausdruck für ein Phänomen, das weltweit in allen größeren Städten in Erscheinung tritt, aber dem vor allem in Europa bislang nur wenig Beachtung geschenkt wurde: Segregation. Darunter ist die Entmischung sozialer und ethnischer Gruppen zu verstehen, die zu einer räumlichen Trennung der Wohngebiete führt.
In den USA gehört Segregation seit dem 19. Jahrhundert zur Normalität urbanen Wohnens. Nahezu jede größere Stadt besitzt dort „ihr“ Schwarzenghetto, ein „Little Italy“ oder ein polnisches Wohnviertel.
Tatsache ist, dass die Gegebenheiten auf dem Wohnungsmarkt und das Einkommen in einem hohen Ausmaß bestimmen, wo in der Stadt sich jemand ansiedelt. Segregation ist primär eine räumliche Auswirkung sozialer Ungleichheit – und die sozialen Klüfte in den europäischen Städten vertiefen sich zusehends.
Zwar war das Konzept des „melting pot“ auch in der Blütezeit der amerikanischen Wirtschaft eine Mär, denn weder haben sich alle Zuwanderergruppen kulturell völlig assimiliert, noch wurde ihnen im Wirtschafts und Beschäftigungssystem jemals Chancengleichheit zugestanden. Der sagenhafte Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär blieb ganz wenigen vorbehalten. Dass aber in Europa solch tief greifende soziale und ethnische Konflikte auftreten, wie man sie eben aus US-amerikanischen Städten gewohnt ist, ist eine relativ neue Entwicklung.
Hierzu tragen mehrere Faktoren bei: die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, das Auseinanderklaffen der Einkommensschere, die stärkere Zuwanderung und der Abbau vor dem relativ dichter sozialer Netze in den Wohlfahrtsstaaten Europas. In den Großstädten, die stets in der Geschichte Brennpunkte sozialer Entwicklungen waren, treten diese Negativphänomene besonders deutlich zutage.
Beschäftigungsabbau in vielen Branchen und Arbeitslosigkeit führen notwendigerweise zu ökonomischer und sozialer Schlechterstellung. Ältere Arbeitslose, Frauen und Jugendliche stellen per se „Problemgruppen“ auf dem Arbeitsmarkt dar. Die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen hat sich nach Jahren einer gewissen Annäherung im Verlauf der letzten Dekaden nachweislich vertieft. Dazu tritt das Problem der Zuwanderung. Wer arbeitslos und noch dazu „ausländischer“ Abstammung ist, der findet noch schwerer eine Lehrstelle als andere. Dies gilt für algerischstämmige Jugendliche in Frankreich ebenso wie für junge Türken in Deutschland oder Österreich.
Zudem haben viele europäische Staaten die Geisteshaltung des Neoliberalismus als eine Grundlage ihrer Wirtschaftspolitik internalisiert – und dies wirkt sich auch auf die Sozialpolitik aus. Die politischen Entscheidungsträger sind der Meinung, man könne sich ein dichtes soziales Netz nicht mehr „leisten“. Wer hier am falschen Platz spart, der wird in Zukunft aber die negativen Auswirkungen des Sozialabbaus zu spüren bekommen.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch: