Wie tolerant ist Europa gegenüber Einwanderern?#
Josef Kohlbacher
Die Bevölkerung Europas wird sprachlich, ethnisch und konfessionell zwar immer vielfältiger, „mit der Toleranz gegenüber anderen Kulturen ist es in Europa aber nichtweit her“ – zu diesem Resultat gelangte die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC).
Nun ist dieses Resultat zwar nicht positiv zu bewerten, deutet aber auch nicht zwingend auf einen drohenden „Kampf der Kulturen“ hin. Ablehnende Einstellungen manifestieren sich, wie Sozialwissenschafter bereits oftmals nachgewiesen haben, nicht mit Notwendigkeit in diskriminierendem Verhalten.
Die Ergebnisse unterstrichen allerdings auch, dass zahlreiche Europäer viel weniger tolerant gegenüber den „Anderen“, im konkreten Fall Migranten, sind, als viele vorgeben.
Auch in der Studie des EUMC zeigt sich ein Unterschied zwischen Fern- und Nahbild, denn 79 % gaben an, im persönlichen Umgang mit Migranten keine Probleme zu haben. Zuwanderer werden in unterschiedlichen sozialen Kontexten in divergierendem Ausmaß akzeptiert. Formalisierte und eher distanzierte Kontakte in der Arbeitswelt klappen in der Regel weitgehend reibungslos. Solange Migranten beruflich also jene Nischen ausfüllen, die der einheimische Arbeitsmarkt ihnen zuweist – nämlich auf untergeordneten Ebenen der Beschäftigungshierarchie – werden sie stillschweigend akzeptiert.
Weniger friktionsfrei sind die Beziehungen im Wohnumfeld sowie im Freizeitbereich. Dabei besteht ein starker Zusammenhang mit den Herkunftsländern: Während Italiener, Spanier und Kroaten kaum auf Ablehnung stoßen, fällt die Distanzierung gegenüber Polen, Serben und Arabern deutlich stärker aus. Die vehementeste Ablehnung wird türkischen oder nigerianischen Nachbarn entgegengebracht.
Toleranz und Intoleranz sind also keine einheitliche Kategorie. Toleranz hat auch viel mit dem Bildungsniveau und dem Lebensalter zu tun. Ältere Menschen sind in der Regel, aber natürlich nicht immer, in ihren Einstellungen gegenüber Immigranten ablehnender. Fremdenfeindliche Ressentiments sind auch unter Personen mit Pflichtschulabschlüssen weit häufiger anzutreffen als unter Universitätsabsolventen.
Die ethnisch und kulturell pluralistische Gesellschaft ist in Europa längst Realität. In Deutschland etwa ist jede fünfte Ehe bereits binational, d. h. zwischen Partnern unterschiedlicher nationaler Herkunft geschlossen. Von den deutschen Schülerinnen und Schülern weist bereits mehr als ein Fünftel einen Migrationshintergrund auf, in den Großstädten sind die Anteile noch viel höher.
Diese multikulturelle Realität rückgängig machen zu wollen ist daher illusionär. Toleranz kann aber auch keine Einbahnstraße sein. Von Migranten ist ebenso einzufordern, die Wertvorstellungen der lokalen Bevölkerung sowie die Rechtsnormen des Aufnahmelandes zu akzeptieren und sich daran zu orientieren. In ganz Europa dringend vonnöten ist auf beiden Seiten eine Kultur des gegenseitigen Respekts, die andere Lebensweisen anerkennt und nicht nur duldet.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch: