Wer hat die EU erfunden?#
Otmar Höll
Der Versuch, Europa zu vereinigen, wurde nicht erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gleichsam neu „erfunden“, sondern derartige Projekte existierten schon im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Der europäische Integrationsprozess der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der in den 1990er Jahren über Zwischenstufen schließlich zur Europäischen Union geführt hat, begann tatsächlich bereits in den frühen 1950er Jahren, v. a. als Projekt der Versöhnung der jahrhundertelang erbitterten Gegner, ja Kriegsfeinde, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland.
Es war der französische Außenminister Robert Schuman (1948–1952), der gemeinsam mit seinem engsten Berater Jean Monnet eine auf funktionalistischen Vorstellungen basierende Initiative zur Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) ergriff, die eine Kontrolle der deutschen Schwerindustrie und damit die friedliche Einbindung Deutschlands in Westeuropa sicherstellen sollte.
Im Jahr 1952 wurde die EGKS als gemeinsames Projekt von sechs Staaten (Frankreich, BRD, Italien und die Beneluxländer) Realität und fünf Jahre später durch den Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sowie den Euratom- Vertrag in Rom ergänzt. Aus den ursprünglich drei getrennten Organisationen wurden 1967 die europäischen Gemeinschaften und damit auch eine institutionelle Vereinfachung erreicht.
Nach dem Jahrzehnt der Stagnation in den 1970er Jahren mussten sich die europäischen Gemeinschaften einer wachsenden globalen Herausforderung v. a. seitens der USA, aber auch Japans stellen, die nach der Überwindung der Weltwirtschaftskrise (1973/74–1981) auf die dritte industrielle (i. e. elektronische) Revolution zwar verspätet, aber dennoch in den 1980er Jahren aktiv reagieren mussten. Die damit wieder entdeckte Integrativ- und Erweiterungsdynamik der europäischen Gemeinschaft führte über die Vertragsrevision durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) schließlich zum 1993 in Kraft getretenen Vertrag über die Europäische Union (dem sog. Maastricht- Vertrag), der zur bekannten Drei-Säulen- Struktur der EuropäischenUnion führte.
Die erste Säule, welche die integrativen und supranationalen Agenden der Europäischen Union betrifft, umfasst die Bereiche der „alten“ europäischen Gemeinschaft (EGKS, EWG und Euratom), die zweite Säule umfasst die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die dritte Säule die Zusammenarbeit in Justiz- und inneren Angelegenheiten. Die zweite und die dritte Säule sind zwischenstaatlich und daher vom Konsens der Mitglieder getragen, nur die erste Säule ist integrativ und supranational.
Aus der Sechsergemeinschaft wurde im Jahr 2004 ein Staatenverbund, der nun aus 25 Mitgliedstaaten mit einer Bevölkerungszahl vonmehr als 450 Millionen und einem Territorium, das sich über knapp 4 Millionen km² erstreckt, besteht. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Mitgliedstaaten zusammen beträgt rund ein Viertel des weltweiten Bruttosozialprodukts, der Welthandelsanteil liegt bei rund einem Fünftel. Damit ist die Europäische Union gegenwärtig global der größte Wirtschaftsraum.
Dennoch kann man von dieser politischen Einheit „sui generis“ (eigener Art) zwar von einem wirtschaftlichen Riesen, aber von einem politischen (und militärischen) Zwerg sprechen. Die Stärken der Europäischen Union liegen sicher in ihrer wirtschaftlichen Größe und auch in den Möglichkeiten ihrer zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung, dennoch verfügt die EU weiterhin über keine konsistente gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und v. a. über keine gemeinsame Verteidigung. Damit ist sie auch (noch) nicht im Stande, den hohen Erwartungen der Staatengemeinschaft hinsichtlich ihrer internationalen Problemlösungskapazität (Konfliktbeilegung, Friedensschaffung, glaubwürdige Mediation in Konflikten u. ä.) gerecht zu werden.
Das interne Problem der EU besteht nicht nur in einem oft und vielfältig diskutierten demokratischen Defizit, sondern nicht zuletzt auch darin, dass es nicht nachhaltig gelungen ist, die europäischen Bürger von der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der institutionalisierten und auf Vertiefung und Erweiterung der Integration beruhenden Dynamik zu überzeugen.
Nach dem vorläufigen Scheitern des Verfassungsvertrages durch die ablehnenden Referenden in Frankreich und in den Niederlanden ist noch nicht absehbar, wie die weitere Entwicklung der Union voranschreiten wird. Diese wird sich aller Voraussicht nach verzögern.
Es liegt an den europäischen Organen und ihren Vertretern wie auch an den politischen Eliten der Mitgliedstaaten, ihren Bürgern die Bedeutung der Weiterführung des Integrationsprozesses klar zu machen, die nicht so sehr auf einer inneren institutionellen Logik beruht, sondern vor allem auf den Herausforderungen der sich dynamisch entwickelnden internationalen Umwelt.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch: