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"Wien ist einer der hellen Orte" #

Die US-Soziologin Margarethe Kusenbach spricht darüber, wie Graffiti und Straßenkunst urbane Räume verändern.#


Von der Wiener Zeitung (8. Jänner 2023) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Dagmar Weidinger


"Wiener Zeitung": Frau Kusenbach, wie wird man Graffiti-Forscherin?

Margarthe Kusenbach: Ich habe mich schon immer für Kunst und Städte interessiert. Das Studium von Graffiti und Streetart ist eine Möglichkeit, diese beiden Leidenschaften in meiner Arbeit zu verbinden. Als Stadtsoziologin ist es mein Schwerpunkt, soziale Prozesse und Probleme in öffentlichen Räumen und städtischen Nachbarschaften zu untersuchen. Graffiti und Streetart sind kreative Strategien des "Place-Making", die "von unten" kommen, also von den Bewohnern selbst, und sie passieren außerhalb von Märkten und Institutionen. Graffiti-Writer und Straßenkünstler "sprechen" mit der Öffentlichkeit und miteinander über Themen, die ihnen wichtig sind oder in der Luft liegen.

Sie haben im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums fast ein Jahr lang die Wiener Streetart-Szene studiert. Worüber "spricht" man denn in Wien besonders gern?

Die Wiener Szene ist politisch, wobei sie definitiv nach links tendiert - abgesehen von Fußballfanclubs, die bestimmte Wände für Fan-Graffitis beanspruchen. Es gibt eine Reihe von Gruppen und Einzelpersonen, die feministische, antifaschistische, antirassistische und antikapitalistische Botschaften vermitteln. Während Corona, besonders in der Anfangsphase 2020, gab es Wandmalereien entlang des Donaukanals, die die Menschen ermutigten, sich und andere zu schützen. Zum Beispiel malte Deadbeat Hero, alias Rob Perez, dort einen der für ihn typischen Austrianauten. Der roboterartige Astronaut hält einen Seifenspender in der Hand, darüber befindet sich die Aufforderung "Wash Your Hands".

Bleiben wir bei Corona: In anderen europäischen Städten gab es auch Maßnahmen-kritische Streetart. Der spanische Künstler "Sentydo" etwa wies in seinen Bildern in Oviedo 2021 auf die durch die Masken "verloren gegangenen Küsse" hin. Ist man in Wien "angepasster"?

Die Szenen in Berlin, Paris oder London sind vielfältiger, fühlen sich aber auch harscher an. Es gibt mehr Konflikte. Wien hinkt anderen europäischen Großstädten oft etwas hinterher, wenn es darum geht, Trends aufzugreifen. Das ist allerdings positiv zu sehen. So können lokale Akteure beobachten, ob eine neue Idee tatsächlich den Künstlern und der Gemeinschaft zugutekommt oder eher negative Auswirkungen hat.

Was meinen Sie mit negativen Auswirkungen?

Urbane Räume sind immer dynamisch, aber aus Sicht der Gemeinschaft sind einige Veränderungen besser als andere. Oft zeigt sich das jedoch nicht sofort. Es gibt immer auch Akteure, die versuchen, aus öffentlichen Gütern oder freien Ressourcen Profit zu schlagen - das passiert zum Beispiel dann, wenn Wandmalereien für die Gentrifizierung genutzt werden.

Gentrifizierung meint die Aufwertung eines Stadtteils zumeist durch finanzkräftige Immobilienspekulanten auf Kosten der angestammten Bevölkerung. Altbauten werden saniert und teuer neu vermietet. Andere, häufig kaufkräftigere Schichten ziehen ein. In Wien gab es diese Entwicklung etwa rund um den Yppenplatz in Ottakring. In welchem Ausmaß wird Streetart gezielt eingesetzt, um Gentrifizierung voranzutreiben?

In den letzten 10 bis 20 Jahren hat sich die Wahrnehmung von öffentlicher Kunst stark verändert, vor allem in dem Sinn, dass sie heute als "chic" gilt und als Gewinn für einen Stadtteil wahrgenommen wird. In vielen Fällen ist jedoch nicht klar, ob Streetart Ursache oder Auswirkung der Aufwertung ist - oder vielleicht beides? In extremen Fällen, wie etwa im ehemaligen Industrieviertel Wynwood in Miami, besteht allerdings kein Zweifel, dass Streetart strategisch eingesetzt wird, um Luxus-Eigentumswohnungen zu verkaufen. Dies führt zur Verdrängung von Menschen in den angrenzenden Gebieten. Dennoch ist interessant, dass einige der Auftragsarbeiten in Wynwood äußerst sozialkritisch sind!

Wie sieht es in Bezug auf die Gentrifizierung durch Streetart in Wien aus?

In Wien, mit seiner "roten" Geschichte und der einzigartigen öffentlichen Wohnbaustruktur, glaube ich nicht, dass Graffiti oder Streetart mit Gentrifizierung, steigenden Mieten, Verdrängung oder dergleichen in Verbindung gebracht werden können. Alle lokalen Experten, mit denen ich gesprochen habe, stimmen dem zu. In der Wiener Szene gibt es viele Akteure mit Wurzeln in der Graffiti-Kunst, die sich aktiv gegen Übernahmebemühungen von Außenstehenden und marktorientierten Kräften wehren. Sie versuchen, die Szene in den Händen derjenigen zu halten, die tatsächlich schreiben oder Wände bemalen.

Wie würden Sie die Wiener Szene insgesamt charakterisieren?

Die Wiener Graffiti- und Streetart-Szene ist sehr energiegeladen, besonders in den wärmeren Monaten. Sie ist vielfältig in dem Sinne, dass es viele verschiedene Künstler - einschließlich einer wachsenden Anzahl von Frauen - Genres und Arbeitsstilen gibt. Die räumlichen Zentren der Szene sind der halblegale Donaukanal und die legalen Mauern der Wienerwand, ein beispielhaftes städtisches Programm. Beide Orte ziehen auch Gast-Writer und -Maler an. In Wien gibt es nach wie vor hauptsächlich "traditionelle" Graffiti, aber die bildbasierte Straßenkunst und Auftragswandmalereien nehmen stark zu. Seit 2014 hat Wien auch ein eigenes Streetart-Festival mit dem Namen Calle Libre.

Unterlaufen derartige Festivals nicht einen den Grundgedanken der Graffiti: die Rebellion? Der Kunsthistoriker Peter Gorsen zog anlässlich des ersten internationalen Graffiti-Kongresses 1997 in Wien einen Vergleich zwischen Streetart und Art Brut: Beide würden seiner Meinung nach ihre besondere Qualität, nämlich das Subversive, verlieren, je mehr sie in der anerkannten Kunstwelt aufgehen, sprich in Galerien oder auf Festivals gezeigt werden. Was sagen Sie dazu?

Das sollte man nicht verallgemeinern. Ich habe noch nie einen Writer oder Streetart-Künstler getroffen, der nur Geld verdienen will. Draußen und frei zu sein ist nach wie vor die Essenz von Graffiti und Streetart. Es ist außerdem viel schwieriger, Wände an reiche Sammler zu verkaufen, als Gemälde. Und in gewisser Weise existiert das Werk nicht mehr, wenn es nach innen verlegt oder verkauft wird. Es gibt eine rege Debatte darüber, mit guten Argumenten auf beiden Seiten, ob Graffiti- und Streetart-Werke in Museen und Sammlungen als "legitimes" Kunstgenre aufbewahrt werden sollten oder ob es in Ordnung ist, dass alles irgendwann wieder verschwindet.

Wie gehen die Künstler in Wien damit um?

Die verschiedenen Künstler ziehen unterschiedliche Linien für sich, was die Vermarktung betrifft. Die meisten haben jedoch eine klare Vorstellung davon, was sie für in Ordnung halten und was die Grenze in Richtung zu starker Kommerzialisierung überschreitet. Die Streetart-Szene unterliegt einem strengen Verhaltenskodex: Keine Coca-Cola-Werbung zu machen ist Teil der Regeln. Es gibt in Wien ein starkes Gefühl von Authentizität und Widerstand.

Betrachten Sie in Ihrer Forschung auch ästhetische Aspekte?

Da ich keine Kunsthistorikerin oder Kunstkritikerin bin, steht das für mich nicht im Vordergrund. Streetart ist allerdings immer dann am besten, wenn sie Verbindungen zu bestimmten Orten, Ereignissen und Menschen herstellt. Das kann durchaus subtil sein. Einige der "schönen" Wandgemälde von hübschen Gesichtern oder Blumen, die heute beliebt sind, verpassen völlig die Gelegenheit, sich mit lokalen Umgebungen und Themen auseinanderzusetzen. Sie sehen überall gleich aus!

Graffiti gibt es bereits seit den 60er Jahren. Was sind die größten Veränderungen über die Zeit aus Sicht einer Soziologin?

Ein großer Unterschied zu früher ist, dass wir jetzt soziale Medien haben, vor allem Instagram und das riesige Gedächtnis des Internets. Graffiti und Streetart haben heute ein virtuelles öffentliches Leben, das genauso real sein kann. Dies ist ein wichtiger Teil der Szene, den wir als Akademiker noch nicht vollständig verstehen. Globale Märkte, soziale Medien und Reisen haben die Unterschiede zwischen lokalen Streetart-Szenen und -Kulturen insgesamt etwas "abgeflacht".

Sie forschen einerseits in Europa, andererseits in Ihrer Heimat USA. Gibt es da, trotz des Internets, eigentlich noch große kulturelle Unterschiede?

Wir sehen definitiv Unterschiede, aber wahrscheinlich weniger als früher: Graffiti und Streetart in den USA können gleichzeitig kritischer und kommerzieller sein. Es gibt einerseits viel mehr Menschen in den USA, die versuchen, mit Streetart Geld zu verdienen. Andererseits haben wir viele gemeinnützige und kommunale Organisationen, die dies kritisch sehen und sich dem Status quo widersetzen. Ein Beispiel dafür sind die Black-Lives-Matter-Wandgemälde, die während der Pandemie in vielen US-Städten gemalt wurden.

Was ist die wichtigste Erkenntnis aus Ihrer Beschäftigung mit Graffiti und Streetart?

In vielerlei Hinsicht hängt unsere Zukunft davon ab, Großstädte lebenswerter und nachhaltiger zu machen, insbesondere für junge Menschen, die das Chaos, in dem wir uns befinden, nicht verursacht haben. Wenn man globale Trends in der Stadtentwicklung betrachtet, ist Wien definitiv einer der hellen Orte. Manche Dinge funktionieren hier wirklich gut.

Margarethe Kusenbach ist Professorin für Soziologie an der University of South Florida. 2021 hatte sie die Fulbright-Gastprofessur an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Stadtsoziologie, Identitäten, soziale Randgruppen und Nachhaltigkeit. In ihren Publikationen geht sie auf kulturelle Veränderungen im öffentlichen Raum und das menschliche Erleben von Städten ein.

Dagmar Weidinger, Kunsthistorikerin und freie Journalistin, kuratiert anlässlich der pro-mente-Wien-Fachtagung "Psyche in belastenden Zeiten" am 12. 1. 2023 in der Aula der Wissenschaften (Wollzeile 27A, 1010 Wien) eine Foto-Ausstellung internationaler Streetart, die sich mit aktuellen Krisen auseinandersetzt.

Siehe auch: https://www.promente.wien/?view=article&id=73:pro-mente-wien-fachtagung-2023&catid=22:startseite-aktuelles

Wiener Zeitung, 8. Jänner 2023

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