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Vergessene Aktualität#

Zum 75. Todestag von Stefan Zweig ist in seiner Exil-Heimat Brasilien ein bisher nicht in Buchform erschienenes Manuskript auf den Markt gekommen. "Die geistige Einheit Europas" ist heute genauso aktuell wie im Entstehungsjahr 1936.#


Von der Wiener Zeitung (Donnerstag, 4. Mai 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Martina Farmbauer


weigs Manuskript
Typisch lila: Zweigs Manuskript "Die geistige Einheit Europas".
Foto: © farmbauer

Rio de Janeiro. Stefan Zweig hält einen Vortrag in der Musikschule Rio de Janeiro, es ist der 27. August und Zweig schließt seinen ersten, triumphalen Besuch in Rio im Jahr 1936 ab. Das Publikum spendet dem Literaten stehende Ovationen, begeisterte Fans warten auf Autogramme.

Im Film "Vor der Morgenröte" der deutschen Regisseurin Maria Schrader über das Exil des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig, der in Brasilien derzeit unter dem Titel "Adeus, Europa" läuft, kommt die Szene nicht vor. Aber im Fernsehbeitrag aus der Reihe "Canto dos Exilados" (Lied der Exilierten), den die Übersetzerin Kristina Michahelles bei der Präsentation des Buches "A Unidade Espiritual do Mundo" - "Die geistige Einheit Europas" in einer Buchhandlung in Rio de Janeiro zeigt, ist Zweigs Vortrag enthalten. Auch Alberto Dines beschreibt ihn im Vorwort des Bandes.

Das deutsche Originalmanuskript des Vortrags, den Zweig 1936 auf Französisch hielt, schenkte der Dichter - so haben es Dines und weitere Vorstandsmitglieder der Casa Stefan Zweig in Petrópolis rekonstruiert - dem brasilianischen Außenminister José Carlos de Macedo Soares, dieser ließ es in Leder binden und schenkte es wiederum Helena Conçeição Alves de Lima. Sie hatte Zweig auf ihrer Kaffee-Fazenda in Campinas und in ihrer Villa in Santos ihre Gastfreundschaft zuteil werden lassen. "Durch die so vornehme und intelligente Weise, in der Sie den großen jüdischen Schriftsteller empfingen, haben Sie, geehrte Freundin, sich das beiliegende Manuskript redlich verdient", schreibt Macedo Soares in dem Begleitbrief.

Ein Sammler aus São Paulo erwarb das Manuskript, das ursprünglich den Titel "L’unité spirituelle de l’Europe" trägt, Anfang dieses Jahrhunderts von einem brasilianischen Antiquar und überließ der Casa Stefan Zweig eine Kopie. Renato Bronfman, Vorstandsmitglied dieser Institution kaufte es schließlich.

Bronfmann, der in Genf in der Schweiz lebt, bewahrt das Manuskript in seinem Büro in Ipanema auf, wo es trocken ist - ein wichtiger Faktor im tropischen Rio. Als er es beim Interview in seinem Konferenzraum zeigt, gleicht das geradezu einem heiligen Ritual. "Das Manuskript zu finden war sehr schwierig", sagt Bronfman im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", während er es aus einem Umschlag hervorholt. Freunde und Bewunderer Stefan Zweigs in Rio de Janeiro wussten jahrzehntelang nicht einmal von seiner Existenz; als es ihnen zum Kauf angeboten wurde, fehlte zunächst das Geld. Zehn Jahre vergingen, bevor Bronfman den Schatz für die Casa Stefan Zweig erwarb.

Mehrere Tage verhandelte Alberto Dines von der Casa Stefan Zweig in São Paulo und schickte Bronfman Kopien und Fotos vom wunderschönen Ledereinband, auf dem "Helena" eingraviert ist, und von der Box. Als das Manuskript schließlich bei Bronfman eintraf, war die Freude groß. Bronfman hatte lose, eventuell verblichene Blätter erwartet. Doch das Manuskript befindet sich in guten Zustand. "Ich war sehr beeindruckt, als ich es gelesen habe", sagt Bronfman. "Denn es beinhaltet alles, woran wir glauben: Pazifismus, Toleranz, Europa als Wiege der Intellektualität." Zusammen mit dem Begleitbrief José Carlos de Macedo hat die Casa Stefan Zweig das Buch mit dem Faksimile deshalb auch in fünf Sprachen - Deutsch, Portugiesisch, Spanisch, Englisch und Französisch - herausgegeben.

Stefan Zweig
Stefan Zweig, 1881 - 1942, hier auf einer undatierten Aufnahme
Foto: © ap

Das Vorwort lieferte auf brasilianischer Seite neben Alberto Dines Celso Lafer, zweimaliger Außenminister Brasiliens, sowie auf europäischer Seite Klemens Renoldner, Direktor des Stefan Zweig Centre der Uni Salzburg und Jaques Le Rider von der École Pratíque des Hautes Études in Paris.

Kristina Michahelles, die etwa Stefan Zweigs Texte "Die Welt von Gestern" und "Brasilien: Ein Land der Zukunft" ins Portugiesische übersetzt hat, hat das Manuskript, das in der für Zweig typischen lila Farbe geschrieben ist, transkribiert. "In Zeiten von Brexit, allgemeiner Zersplitterung und Krieg ist der Text wunderbar - oder wahnsinnig - aktuell, eine Warnung vor dem, was passieren kann", sagt sie. Er beinhalte zwei klare Botschaften: Erstens, Völker der Welt, wenn ihr nicht versteht, dann riskiert ihr alles, was die Menschheit in 1000 Jahren an Blüten der Kultur hervorgebracht hat. Zweitens, es gibt noch eine Hoffnung: die jungen Völker Südamerikas.

Als Stefan Zweig 1936 aus Southampton nach Rio kam, stand er noch unter dem Eindruck seines Zwischenstopps im spanischen Vigo. Der Spanische Bürgerkrieg war schon ausgebrochen, und mit seinen sensiblen Antennen fühlte Zweig auch den Zweiten Weltkrieg heraufziehen, seine Bücher waren in Deutschland schon verbrannt worden. "Nur manchmal glaubt man die schwarzen Schwingen des Krieges über seinem Schlafe rauschen zu hören", heißt es in dem Text "L‘ unite spirituelle de l’Europe", den Zweig noch am Tag der Ankunft, dem 21. August, im Copacabana Palace auf Französisch und Deutsch anfing. Am 25. August schrieb er ihn fertig. Es war der wichtigste und gedrängteste Tag: Stefan Zweig hatte eine Audienz bei Präsident Getúlio Vargas, hielt anschließend eine Rede in der Academia Brasileira de Letras, signierte Bücher bis um 19 Uhr und ging dann erst ins Hotel, um den Text zu beenden.

José Carlos de Macedo Soares kommentiert dessen Zweisprachigkeit in seinem Begleitbrief, der die Ausgabe von "A Unidade Espiritual do Mundo" abschließt, mit den Worten: "Wenn die europäischen Schriftsteller auf derselben Seite gleichermaßen das Französische und Deutsche zu benutzen verstehen, haben wir mit Sicherheit die geistige Einheit der Welt erreicht." Das nun erschienene Buch ist auch eine Hommage an Stefan Zweig, mit dessen Version in fünf Sprachen begeht die Casa Stefan Zweig dessen 75. Todestag in diesem Jahr. Im Verlag Hentrich und Hentrich, der zuletzt Zweigs letztes Adressbuch herausgegeben hat, ist für diesen Monat auch eine Version für den deutschsprachigen Markt geplant. Kristina Michahelles sagt: "Das ist die Art, mit der wir Zweigs Ideen weitertragen wollen."

Erst kürzlich hat Michahelles wieder eine zehnte Klasse der Escola Alemã Corcovado, der Deutschen Schule Rio de Janeiro, hinauf zur Casa Stefan Zweig in Petrópolis, zwei Stunden in den Bergen hinter Rio, begleitet. "Die Schüler hatten zuerst keine Ahnung, jetzt wissen sie, wer Stefan Zweig war, dass er die ,Schachnovelle‘ geschrieben hat, was Exil bedeutet." Denn die Casa Stefan Zweig, als Wohnhaus Zweigs letzte Station im Exil, ist nicht nur eine Gedenkstätte für den berühmten österreichischen Schriftsteller. Sondern auch für viele andere Exilantinnen und Exilanten, die in Brasilien Zuflucht fanden und hier in Literatur, Musik, Wissenschaft und Kunst zwischen 1933 und 1945 ihre Spuren hinterließen. Nach Argentinien war Brasilien das Land in Südamerika, das am meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, Historiker schätzen, es waren bis zu 19.000. Das Thema Exil interessiert Kristina Michahelles, im weitesten Sinne als Fremdsein in einem anderen Land, wie es sich in Petrópolis später auch bei Stefan Zweig ausgedrückt hat. Das Gefühl der Zugehörigkeit durch geistige Zusammengehörigkeit schien da umso wichtiger zu sein.

Wiener Zeitung, Donnerstag, 4. Mai 2017