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Auf der Seite der Schwachen#

Vor 150 Jahren starb der Schriftsteller Charles Dickens. Als Begründer des sozialen Romans sensibilisierte er seine Leserschaft – und erschuf Weltliteratur.#


Von der Wiener Zeitung (6. Juni 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Oliver Bentz


Ungeschminkte Schilderungen: Charles Dickens (1812–1870)
Ungeschminkte Schilderungen: Charles Dickens (1812–1870).
Foto: Name. Aus: Wikicommons, unter PD

Als Charles Dickens am 9. Juni 1870 auf seinem Landsitz Gads Hill Place im Süden Englands an den Folgen zweier Schlaganfälle starb, war er der bedeutendste Romancier seines Landes. Noch heute kommt in der Hierarchie der Literaten Englands Charles Dickens gleich nach William Shakespeare, und in der englischsprachigen Welt wird der Name des Schriftstellers, den manche im deutschsprachigen Sprachraum noch immer bisweilen für einen Kinderbuchautor halten, in einem Atemzug mit James Joyce und Franz Kafka genannt.

Sein Buch „Oliver Twist“ machte ihn weltberühmt, seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und gaben die Vorlage für erfolgreiche Bühnen- und Filmadaptionen. Romanfiguren aus seiner Feder wie David Copperfield, Uriah Heep oder Ebenezer Scrooge gingen in die Weltliteratur ein. Sein russischer Kollege Leo Tolstoi sah in dem Autor von 15 Romanen den größten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts.

Am 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth als zweites von acht Kindern des meist mittellosen Marineschreibers John Dickens und seiner Frau Elizabeth geboren, sprach jedoch zunächst nicht viel für eine spätere literarische Karriere des jungen Charles. Musste ihn doch sein Vater, der ständig bis über beide Ohren verschuldet gewesen und 1823 schließlich mit der gesamten Familie – außer Charles – sogar ins Schuldgefängnis gewandert war, für einige Monate zum Geldverdienen als Hilfsarbeiter in eine Schuhwichsfabrik schicken.

Über Nacht bekannt#

Eine traumatische Erfahrung für den Elfjährigen, die er noch viele Jahre später als großen Schock und tiefe Demütigung beschrieb und die auch in manchem seiner Texte aufscheinen sollte, in denen sich Menschen oft gegen eine übermächtige Fremdbestimmung behaupten müssen. Trotz dieser eher widrigen Voraussetzungen verfasste Dickens schon im Alter von elf Jahren seine ersten literarischen Charakterskizzen, die der genauen Beobachtung seiner Umwelt entsprangen.

Mit fünfzehn Jahren begann Dickens sein Berufsleben als Schreiber in einer Anwaltskanzlei. Daneben arbeitete er regelmäßig als Stenograph von Gerichtsverhandlungen, ab 1829 auch von Parlamentssitzungen. Ab 1831 schrieb er als Reporter für die Zeitung „True Sun“ und später für den „Morning Chronicle“. Unter dem Pseudonym „Boz“ veröffentlichte Dickens seine literarischen Skizzen des Londoner Alltagslebens, die zunächst 1834/35 unter dem Titel „Sketches“ in Fortsetzungen und 1836 unter dem Titel „Sketches by Boz“ (dt. „Londoner Skizzen“) in Buchform erschienen.

Erste Sporen als Schriftsteller verdiente er sich dann mit seinen „Pickwick Papers“ („Die Pickwickier“), einem Fortsetzungsroman, zu dem ihm ein Verlag nach der positiven Aufnahme seines Erstlingsbuches den Auftrag gab und der zunächst zwischen März 1836 und Oktober 1837 in zwanzig Teilen monatlich erschien und danach gleich als Buch herauskam. Der humoristische, in einer gemütlich-heiteren Stimmungslage gehaltene Roman, dessen zen-trale Themen Freundschaft und Vergebung sind und der gleichzeitig eine scharfsinnige Karikatur der englischen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts ist, machte ihn mit 24 Jahren praktisch über Nacht bekannt.

Im Jahr darauf ließ er gleich seinen Roman „Oliver Twist“ folgen, der auch in den USA großen Anklang fand, Dickens internationale Berühmtheit verschaffte und ihm fortan eine breite Leserschaft sicherte. Das Buch schildert den Weg des gleichnamigen Romanhelden, der als Findelkind im Armenhaus einer englischen Kleinstadt aufwächst, aus den Fängen seines brutalen Lehrherrn nach London flüchtet und im Moloch der Großstadt an den skrupellosen Hehler Fagin gerät, der ein seltsames Interesse daran zu haben scheint, ihn in die Welt des Verbrechens hineinzuziehen.

Wegen seiner präzisen Milieuschilderungen, die mit zum Teil drastischer Darstellung von Kinderarbeit, Verbrechen und Pauperismus zur Zeit der Frühindustrialisierung erhebliches Aufsehen erregten, und seines auf der anderen Seite vorhandenen entwaffnenden Sinns für skurrile Komik zählt „Oliver Twist“ bis heute zu den bedeutendsten und beliebtesten Romanen der englischsprachigen Literatur.

Wie seine bisherigen Bücher erschienenen auch die meisten Romane, die Dickens in den folgenden Jahren verfasste, zuerst als Fortsetzungsgeschichten in Zeitschriften – ein nicht unerheblicher Grund dafür, dass er mit seinen Büchern so erfolgreich werden sollte und der literarischen Gattung des Romans in seiner Zeit zu besonderer Stellung verhalf. Denn Dickens war nicht nur ein Schriftsteller von hervorragender literarischer Qualität. Auch die Art, wie er seine Romane veröffentlichte und vertrieb, war in England damals neu und revolutionär und trug ebenfalls zum großen Erfolg dieses Autors bei.

Die monatlich gedruckten Folgen kosteten nicht viel Geld, sodass sie sich alle Gesellschaftsschichten bis in die untere Mittelklasse hinein leisten konnten. Monat für Monat wartete somit eine breite Leserschaft gespannt auf die nächste Fortsetzung von Dickens’ Geschichten, der oft an mehreren Büchern gleichzeitig arbeitete und viele seiner großen Romane auf diese Weise in fieberhaftem Tempo schrieb.

Die Stoffe für seine Bücher fand der Autor meist in London, der Hauptstadt seiner Texte. Als Fußgänger, der – im Gegensatz zum sich treiben lassenden Flaneur – schnellen Schritts zur Tag- und vor allem auch zur Nachtzeit die Me-tropole durchstreifte, sah er die gesellschaftlichen Verwerfungen seiner Zeit.

Das ärmliche Leben der Arbeiter im Londoner Hafenviertel und das Milieu der Gauner und Taschendiebe hinterließen dabei ebenso tiefen Eindruck bei Dickens wie die seinerzeit herrschende Ausbeutung durch Kinderarbeit. In seinen Geschichten nahm er diese Themen mit großem Einfühlungsvermögen auf und verfolgte mit ihnen die moralische Absicht, das Gewissen seiner Zeitgenossen für die skandalösen sozialen Probleme des frühindus-triellen England zu sensibilisieren.

Anstoß zu Reformen#

So gilt Dickens, der mit seinen ungeschminkten Schilderungen von Kinderarbeit, Kriminalität und Ungerechtigkeit die Brutalität einer Gesellschaft gegenüber Armen und Schwachen thematisiert und sich auf deren Seite stellte, als Begründer des sozialen Romans.

Viele seiner Werke kreisen um die Frage, was Industrialisierung und kapitalistisches Wirtschaftssystem für den Einzelnen bedeuten. Dabei schafft es Dickens, in seinen Texten Rührseligkeit, Grausamkeit, einen manchmal bis zum Grotesken gesteigerten Humor und eine schier endlose Phantasie auf eine ihm höchst eigene Weise zu verquicken. Durch sein Aufzeigen sozialer Missstände in der mittleren und unteren Gesellschaftsschicht Londons gab er mit seinen literarischen Werken den Anstoß zu einigen Sozialreformen.

Als Dickens versteckte Biografie gilt der 1850 in Buchform erschienene Bildungsroman „David Copperfield“, den er selbst als sein Lieblingswerk bezeichnete. Wie der Autor arbeitet sich auch die Romanfigur, ein intelligentes und sensibles Kind, trotz der im lieblosen Elternhaus erlittenen Demütigungen in Kindheit und Jugend vom Anwaltsgehilfen zum Reporter und schließlich zum erfolgreichen Schriftsteller empor.

Nach Charlotte Brontës „Jane Eyre“ war „David Copperfield“ auch der erste Roman, in dem ein Kind erzählte und dabei ernst genommen wurde. Als Dickens reifstes Werk sehen viele Kritiker sein 1861 erschienenes Buch „Great Expectations“ („Große Erwartungen“), in dem er, wie schon in „David Copperfield“ und in „Hard Times“ („Schwere Zeiten“) (1854), das entbehrungsreiche Leben der englischen Unterschicht im 19. Jahrhundert vor die Augen der zeitgenössischen Leserschaft bringt. In ihm vereinigen sich die Vorzüge seiner frühen Bücher, die ursprüngliche Sicht der Dinge und der ungestüme Stil, mit der reifen Könnerschaft seiner späten Jahre.

Das Buch dreht sich, wie so oft bei Dickens, um Kindheit und Erwachsenwerden, um Arm und Reich, um Klug und Dumm, um Gut und Böse. Die Erlebnisse des armen Waisen Pip, der durch einen Wohltäter zu Geld kommt und zum Snob wird, aber später geläutert zu seinen Wurzeln zurückfindet, vermitteln dem Leser, dass es oft nicht die großen Schurkereien sind, die Menschen zu Fall bringen, sondern die kleinen Fehler und Schwächen des menschlichen Herzens, vor denen keiner gefeit ist.

Geist der Weihnacht#

Charles Dickens 1843 erstmals erschienenes Buch „A Christmas Carol“ („Eine Weihnachtsgeschichte“), die in England jedes Kind kennt, ist seit Generationen der Klassiker unter den literarischen Werken rund um das Weihnachtsfest. Der Geist der Weihnacht ist in diesem Buch – das der Autor in nur sechs Wochen niedergeschrieben hat und das manche unter Kitschverdacht stellen – wörtlich zu nehmen, denn er erscheint dem geizigen, verbitterten alten Scrooge und macht aus ihm als wahres Weihnachtswunder in nur drei Nächten einen gütigen, wohltätigen Mann mit einem großen Herzen.

Die 6000 Exemplare der Erstauflage des Buches, das daran erinnert, dass Weihnachten eigentlich für die Liebe steht und dafür, füreinander da zu sein, war schnell vergriffen, und innerhalb eines Jahres gab es fünf weitere Auflagen. Vier weitere Weihnachtsbücher ließ Dickens noch folgen und veröffentlichte zudem jedes Jahr Geschichten zum Fest in Magazinen. „Ich will keine Lücke entstehen lassen“, nannte der geschäftstüchtige Autor als Grund für seine dauerhafte literarische Konzentration auf dieses Thema.

Im Jahr 1868 kaufte der gefeierte und wohlhabende Autor Dickens das Anwesen Gads Hill Place bei Rochester, auf dem er ab 1860 lebte. Für die Schauspielerin Nelly Ternan hatte er 1858 seine Frau Catherine verlassen, mit der er seit 1838 verheiratet gewesen war. In seinem gastfreundlichen Haus verkehrte ein großer Freundeskreis, und der schauspielerisch begabte Dickens, der wohl auch ein famoser Vorleser war, veranstaltete dort Lesungen aus seinen Werken.

Als der Autor 1870 im Alter von 58 Jahren starb, war er der hervorragende Romancier Großbritanniens. Karl Marx würdigte ihn und sein Werk mit den Worten: „Er gehört zu jener glänzenden Schule der Romanschriftsteller in England, deren fein gezeichnete und beredte Schilderungen der Welt mehr politische und soziale Wahrheiten enthüllt haben als alle professionellen Politiker, Pu-blizisten und Moralisten zusammengenommen.“

Oliver Bentz, geb. 1969, lebt als Germanist, Ausstellungskurator und Kulturpublizist in Speyer.

Wiener Zeitung, 6. Juni 2020


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