„Ans Christkind habe ich nie geglaubt“ #
Christine Nöstlinger über Weihnachten, taxelnde Volltrottel, ihre Angst um das rote Wien, Political Correctness und den Unterschied zwischen Frechheit und Renitenz. #
Mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (Donnerstag, 22. Dezember 2016)
Das Gespräch führte
Doris Helmberger
Nebenan liegt die Bäckerei „Gül“, unten ist ein Geschäft mit russischen Spezialitäten und hoch oben, in einer modernen Dachgeschoßwohnung im tiefsten 20. Wiener Bezirk, lebt Christine Nöstlinger. Am 13. Oktober ist Österreichs bedeutendste Kinder- und Jugendbuchautorin 80 Jahre alt geworden. Seither ist viel passiert. Ein Weihnachtsgespräch.
Die Furche: Ich muss mit einem Geständnis beginnen: Als Kind habe ich kein einziges Buch von Ihnen lesen dürfen, das war alles viel zu renitent und unchristlich. Bücher von Mira Lobe gab es aber schon...
Christine Nöstlinger: Die Mira war doch um nichts christlicher als ich! Aber naja, natürlich hat es damals Anfeindungen gegeben...
Die Furche: Jetzt nicht mehr?
Nöstlinger: Nein, im Gegenteil wird mir versichert, dass ich die christlichen Werte hochhalte. (lacht)
Die Furche: Welche? Freiheit, Gleichheit, Solidarität?
Nöstlinger: Ja, außerdem scheren sich heute nicht mehr so viele Menschen um Kinderbücher. In den 1970er-Jahren war das anders.
Die Furche: Immerhin wird heute im Internet noch vor Ihren „Weihnachtsgeschichten vom Franz“ gewarnt, weil Sie darin gnadenlos Tacheles reden. „Der Weihnachtsmann in der Familie vom Franz ist die Mama“, heißt es da. War Ihnen bewusst, dass das manche Eltern in Erklärungsnotstand bringt?
Nöstlinger: Ich nehme doch nie Rücksicht auf Eltern, ich nehme nicht einmal Rücksicht auf meine Leser. Mir fällt eine Geschichte ein, das ist mühselig genug, und ich versuche die Geschichte möglichst echt zu beschreiben. Wenn es Kindern dann gefällt, soll es mir Recht sein, wenn nicht, naja, dann werden sie das Buch zuklappen.
Die Furche: Mögen Sie selbst eigentlich Weihnachten?
Nöstlinger: Das ist für mich überhaupt kein spezieller Termin. Ich habe zwei sehr erwachsene Töchter: Die eine mag Weihnachten nicht, die andere mag Weihnachten schon. Wenn die, die Weihnachten schon mag, mit ihren Kindern da ist, dann unterwerfen wir uns den weihnachtlichen Ritualen mit Tannenbaum und sonstwas. Wenn die nicht hier ist, dann passiert überhaupt nix.
Die Furche: Und früher, als Sie noch ein Kind waren?
Nöstlinger: Das war ganz speziell bei uns. Meine Mutter war einmal ein sehr reiches Kind und hatte daher ganz üppige Weihnachten. Doch dann ging das ganze Geld verloren. Wir waren später zwar arm und haben Zimmer, Küche, Kabinett gewohnt, aber Weihnachten, das hat müssen so sein wie früher: Der Christbaum hat müssen bis zur Decke rauf gehen, und ich habe dann eigentlich im Christbaum geschlafen, weil die unteren Äste die Hälfte meines Bettes bedeckt haben. Außerdem gab es wahnsinnig viele Geschenke: Meine Mutter hat ja schon im Jänner angefangen, einzukaufen.
Die Furche: Und das Christkind?
Nöstlinger: Ans Christkind habe ich nie geglaubt. Das geht auch schwer, wenn man eine ältere Schwester hat, die einen aufklärt. Außerdem waren wir immer eine völlig areligiöse Familie.
Die Furche: Eine agnostische oder eine atheistische?
Nöstlinger: Na atheistisch, durch und durch atheistisch.
Die Furche: Und wie hat Ihre Mutter dann erklärt, warum sie Weihnachten so groß zelebriert?
Nöstlinger: „Das ist das Fest der Liebe“, hat sie gesagt.
Die Furche: Tatsache ist, dass christliche Rituale und Symbole wie das Kreuz derzeit für viele wieder wichtiger werden – wohl auch, um sich gegen den Islam abzugrenzen. Wie finden Sie das?
Nöstlinger: Merkwürdig. Vor allem finde ich merkwürdig, dass sich diese Menschen „christlichjüdisch“ sagen trauen – bei alldem, was Juden bei uns passiert ist. Warum kann man nicht einfach sagen: Erstens sind unsere Werte in der Verfassung und zweitens beruhen sie auf der Aufklärung. Aber komm einem Kronen Zeitung-Leser mit der Aufklärung…
Die Furche: Die hat es derzeit überall schwer: Kurz nach Ihrem 80. Geburtstag ist Donald Trump gewählt worden. Was war aus Ihrer Sicht die Hauptursache dafür?
Nöstlinger: Die Dummheit der Menschen – und außerdem lässt sich alles nicht so leicht erklären. Ich habe gerade vorhin mit einer alten Freundin telefoniert, die in Utah lebt – die sind ja selbst am entsetztesten. Aber wir leben halt in postfaktischen Zeiten. Ich stehe auch hilflos davor, wenn es heißt: Man muss die Ängste der Menschen ernst nehmen! Ja, gefühlte Ängste kann der Psychoanalytiker ernst nehmen, aber wie begegnet man Ängsten, die überhaupt nicht auf Fakten beruhen?
Die Furche: Das könnte manche veranlassen, Sie zur „abgehobenen Elite“ zu zähle...
Nöstlinger: Entschuldigung, aber wenn mir ein Volltrottel von einem österreichischen Taxler den größten Blödsinn erzählt, soll ich mich nicht als Elite fühlen? Soll ich ihn ernst nehmen? Wie mache ich das?
Die Furche: Nicht wenige Intellektuelle üben sich aber in Selbstbezichtigungen und nehmen sich vor, ihre „Blase“ zu verlassen...
Nöstlinger: Na, dazu gehöre ich nicht! Die Leute sollen verdammt noch einmal etwas Ordentliches lesen. Man kann sich doch heute wirklich informieren, aber gut 30 Prozent unserer Bevölkerung informieren sich nur mehr auf Facebook und stecken in einer Blase, in der sie nur die Informationen bekommen, die zu ihrem kaputten Weltbild passen. An die Leute kommst du ja gar nicht mehr heran.
Die Furche: Sie haben einmal gesagt: „Es hat keinen Sinn, mit Strachewählern zu diskutieren“. Kanzler Christian Kern hat hingegen vor der Bundespräsidentenwahl ein überraschend amikales Gespräch mit HC Strache geführt und ihm attestiert, dass er das Land „voranbringen“ wolle. Behagt Ihnen das als Sozialdemokratin?
Nöstlinger: Ich bin bei Gott kein Parteimitglied, aber ich kann mir vorstellen, dass er halt ehemalige SPÖ-Wähler, die jetzt FPÖ wählen, zurückgewinnen und einen anderen Ton hineinbringen will. Aber behagen tut’s mir trotzdem nicht.
Die Furche: Nach der Wahl haben Sie gemeint, dass Sie sich bei einem Sieg Norbert Hofers mit folgendem Gedanken getröstet hätten: „Wir haben schon einen Waldheim überlebt, wir werden auch einen Hofer überleben.“ Vor der Wienwahl haben Sie hingegen – hoffentlich ironisch – erklärt, dass sie sich „aufhängen“ würden, wenn Strache Bürgermeister wird. Was wäre daran so viel schlimmer gewesen?
Nöstlinger: Das ist so zu verstehen: Ich bin eigentlich kein Österreich- Patriot, ich fühle mich als Wienerin und ansonsten als Europäerin. Ein Wiener Bürgermeister von der FPÖ tangiert mich mehr als ein Bundespräsident von der FPÖ. Wenn selbst das rote Wien blau wird – das ginge mir ans Herz.
Die Furche: Und wenn Strache Kanzler würde?
Nöstlinger: Schrecklich. Aber dieser ganze Rechtsruck in Europa stimmt mich traurig. Wenn ich heute 40 Jahre alt wäre, dann könnte ich mir noch sagen: Das wird sich wieder ändern. Aber in diesen paar Jährchen, die ich noch zum Leben hab, ändert sich nichts. So habe ich mir das nicht vorgestellt.
Die Furche: Die Vision von globaler Freiheit, Gleichheit, Solidarität ist momentan in weiter Ferne...
Nöstlinger: Ich weiß nicht, ob ich das selbst je geglaubt habe. Mein Mann war ein überzeugter Linker, der hat geglaubt, es wird alles herrlich. Aber ich war eigentlich immer ein heiterer Pessimist.
Die Furche: Interessant – auch deshalb, weil Sie nicht „Pessimistin“ sagen. Es gibt ja Leute, die das Erstarken des Rechtspopulismus mit „überzogener Political Correctness“ erklären...
Nöstlinger: Das finde ich lächerlich. Kein Mensch geht nach rechts, wenn ich ihn ersuche, er möge nicht mehr „Neger“ sagen, sondern Schwarzer. Aber ich finde auch manchen Blödsinn in der Political Correctness, überhaupt wenn es um Sprache geht. Bei diesem ganzen Gendern derwürgst du dich ja mit der-die-Schrägstrichoben- unten. Ich bin überhaupt ein Hasser des Binnen-Is.
Die Furche: In Ihrem legendären Text „Der Neger bleibt ein Neger“, der Anfang 2013 in der „Zeit“ erschienen ist, meinten Sie, man dürfe keine Wörter verhaften, um üble Gesinnung zu bekämpfen...
Nöstlinger: Ich habe das damals mit einem Beispiel erklärt. Mein Großvater war das Gegenteil von einem Rassisten, aber er hatte noch nie einen Schwarzen gesehen. Und 1945, als die ersten amerikanischen Besatzungssoldaten in Hernals waren, kam er völlig verzückt heim und hat gesagt: „Wisst‘s, was ich gsehn hab – an echten Murl.“ Wenn ich das schildern will, muss ich es so schreiben.
Die Furche: Dass die Sprache das Bewusstsein ändern könnte, glauben Sie also nicht?
Nöstlinger: Jedenfalls nicht in dem Maß, wie es die Ruth Wodak (Wiener Linguistin und Diskursforscherin, Anm.) glaubt. Das Sein bestimmt noch immer das Bewusstsein.
Die Furche: Sie gelten als große Realistin der Kinder- und Jugendliteratur. Warum meiden Sie Fantasy?
Nöstlinger: Weil ich mit dieser Welt genug zu tun habe. Wenn ich mir fantastische Elemente erfinde, dann dienen die ja immer dazu, diese Welt hier besser zu erklären. Wer Fantasy schreibt, der erfindet hingegen eine ganz neue. Aber ich verstehe jeden jungen Menschen, der sich damit in andere Welten flüchtet. Außerdem ist es ein guter Grund zu lesen.
Die Furche: Die letzte PISA-Studie hat aber einmal mehr gezeigt, dass es beim Lesen ziemlich hapert. Haben Sie eine Idee, wie man Kindern Lust auf Bücher machen könnte?
Nöstlinger: Natürlich gibt es flankierende Maßnahmen: Wenn Eltern lesen und Kinder in einem Haushalt aufwachsen, wo Bücher zum Leben gehören, werden sie vielleicht eher danach greifen. Aber ansonsten wachsen halt viele Kinder in einer Bilderwelt auf, sodass sie nicht mehr die nötige Fantasie haben, die es braucht, um einen Text genießen zu können. Dann wird Lesen nur als schwere Aufgabe erlebt.
Die Furche: Sie selbst sagen, dass Sie nie gern in die Schule gegangen sind und sie bis heute meiden. Was müsste passieren, damit Schule ein angenehmerer Ort würde?
Nöstlinger: Ich glaube, sie ist heute schon ein angenehmerer Ort als zu meiner Zeit. Mein furchtbarstes Volksschulerlebnis war, dass ich einmal in meiner Rechenhausübung ausnahmsweise zehn Fehler hatte – und weil ich mich geniert hab, habe ich „null Fehler“ druntergeschrieben. Die Frau Lehrerin ist natürlich draufgekommen und hat gesagt, ich muss mich bei ihr entschuldigen, doch das habe ich nicht zusammengebracht. Andere Kinder haben wie geschmiert gesagt: „Ich bitte um Verzeihung, ich werde es nicht mehr tun“, aber mir kam das nicht über die Lippen. Sechs Wochen lang bin ich jeden Tag eine Stunde vor dem Katheder gestanden und die Frau Lehrerin hat darauf gewartet, dass ich mich entschuldige. Aber ich habe gewonnen: Ich habe es nicht gesagt.
Die Furche: Sie waren offenbar renitent von Anfang an...
Nöstlinger: Nein, renitent nicht, ich war – gemessen daran, wie sich heutige Kinder benehmen – ein lammfrommes Kind. Natürlich war ich frecher als andere Kinder, weil ich zuhause keine Strafe zu erwarten hatte, aber renitent war ich nie.
Zur Person #
Alles – außer pädagogisch#
„Speziell kinderlieb“ sei sie nicht, versichert Christine Nöstlinger gern. Aber vielleicht ist es gerade das, was ihre Literatur auszeichnet: Sie biedert sich nicht an oder moralisiert, sondern nimmt (kleine) Menschen und ihre Lebenswirklichkeiten ernst. Realistische Milieuschilderungen prägen ihre Bücher ebenso wie ein herrlich schnörkelloses Wienerisch. „Lassen Sie dieses Saubartel nicht mehr in den Hof hinunter!“, faucht etwa die Frau Berger in den „Geschichten vom Franz“ über den kleinen Buben, der sein „nacktes Mittelstück“ präsentiert, weil ihn jeder für ein Mädchen hält. Soll vorkommen in Gemeindebauten. Am 13. Oktober 1936 wurde Nöstlinger in Wien-Hernals geboren und studierte Gebrauchsgrafik an der Angewandten. Später, als Mutter zweier Töchter, begann sie Kinderbücher zu illustrieren und zu schreiben. „Die feuerrote Friederike“ (1970) wurde zum Klassiker, es folgten über 150 weitere Bücher, darunter „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“, der unlängst verfilmte autobiografische Roman „Maikäfer, flieg!“ oder „Das Austauschkind“. In den letzten Jahren sorgten ihre „Mini“-Serie und die vielbändigen „Geschichten vom Franz“ für hohe Auflagen. Rund um ihren 80. Geburtstag erschien ein „Best of“ für Erwachsene, in dem Nöstlinger als Autobiografin und Kommentatorin gewürdigt wird (Residenz) sowie das Bilderbuch „Jeden Morgen um 10“ (Nilpferd). „Lügen richten Schaden an“, heißt es darin, „Geschichten machen Freude.“