Paradies und Postapokalypse#
Ein Streifzug durch beseligende und beänstigende Traumwelten#
Von der Wiener Zeitung (Samstag/Sonntag, 15./16. Juni 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Christina Walker
Utopien über die bestmögliche Gesellschaft sind so alt wie ihre Gegenentwürfe, die satirischen, warnenden Dystopien.#
"Eine Weltkarte, in der Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keine Beachtung, denn sie lässt die Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird", notierte Oscar Wilde 1891.
Im Vorarlberger St. Arbogast waren die "Tage der Utopie" heuer wieder Inspiration für zukunftstüchtige Projekte, die unsere Welt verbessern sollten. Auch der US-amerikanische Physiker Michio Kaku prophezeit in seinem neuen, viel beachteten Band, "Die Physik der Zukunft", ein durch Wissenschaft und Technik so aufregendes wie angenehmes 22. Jahrhundert: Kranke Gene werden gleich im Körper repariert, Megacitys versorgen sich selbst aus vertikalen Hydrokulturfarmen. Hier wie dort keine Spur von Fortschrittsskepsis, Untergangsängsten oder Globalisierungspanik. Diese post-postmodernen Befindlichkeiten scheint die Literatur für sich gebucht zu haben. Freilich, Schauder läutert, und Katastrophen verkaufen sich seit jeher gut. Aber was ist mit den glücklicheren Visionen? Ist die literarische Utopie tot? Existiert sie nur noch in ihrer negativen Form, als Dystopie?
Der ideale Staat#
Vor fast 500 Jahren veröffentlichte der englische Humanist Thomas Morus das Werk, das einem nicht bloß literarischen Genre den Namen geben sollte: "Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia" (1516). Im fiktiven Inselreich Utopia sind die Interessen des Einzelnen jenen der Gemeinschaft untergeordnet. Alle arbeiten (sechs Stunden täglich!), genießen Bildung und religiöse Toleranz. Grund und Boden sind gemeinsamer Besitz, Gold (Geld) als Mittel der Bereicherung einiger weniger gibt es nicht.
Schon Platon entwarf in "Politeia" einen idealen Staat, wissend, dass es sich um reine Theorie handelt. Deutlich weniger straff durchorganisiert ist Tommaso Campanellas "Sonnenstaat" (auch "Sonnenstadt", 1602). Auf jeden Bürger kommen nur mehr vier Stunden Tagesarbeit. "Die übrige Zeit kann er mit angenehmem Studium, Disputieren, Lesen, Erzählen, Schreiben, Spazierengehen, geistigen und körperlichen Übungen und mit Vergnügen zubringen." Die Utopie als gelehrtes und gerechtes Paradies.
So alt Utopien über die bestmögliche Gesellschaft sind, so alt sind ihre satirischen, warnenden Gegenstimmen - etwa Platons Beschreibung der Seemacht Atlantis, deren Expansionswut zum Untergang führte. Francis Bacon hält dagegen seine positive Utopie von "Nova Atlantis" (1626). Auch Voltaires naiv-optimistischer Held Candide (1759) sucht nach der besten aller Welten. Außer im geschönt revitalisierten Inkareich El Dorado, wo Überfluss, Friede und Zufriedenheit herrschen, begegnet Candide aber bloß dem Gegenteil davon. Freilich lässt sich auch Morus’ "Utopia" als Satire lesen. Als Gleichnis, das dem zeitgenössischen England den Zerrspiegel vorhielt. Dialektisch scheint schon die Genese des Begriffs "Utopia". Er lässt sich auf zwei griechische Ausdrücke zurückführen: ou topos (kein Ort, Unort) und eu topos (glücklicher Ort).
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts werden die Zukunftsvisionen der Autoren von der Faszination der Technik angetrieben. Doch Jules Vernes Tauchgänge mit Kapitän Nemo oder Kurd Lasswitz’ Flüge ins Weltall können nicht im eigentlichen Sinn als Utopien gelten. Ihnen fehlt der umfassende Gesellschaftsentwurf.
Ein solcher findet sich in H. G. Wells "Die Zeitmaschine" (1895). Der Klassiker der Science-Fiction ist ein Vorläufer der Dystopien. Wells denkt die Klassenunterschiede im England seiner Zeit weiter. Im Jahr 802.701 siedelt er das beängstigende Szenario um die fast paradiesisch lebenden Eloi und die in Höhlen hausenden Morlock an. Doch die scheinbaren Herren oben sind bloß Futter für die Bewohner der Unterwelt.
Zeitalter der Dystopien#
Im Großen und Ganzen begegnet man damals weder der Zukunft noch der Technik mit Skepsis. Ein Bestseller von 1910, der von Arthur Bremer herausgegebene und jüngst wieder aufgelegte Band "Die Welt in 100 Jahren", ist voll positiver Prognosen. Lediglich die Schriftsteller, die bräuchte niemand mehr im Jahre 2010, proklamierte Hermann Bahr: "Wie Wagner an eine Zeit geglaubt hat, in der jeder sein eigener Künstler sein wird", schrieb der Wortführer der Wiener Moderne hellsichtig, "so wird jeder dann sein eigener Dichter sein und keinen Dolmetsch seines Herzens mehr brauchen."
Die Umsetzung der größten politischen Utopie, des Kommunismus, sollte mit der Oktoberrevolution 1917 beginnen. Sie läutet - utopische Dialektik! - zugleich das Zeitalter der Dystopien ein. Die Erkenntnis, der Realsozialismus decke sich nicht mit dem Traum von der klassenlosen Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, machte die Utopie an sich fragwürdig. Zwei Weltkriege und das folgende Atomwettrüsten taten das Ihre dazu.
Eine Fülle literarischer Anti-Utopien von den 1920er Jahren bis heute schöpft aus diesen Erschütterungen. Jewgenij Samjatins "Wir" (1920), Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" (1932) und George Orwells "1984" (1949) gelten als wegweisend. Ihre Protagonisten sind zwar Außenseiter, aber keine Außenstehenden wie noch der zeitreisende Beobachter bei H. G. Wells. Individuelle Freiheit kollidiert in diesen Romanen mit dem kollektiven Wohl. Mentale Indoktrination und physische Manipulation, teils bereits an Embryonen, hemmen das Aufbegehren gegen die herrschenden gesellschaftspolitischen Systeme.
In "Wir" und "1984" sind sie totalitär. Huxley hingegen entwirft eine Kastengesellschaft, deren friedlicher Status quo mittels Konsum, Sex und Drogen (gegen das Bedürfnis, allzu kritisch zu denken) stabilisiert wird. Parallelen zur Gegenwart dürfen durchaus gezogen werden.
Es gibt eine Form von Dystopie, die Gesellschaften (zeitgenössischewie utopische) nicht bloß kritisiert, sondern sie als Grundlage ihrer Geschichte schlicht ausradiert. Die Autoren versetzen ihre Helden in eine Welt nach der Apokalypse. Es herrschen Chaos, Pandämien oder absolute Vereinzelung. Thomas Glavinic’ Held in "Die Arbeit der Nacht" (2006) etwa erwacht in einem von Mensch und Tier verlassenen Wien. Er macht sich auf die Suche: nach Erklärungen, nach der Liebe, nach dem, was Menschsein ausmacht. Um der Einsamkeit etwas entgegen zu halten, vervielfältigt er sich mit Hilfe einer Kamera - und wird sich selbst zum größten Feind. Glavinic nimmt für seine Geschichte vom "letzten Menschen" Anleihe bei zwei älteren Werken: Marlen Haushofers "Die Wand" (1963) und Herbert Rosendorfers "Großes Solo für Anton" (1976).
In einer der schwärzesten und schönsten Postapokalypsen der letzten Jahre, Cormac McCarthys "Die Straße" (2006), liegt die Welt zerstört unter Ascheschleiern. Auf ständiger Flucht vor Räubern und Kannibalen schlägt sich ein Vater mit seinem Kind Richtung Süden durch. Wie bei Glavinic ist es die Liebe, die über den Tod hinaus Hoffnung gibt.
Hoffnung besteht für die Welt, die Reinhard Jirgl in seinem neuen Großwerk, "Nichts von euch auf Erden" (2013), entworfen hat, nur in der allerradikalsten Form: der Auslöschung und dem Neubeginn bei Null. Die Handlung davor spielt im 24. und 25. Jahrhundert. Einige Prognosen aus Michio Kakus eingangs erwähntem Buch sind dort bereits Realität, etwa Siedlungen auf dem Mond und Mars (die der "Tat=Menschen").
Auf der Erde führt der Rest der genmutierten, laschen Menschheit ein friedliches, abgekapseltes Inseldasein in schwebenden Städten (Imagosphären), nachdem Globalisierung, "Raff=Gier" und Energiekriege den Lebensraum Erde weitgehend zerstört haben. Doch die neuen Menschen vom Mars planen ihre Rückkehr und die Reaktivierung von Willen, Wünschen und Geld als Motoren des Begehrens und der Zukunft. Achillesferse der Zeit
Grundlegende Utopien unserer Gesellschaft stehen hier unter Kritik: die Hoffnung auf ein Zusammenwachsen der Welt, der Glaube an die grenzenlosen Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik und die (in der Tat schwer begründbare) Vorstellung, dass unbegrenztes Wachstum aller Art auf Erden möglich und erstrebenswert sei.
Dass man der Zukunft auch augenzwinkernd entgegensehen kann, zeigen einige jüngere Autoren. In Juli Zehs "Corpus Delicti" (2009), angesiedelt im recht nahen Jahr 2057, herrscht eine Art Gesundheitsfaschismus. Schon das Rauchen einer Zigarette wird zum Delikt. Jan Kossdorff rührt an einer anderen Achillesferse unserer Zeit, dem Konsum ohne Grenzen: "Kauft Leute" (2013) entwickelt den Arbeitsmarkt zynisch weiter - im Hümania-Markt bei Wien wird Menschenware aller Art, von der Nanny bis zum Elektroingenieur, feilgeboten.
Poetry Slammer Markus Köhle stellt sich in "Utopie mal Daumen" ("Ping Pong Poetry", 2013) vor, wie schön es wäre, wenn jeder immer tun könnte, was er am besten kann. Dichten zum Beispiel. Seine Logotopier leben glücklich von einem Schüttelreim pro halber Stunde. Damit müssen sie gegen andere Schriftsteller der Zukunft antreten. Und wenn es nach Literaturkritiker Denis Scheck geht, ist die Literatur in 100 Jahren wortwörtlich auf den Hund gekommen (in "2112 - Die Welt in 100 Jahren"): Denn der beste Freund des Menschen schreibt dann nämlich selbst.
Christina Walker, geboren 1971 in Bregenz, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien, lebt und arbeitet als freie Autorin und Lektorin in Bochum.