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Reisen im richtigen Gang#

Wir sind immer schneller unterwegs, aber ist das wünschenswert? Ein Vergleich zwischen Fortbewegungsmitteln und Reisephilosophien.#


Von der Wiener Zeitung (Samstag, 12. August 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Daniel Rössler


Reisen Karikatur
© Jugoslav Vlahovic

"Ich bin müde" sagte der west- afrikanische Schriftsteller Malidoma Somé, als er nach Jahren in der Ferne zum ersten Mal wieder den Boden seines Heimatdorfs in Burkina Faso betrat. Er war mit dem Flugzeug gekommen, und die Leute in seinem Dorf sagten: "Natürlich bist du müde. Deine Seele ist ja noch unterwegs."

Nun kann man darüber streiten, mit welcher Geschwindigkeit sich unsere Seelen gewöhnlicherweise durch die Welt bewegen, klar aber ist: Unsere Körper reisen immer schneller. Über die Jahrhunderte haben wir stetig das Tempo erhöht, unsere Wege effizienter gemacht, ein neues Verkehrsmittel nach dem anderen erschlossen. Vom Wanderweg aus sprangen wir in eine Kutsche, hüpften dann an Bord von Zügen und Schiffen, wechselten ins Auto und landeten schließlich im Bauch von Flugzeugen.

Von 0 auf 1000 in weniger als 300 Jahren - die Geschichte unseres Reisens ist eine Geschichte der Beschleunigung.

Doch mit jedem Gang, den wir zulegen, wechseln wir zugleich in eine neue Reisephilosophie. Wie wir die Welt wahrnehmen und erleben, hängt davon ab, wie wir uns in ihr bewegen. Wollen wir sie, im wahrsten Sinne, erfahren? Uns in ihr ergehen? Über sie hinwegfliegen? Und wie kommt die Seele am ehesten mit? Vielleicht sollten wir uns die Fortbewegungsmodi genauer ansehen. Und dann entscheiden, welchen Gang wir einlegen wollen.

Zu Fuß#

"Ich habe gelernt, dass ich am besten reise, wenn ich mich nicht schneller bewege als ein trottender Hund". Der Reiseschriftsteller Gardner McKay hat sein ideales Tempo gefunden: 5 km/h, die durchschnittliche Geschwindigkeit eines gehenden Menschen, die maximale Geschwindigkeit des vagabundierenden Flaneurs. Es ist der erste, der langsamste, der natürlichste Gang eines jeden Reisenden, und über Jahrtausende war es der einzig verfügbare.

"Solvitur ambulando", "es löst sich im Gehen" soll der heilige Augustinus gesagt haben, wenn es nicht, wie andere meinen, der antike Philosoph Diogenes von Sinope gewesen ist. Jedenfalls ging und löste man: Der chinesische Mönch Xuanzang spazierte im 7. Jahrhundert nach Indien und kam 17 Jahre später mit buddhistischen Texten wieder zurück; der britische Entdecker Stanley durchquerte im 19. Jahrhundert zweimal ganz Afrika; Werner Herzog ging 1974 zu Fuß von München nach Paris, weil er die dort sterbende Regisseurin Lotte Eisner so zu heilen hoffte.

Im Gehen erfüllt sich nicht nur ein praktischer Zweck, sondern auch ein spiritueller: Gehen ist Meditation, Mystik, innere Reinigung. Wir gelangen an entfernte Orte, draußen in der Welt und drinnen in uns. Wir verlassen unseren Standpunkt, erlangen neue Aus- und Einblicke, erschließen uns frische Wege - und die führen mitnichten nur von A nach B, sondern an noch ganz andere Orte: für Poeten zu Gedichten, für Komponisten zu Opern, für Philosophen zu Gedankenwelten, für jeden von uns zu inneren Einsichten und äußeren Schönheiten.

Im Gehen erlebt man die Welt, wie sie ist. Die Sonne auf dem Kopf, den Wind im Gesicht, die Erde unter den Füßen: Gehen ist Reisen in real time, ohne Verzerrung, ohne Filter, ohne Hilfsmittel. Wir und die Welt, und nichts dazwischen außer ein Paar Schuhe. "Ich gehe nicht, um anzukommen", meinte Montaigne, "ich gehe um des Gehens willen." Es ist die älteste und fundamentalste Art des Reisens, und vielleicht ist es auch die schönste. Aber zugegeben: Die schnellste ist es nicht.

In der Eisenbahn#

Lange Zeit gab es keine wirklichen Alternativen. Wer um 1700 auf eine Kutsche sprang, der erreichte eine Spitzengeschwindigkeit von 2 km/h - und war damit langsamer als zu Fuß. Doch dann kam 1825, kam Stephenson, die Eisenbahn und mit ihr eine touristische Revolution. Das Tempo des Reisens erhöhte sich auf Schwindel erregende 35 km/h, seine Kosten sanken auf ein Zehntel, sein Radius und seine Zielgruppe erweiterten sich drastisch. Das Unterwegssein war nicht mehr der Zeitvertreib der Eliten, es demokratisierte sich Zug um Zug, Waggon um Waggon. In ihnen saß der Adelige plötzlich neben dem Arbeiter, und beide sahen aus dem Fenster und erfreuten sich der derselben vorbeiziehenden Landschaft.

"In einem Zug ist alles möglich: Ein gutes Essen, ein Kartenspiel, eine Intrige, ein tiefer Schlaf, ein Monolog eines Fremden, der sich ausnimmt wie eine russische Kurzgeschichte." Für Paul Theroux, den bekanntesten und griesgrämigsten (US-)Reiseschriftsteller der Gegenwart, ist die Eisenbahn deshalb kein Verkehrsmittel, sondern ein Ort. Man kann darin herumspazieren, sich im Bordbistro ein Bier bestellen, und dann mit wildfremden Mitreisenden über das Leben und die Liebe und den neuen ÖBB-Fahrplan diskutieren. Im Zug sind die Menschen umgänglich und gesprächig, vielleicht, weil sie Zeit haben und Ruhe und meist nichts Besseres zu tun, vielleicht aber auch, weil im Hintergrund immer ein so schöner Film läuft. Eingerahmt von einem großflächigen Fenster, vertont mit dem beruhigenden Rattern der Schienen, zieht dort die Welt als Serie vorbei. Fast alle Episoden sind gut, und immer sind sie neu.

Jetzt gibt es nicht wenige Menschen, die behaupten, dass man von einer Reise niemals als derselbe wieder zurückkehren kann, als der man aufgebrochen ist. "In Menschen, die unterwegs sind, findet immer eine Veränderung statt", schreibt John Steinbeck. "Besonders gilt das aber auf einem Schiff. Dort ändern sich ganze Persönlichkeiten."

Auf dem Schiff#

Rüttelt eine Schiffsreise von Bristol nach New York tatsächlich mehr an der Psyche als eine Zugfahrt von Wien Meidling nach Bruck an der Mur? Wahrscheinlich schon, der Atlantik ist stärker als der Semmering. Wer auf einem Schiff über das Meer fährt, der setzt sich zur Gänze aus: der unendlichen Weite des Ozeans zum Einen, der klaustrophobischen Enge der Bordgesellschaft zum Anderen.

In der Geschichte der Seefahrt ist Letzteres ein relativ neues Problem; die meiste Zeit war man mit existenzielleren Fragen beschäftigt. Wie man nicht untergeht, zum Beispiel, oder wie man sich monatelang mit brackigem Fasswasser und ranzigem Pökelfleisch am Leben hält. 9000 Jahre nach der Erfindung der ersten Wasserfahrzeuge sind diese Probleme größtenteils gelöst, heute stehen Schiffsreisende an All-Inclusive-Buffets und fragen sich, ob sie sich ein Mousse-au-Chocolat oder nicht doch eher das Zitronensorbet genehmigen sollen.

Der amerikanische Autor David Foster Wallace überlebte eine Woche Kreuzfahrt und berichtete danach: "Ich habe erwachsene US-Bürger gehört, erfolgreiche Geschäftsleute, die an der Rezeption wissen wollten, ob man beim Schnorcheln nass wird . . . ." Die Überseefahrt hat sich verändert, seit Fulton 1807 das Dampfschiff erfunden hat - doch das Meer ist dasselbe geblieben. Es ist kraftvoll, beängstigend und schön, und wenn man lange genug an der Reling steht, dann überkommt einen irgendwann ein tiefes Gefühl von Ehrfurcht, von Bescheidenheit. Oder ein tiefer Brechreiz. Das Wasser und das Mitternachtsbuffet sind mächtige Elemente.

Im Auto#

1885 baute Carl Benz das erste Auto, zwei Kriege und einen Wirtschaftsboom später hatte jeder eines. Die Wohnzimmergarnitur für drinnen, der Volkswagen für draußen, man gönnte sich ja sonst nichts und wollte die neue Freiheit spüren: Reisen, wann und wohin das Herz begehrt.

Der PKW setzte die zweite große Tourismusexpansion in Gang, und mit ihr ungeheure Blechlawinen, die sich seither Sommer für Sommer ächzend in Richtung Süden schieben. Hit the road Jack, aber muss es denn immer die Autobahn nach Lignano sein? Und kann man nicht woanders stehen bleiben, als nur fürs Tanken und den Schnitzelteller bei Raststationen? "Wenn es eine Möglichkeit gibt, weniger von einem Land mitzubekommen als in einem Auto, muss ich sie erst kennenlernen" hat der britische Forschungsreisende Eric Newby einmal gesagt. Es stimmt schon: Die Straße ist Leben, ein Roadtrip pure Freiheit. Wir setzen uns hinters Steuer und können fahren, wohin wir wollen. Aber meistens fahren wir dann doch daran vorbei.

Per Flugzeug#

Mittlerweile sind wir auf der höchsten Stufe der touristischen Evolution abgekommen: Wir ziehen in Flughäfen unsere Schuhe und Gürtel aus, lassen uns nacktscannen, zwängen uns in das Innere eines nach Desinfektionsmitteln riechenden Aluminiumschlauchs und steigen nach zwei vakuumverpackten Mahlzeiten und drei seichten Hollywoodfilmen in einer anderen Zeitzone wieder aus.

Wir überfliegen die Welt, und wir schauen dabei nicht einmal mehr aus dem Fenster. Am Bildschirm wird sie ja ohnehin gezeigt, und grafisch ist sie dort viel besser aufbereitet: Distanz, Flughöhe, Temperatur, Geschwindigkeit, alles da, wozu da noch den Kopf bewegen? Die Einführung von großräumigen Düsenflugzeugen hat in den 1960er Jahren den Flugverkehr für die Massen geöffnet, Raum und Zeit schrumpfen lassen, die Welt vor uns aufgeschlagen wie ein offener TUI-Katalog. Wir fliegen an fernste Destinationen. Wir sammeln Meilen. Wir kaufen on-board Duty-Free. Aber wieso klatscht eigentlich niemand mehr bei der Landung?

Leerlauf#

Vielleicht ahnen wir, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Dass wir uns zu schnell bewegen, um richtig anzukommen. Und dass wir deshalb auf unsere Seele warten müssen, wie auf ein Stück verlorenes Gepäck. Sie muss hängengeblieben sein, sich irgendwo verheddert haben in diesem engmaschigen Netz aus Schienen-, Straßen-, Schiffs- und Flugwegen, das uns die Welt erschließt.

Doch unter ihm liegt die Erde wie eh und je, ihre Meere und Flüsse und Berge und Täler, und wir könnten unsere Gürtel anbehalten und unsere Schuhe auch, und uns einfach auf den Weg machen. "Der Weg zum Paradies ist bereits das Paradies", verspricht ein alter Sinnspruch, und wenn das stimmt, dann ist es letztlich egal, wie wir uns bewegen - solange wir dabei nach rechts und links schauen. Unsere Seele mitschauen lassen. Und hin und wieder ein paar Gänge runterschalten.

Daniel Rössler, Soziologe und Autor, arbeitet derzeit in Papua-Neuguinea. In der Kunst des Reisens übt er sich seit eineinhalb Jahrzehnten, Details unter www.apodemiker.com

Wiener Zeitung, Samstag, 12. August 2017