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Reise ans Ende der Nacht #

Wer dieses Buch liest, ist genötigt, im Angesicht der Welt tatsächlich zu erwachen, meint Erich Klein über Nir Barams Roman „Erwachen“. Der Coming-of-Age-Roman erzählt zugleich ein Stück israelischer Geschichte. #


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (10. September 2020)

Von

Erich Klein


Panik durchzuckt den Schriftsteller Jonathan, als er nach Abschluss eines Literaturfestivals in einem verwüsteten Hotelzimmer in Mexiko aufwacht. War es ein Traum, was ihm da eine junge Frau in der vergangenen Nacht im Rausch zuflüsterte – sein bester Freund sei gestorben?

Nir Baram entfaltet in seinem Roman „Erwachen“ ein anfänglich verwirrendes, dann immer bedrohlicher werdendes Spiegelspiel der Identität; die Verwandlung von Glück in Unglück, von Leben in Tod bricht lawinenartig in sprachlich wilden Tiraden über Protagonist und Leser herein. Im Zentrum des Coming-of-Age-Romans aus dem Israel der 1980er und 1990er Jahre stehen zwei Verluste: der Tod von Jonathans Mutter und der Selbstmord des Freundes Joël.

Israel, viviseziert #

Das populäre Genre der Autofiktion wäre für den 1976 in Jerusalem geborenen Nir Baram vermutlich ein zu simples Verfahren gewesen, um den schmerzhaften Übergang von Kindheit zum Erwachsenen- Dasein literarisch zu verarbeiten. Dafür hatte der heute 44-jährige Shooting- Star der israelischen Literatur schon zu viel Welt, Geschichte und Politik in komplexes Buchmaterial verwandelt. Auf sein fantastisch-surreales Romandebüt „Der Wiederträumer“ (2009) mit Schauplatz Tel Aviv, in dem einer die Träume seiner Mitmenschen regelrecht zu lesen versteht, folgte mit „Gute Leute“ (2012) ein opulentes Erzählpanorama – banal böse Opportunisten machen in den Imperien von Hitler und Stalin steile Karrieren; in „Weltschatten“ (2016) demontierte er am Beispiel von Börsenspekulanten und Friedensaktivisten, die zu Waffenhändlern mutieren, das gegenwärtige Israel der Globalisierung.

Auch journalistisch hatte sich der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Nir Baram längst zwischen alle Stühle gesetzt – in seinem Reportage-Band „Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reistin die besetzten Gebiete“ (2016) erteilte er allen frommen Wünschen nach einer einfachen Zwei- Staaten-Lösung des Palästinenser- Konfliktes eine rigorose Absage.

Mit dem Roman „Erwachen“ bricht er folgerichtig in die eigene Biografie wie in einen fremden Kontinent auf, um in einem Atemzug auch das ganze Land am lebendigen Leib zu vivisezieren.

„Die Vergangenheit liegt noch vor uns“, denkt Jonathan, der mit einer Schreibblockade hadert, unkontrolliert in seinen Laptop hämmert, während er an seinen jungen Sohn denkt, sogleich alles wieder löscht, er wiederhole sich ja nur noch selbst. Um ans „Ende der Nacht“ zu gelangen, wie der Roman im Original heißt, muss alles von Neuem aufgerollt werden.

Idyllische Jugendzeit #

Im Unterschied zu den großen Wendepunkten der israelischen Geschichte wie Staatsgründung oder Sechstagekrieg ist es eine verhältnismäßig friedliche „kleine“ Zeit, in der Jonathan und Joël, beide Mitte der 1970er Jahre geboren, im bürgerlichen Bezirk Beit Hakerem im Südwesten Jerusalems aufwachsen. Sie treiben sich in den damals noch nahegelegenen Wäldern herum, in der Nähe befindet sich ein Rüstungsbetrieb; es gibt Straßenschlachten und „schmutzige“ Spielchen mit gleichaltrigen Mädchen, bei denen Jonathan sich immer schamhaft zurückhält, Pornoheftchen kursieren. Jonathan und Joël haben sich ein Königreich der Fantasie geschaffen, das sie als „Welt der Türme“ bezeichnen; ein irgendwie unheimliches, zugleich aber auch unverbrüchliches Imperium der Freundschaft, das erst zerfällt, als einer der beiden die Clique wechselt.

In Zeitsprüngen zwischen den 1980er und 1990er Jahren erfahren wir von der teilweise jemenitisch- jüdischen Vorgeschichte von der Familie Jonathans, der sich anders als der Sonnyboy Joël im Gestrüpp jugendlicher Verliebtheit in diverse Mädchen lange nicht zurechtfindet. Dass es sich bei Beit Hakerem um ein Paradies handelt, das es zu verlassen gilt, wird schrittweise immer deutlicher. Jonathan beginnt gegen die Welt seiner Herkunft, in der sich die Menschen „zur Mittagsruhe gemütlich auf dem Balkon räkelten und immer über zu viel Lärm klagten“, aufzubegehren. Am Schabbat fährt er mit Freunden am liebsten in die Wüste und dröhnt sich mit Pop und Punk zu. Mit einer im Bezirk auftauchenden Horde israelischer Soldaten, die gerne Araber verprügeln, werfen Libanon-Krieg und die beginnende Intifada erste Schatten auf die noch immer unbekümmerte Idylle.

Die jungen Männer beginnen, sich politisch zu engagieren: „Joël und er stellten fest, dass bis Anfang der neunziger Jahre die starke Sehnsucht nach dem Westen stets die Erkenntnis nach sich zog, wie weitab vom Schuss Israel war, nun aber glaubten alle, das sie dank der besseren Beziehungen zu den Arabern in der westlichen Welt wenigstens einen Katzentisch ergattert hatten.“ Für den postzionistisch nachgeborenen Jonathan ist die Welt kurzzeitig wieder in Ordnung, wenn Guns N’ Roses und Metallica in Israel auftreten.

Existenziell schärfer als der Protest gegen religiöse Sitten und Bräuche fällt der Spott über die Ideale der Eltern aus, die noch immer der alten Illusion eines „sozialistischen Zionismus“ nachhängen, auch wenn sich bei ihnenlängst Zweifel breitmachen: „Das provinzielle Israel schien zu Bruch zu gehen, in dem ihre Eltern mit einer Mischung aus Bewunderung und Ablehnung auf die westliche Welt sahen, sich von New York, London und Kalifornien verführen ließen und gleichzeitig von der grundlegenden Korruptheit und der moralischen Überlegenheit ihrer sozialistischen Werte überzeugt waren.“

Den radikalsten Einschnitt seiner Jugend erlebt Jonathan schließlich, als er von der Krebsdiagnose seiner noch relativ jungen Mutter erfährt. Wie ist es möglich, dass sie, die Mitarbeiterin im Bildungsministerium, die immer von russischer Literatur vorgeschwärmt hatte und dem Sohn im Streit gelegentlich auch vorwarf, er habe einen „Gestapo- Blick“, wie ist es möglich, dass sie dem Tod geweiht sein soll? Soeben war sie doch noch mit einem Verehrer zum Tanzen gegangen, während sich der Vater und Ehemann, selbst hochrangiger Beamter und Minister, auf Auslandsreise befand. Besagter Vater begibt sich mit der Mutter für deren Krebstherapie nach New York und fordert Jonathan auf, der Mutter einen Abschiedsbrief zu schreiben.

„Der Blick auf den bevorstehenden Tod kehrt blind zurück“, heißt es über Jonathans hinter Aggression und Flapsigkeit verborgene Angst, die Mutter zu verlieren. Mit deren eindringlicher Schilderung setzt Nir Baram nicht nur der Mutter ein imposantes indirektes Denkmal – stellenweise teilt sich dem Leser Jonathans Panik angesichts des bevorstehenden Verlustes auf geradezu unerträgliche Weise direkt mit. Als sich die Mutter ein letztes Mal ins Krankenhaus begibt, streicht sie zum Abschied von der eigenen Wohnung noch einmal mit der Hand über Wände, Bilder und Bücher … In der Stadt explodieren zur selben Zeit Autobomben. Einen letzten Besuch im Krankenhaus verweigert Jonathan.

Im Angesicht der Welt #

In die Geschichte vom Sterben der Mutter ist die Wiederbegegnung mit dem Kindheits- und Jugendfreund Joël, der bereits an schweren Depressionen leidet, hineinverwoben. Mit ihm unternimmt Jonathan noch einmal eine Reise nach Irland, und es ist dieser zweite, ebenso schmerzlich empfundene Verlust, von dem am Anfang des Buches die Rede war. Und Jonathan erinnert sich an eine Frage, die ihm Joël einst stellte: „Glaubst du wirklich, dass man diese Welt mit einem Plot, ein paar Figuren ergründen kann, dass du auch nur ein Körnchen vom dem berührt hast, was hier wirklich war?“ Nir Baram ist mit „Erwachen“ genau das gelungen – ein Kunstwerk, von dem es einst hieß: „Es ist hier keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Wer dieses Buch liest, ist genötigt, im Angesicht der Welt tatsächlich zu erwachen.

Buchcover: Erwachen

Erwachen. Roman von Nir Baram

Übersetzt von Ulrike Harnisch

Hanser 2020 352 S.,

geb., € 25,70

Die Furche, 10. September 2020