Vernunft, die Kreise gezogen hat#
Universität Wien widmet in ihrem Jubiläumsjahr dem "Wiener Kreis" die weltweit erste Ausstellung.#
Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 20. Mai 2015) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Heiner Boberski
Wien. Er existierte nur von 1924 bis 1936 - der "Wiener Kreis", dem nun erstmals eine Ausstellung zuteil wird. Doch diese zwölf Jahre hatten "so viel geistesgeschichtliche Dramatik in sich, dass es Tolstoi oder Shakespeare gebraucht hätte, um das entsprechend darzustellen", sagt der Mathematiker Karl Sigmund, der die Schau an der Universität Wien mit dem Zeithistoriker Friedrich Stadler kuratiert hat. Deren Untertitel, "Exaktes Denken am Rand des Untergangs", weist bereits darauf hin, wie schwer es diese Vertreter der Vernunft und Logik damals hatten, ehe ihr Zirkel tragisch endete.
In einem Pressegespräch zur Ausstellung, die bis 31. Oktober läuft, nannte Heinz Engl, Rektor der Universität Wien, die in Amerika als "Vienna Cercle" wohlbekannte Gruppe nach heutigem Sprachgebrauch eine "Forschungsplattform", in der im besten Sinn interdisziplinär gearbeitet wurde: Hier hätten Mathematiker und Philosophen, Physiker und Sozialwissenschafter miteinander reden und Ideen entwickeln können, die bis heute Gültigkeit haben.
Wittgenstein und Gödel#
Im Eingangsraum sind die führenden Köpfe der Gruppe abgebildet: Philipp Frank, Otto Neurath, Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Moritz Schlick, Friedrich Waismann, Kurt Gödel, Hans Hahn, Karl Menger. 1924 initiierte der Philosoph Moritz Schlick mit dem Mathematiker Hans Hahn und dem Sozialreformer Otto Neurath den "Wiener Kreis des Logischen Empirismus", der sich jeden zweiten Donnerstag im Seminarraum für Mathematik in der Boltzmanngasse 5 traf, gefolgt von "Nachsitzungen" im nahen Café Josefinum. Als geistige Vorläufer des Zirkels stellt die Schau den Physiker und Philosophen Ernst Mach (1838-1916) und den Physiker Ludwig Boltzmann (1844-1906) vor. Kontakt zum "Wiener Kreis" hatten auch die Mathematikerinnen Olga Hahn-Neurath und Olga Taussky sowie Philosophen wie Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein oder Karl Popper. Unter den in der Schau gezeigten Autographen fällt die handschriftliche Einfügung Wittgensteins in eines der drei originalen Typoskripte seines "Tractatus" auf: "und es ist nicht verwunderlich, dass die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind".
Die geistigen Auseinandersetzungen dieser Epoche spiegeln sich in zahlreichen Zitaten an den Wänden. Da heißt es zum Beispiel vom Mathematiker Kurt Gödel: "Die Philosophie ist heute bestenfalls dort, wo die Mathematik zur Zeit der Babylonier war." Wittgenstein wird zitiert mit dem Satz: "Die Philosophie ist der Kampf gegen die Verhexung des Verstandes durch die Sprache." Von Ernst Mach stammt die Aussage: "Meine Absicht ist nicht etwa, eine neue Philosophie einzuführen, sondern eine alte abgestandene aus derselben zu entfernen."
Mit seinem modernen, rationalistischen, aufklärerischen Auftreten stieß der "Wiener Kreis" auch auf erbitterte Gegner, wobei politischer Fanatismus und Antisemitismus eine immer größere Rolle spielten. 1934 starb Hans Hahn, im gleichen Jahr ging Otto Neurath ins Exil. Mit der Ermordung von Moritz Schlick durch einen ehemaligen Studenten auf der Philosophenstiege der Universität Wien am 22. Juni 1936 gingen die Treffen des Kreises zu Ende.
Kurator Friedrich Stadler würdigt am "Wiener Kreis" die "Verwissenschaftlichung der Philosophie" und die Erkenntnis, "dass es mehr Gemeinsamkeiten der Fachwissenschaften gibt, als man meint". Für den Medienkünstler Peter Weibel sind dem Kreis "die Grundlagen der digitalen Revolution" zu verdanken. Weibel hat mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, an das die Schau später weiterwandern soll, ein "Panorama-Lab" entworfen, eine 20 Quadratmeter große kreisrunde Projektionsfläche, die eine Interaktion mit zahllosen Bildern und Texten aus zwölf Themenbereichen erlaubt.
Wirkung im englischen Raum#
Die Schau liefert, auch mit einem eigenen Filmraum, umfassende Informationen zum "Wiener Kreis", setzt aber auch spezielle Schwerpunkte - etwa zur "Wiener Methode der Bildstatistik" von Otton Neurath, zum Roten Wien, zur Mathematik oder zu Wittgenstein. Zu Recht hebt die Ausstellung hervor, dass die meisten Angehörigen dieses Kreises in der NS-Zeit vertrieben wurden, vielfach in England oder in den USA Karriere machten und dort wirksam wurden, dass aber später nichts getan wurde, um sie zurückzuholen. Ein Einziger von ihnen, der Wissenschaftstheoretiker Victor Kraft, bekam wieder einen Lehrstuhl an der Uni Wien. Er war der Doktorvater der Dichterin Ingeborg Bachmann. Deren Dissertation über Martin Heideggers Philosophie gehört zu den vielen originellen Objekten dieser sehenswerten Ausstellung.