Flüchtige Keimzelle radikaler Moderne #
Die abstrakten Überlegungen seiner Protagonisten führen vom goldenen Zeitalter der österreichischen Philosophie in die digitale Welt unserer Gegenwart: Eine Ausstellung an der Universität Wien beleuchtet das Wirken des Wiener Kreises und sein schillerndes Umfeld. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 23. Juli 2015)
Von
Martin Tauss
Dass der Eintritt ins Computer- Zeitalter nicht nur einen Epochenwandel, sondern einen „Zeitenbruch“ darstellt, davon sind die Autoren des heuer erschienenen „Onlife-Manifesto“ überzeugt. Die bunt gemischte Gruppe, die im Auftrag der EUKommission über den digitalen Wandel unserer Gesellschaft geforscht hat, sieht es an der Zeit, darauf mit einer neuen Art des Denkens zu reagieren: Innovative Begriffs- und Konzeptarbeit sei jetzt erforderlich, um „das Schiff auf offener See umzubauen.“
Dieses Bild hat Otto Neurath bereits in den 1930er-Jahren geprägt, und diese Bezugnahme auf den Wiener Ökonom und Wissenschaftstheoretiker ist kein Zufall: Zählte er doch mit dem Philosophen Moritz Schlick und dem Mathematiker Hans Hahn zu den Gründerfiguren eines intellektuellen Zirkels, der als Wiener Kreis in die Geschichtsbücher eingegangen ist – und dessen Strahlkraft prägende Entwicklungen der Gegenwart angeregt, beflügelt oder sogar vorweggenommen hat. Ab 1924 traf sich der Denkerzirkel regelmäßig in einem kleinen Hörsaal in der Boltzmanngasse im neunten Bezirk. Fünf Jahre später erschien das Manifest für eine „Wissenschaftliche Weltauffassung“, das nicht nur für eine empirisch-rationale Philosophie, sondern auch für sozialpolitische Reformen Stellung bezieht.
Pioniere und Grenzgänger #
Anlässlich ihres 650-jährigen Jubiläums würdigt die Universität Wien den einflussreichen Kreis nun mit der bisher umfangreichsten Ausstellung, die sich mit dem Wirken seiner Protagonisten auseinandersetzt, einschließlich der geistigen Quer- und Fernbeziehungen. Denn im Umfeld des Wiener Kreises tummelten sich etwa die Philosophen Karl Popper und Ludwig Wittgenstein, aber auch Literaten wie Robert Musil oder Leo Perutz. Und der brillante, aber psychisch labile Wiener Logiker Kurt Gödel wurde, trotz erheblicher Altersdifferenz, einer der engsten Freunde von Physik-Nobelpreisträger Albert Einstein.
Der fächerübergreifende Austausch in der Forschung, der heute so gern beschworen wird, wurde in dieser Keimzelle der radikalen Moderne exemplarisch verwirklicht: So waren Philosophen wie Moritz Schlick zugleich ausgezeichnete Physiker, und Grenzgänger wie Kurt Gödel erkundeten das Feld zwischen Mathematik und Philosophie. Das interdisziplinäre Denken des Wiener Kreises hat etwa die analytische Philosophie, die Quantenphysik und die Wirtschaftswissenschaften geprägt.
Von der Logik zur Informatik #
Aus der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts ist dieses akademische Netzwerk der Zwischenkriegszeit jedenfalls nicht mehr wegzudenken: „Zu seinen bedeutendsten Errungenschaften zählen wohl die Arbeiten zur Logik“, resümiert Karl Sigmund, emeritierter Mathematik-Professor der Universität Wien, der die Ausstellung gemeinsam mit dem Wissenschaftshistoriker Friedrich Stadler kuratiert hat. „Insbesondere Kurt Gödel und der Philosoph Rudolf Carnap nehmen hier einen Ehrenplatz ein: Ihre abstrakten Überlegungen haben Computer-Pioniere wie Alan Turing und John von Neumann in den 1940er-Jahren dazu gebracht, die ersten programmierbaren Rechner zu entwickeln. Insofern gibt es eine direkte Linie von der symbolischen Logik Carnaps und Gödels zur Informatik.“ Die Ausstellung zeigt Bilder der Forscher die stolz vor den ersten Computern stehen. Das britische Modell hieß zu Recht „Colossus“ – ein riesiger Röhrenkasten, der rasch zur Überhitzung neigte.
In einem antisemitisch-reaktionären Umfeld wurde der Wiener Kreis mit seinen aufklärerischen und sozialreformerischen Impulsen rasch zum Feinbild. In den 1930er-Jahren kam es zur schrittweisen Auflösung, einhergehend mit der Emigration vieler Protagonisten. Im Sachbuch von Karl Sigmund zeigt sich der große Bogen dieses dramatischen Stücks Wissenschaftsgeschichte, dessen Ende 1936 mit der Ermordung Schlicks im Hauptgebäude der Uni Wien eingeläutet wurde. Vertreibung und Verfolgung, Liebschaften, Nervenzusammenbrüche und Selbstmord sind Episoden der spannend erzählten Geschichte.
Aber zurück zu Otto Neurath: Die Symbole, die uns heute etwa auf Flughäfen weltweit den Weg weisen, gehen zurück auf seine Versuche, eine internationale Bildersprache zu finden und komplexe Statistiken in simple Zeichen zu gießen. Auch diese Wiener Methode der Bildstatistik ist auf historischen Tafeln zu besichtigen.
Multimediale Navigation #
„Worte trennen, Bilder verbinden“, hatte der Sozialreformer unermüdlich betont. Die visuelle Aufbereitung von Daten spielt heute eine wichtige Rolle, um Zusammenhänge anhand von Bildern erfassen zu können. „Wenn riesige Datenmengen nur in Tabellen angeführt sind, bleiben sie nichtssagend“, bemerkt Sigmund. Dazu passend gibt es eine vom Medienkünstler Peter Weibel gestaltete Projektionsfläche, die zur multimedialen Navigation einlädt.
Letztlich führt die Ausstellung die reichen Früchte der intellektuellen Auseinandersetzung im Wien der 1920er- und 1930er-Jahre eindrucksvoll vor Augen – ebenso wie die schmerzliche „Geistesaustreibung“ noch im Vorfeld des NS-Regimes.
Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs. Von Karl Sigmund.
Springer 2015.
357 Seiten, kart., €22,80