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Traktat eines Unorthodoxen#

Trotz der Verweigerung eines systematischen Werks ist Ludwig Wittgenstein bis heute einer der einflussreichsten Philosophen.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 11. August 2018

Von

Friedrich Stadler


Ludwig Wittgenstein
Hat zeit seines Lebens die Sprache zum Gegenstand des Philosophierens gemacht: Ludwig Wittgenstein (1889-1951)
Foto: © Ch. Brandstätter Verlag, Wien, für AEIOU

Ludwig Wittgenstein zählt zu den einflussreichsten und faszinierendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine Wirkung reicht in die gesamte Welt der Gegenwart - und er war eine der schillerndsten Figuren der österreichischen Geistesgeschichte.

Er entstammte einer reichen, teilweise jüdischen bürgerlichen Familie mit acht Kindern. Sein Vater war der Begründer der Stahlindustrie in Böhmen und zugleich Mäzen im Wiener Kulturleben, der etwa die Secession gesponsert hat. Wittgenstein war eigentlich ursprünglich an Technik und Aerodynamik interessiert. Er studierte in Linz, Berlin und Manchester und hat sich erst nach Kenntnis der Schriften von Bertrand Russell für die Philosophie interessiert. Diesen Lektüretipp hatte er von Gottlob Frege bekommen - und ihn ernst genommen. In Cambridge hat er Russell und dessen Kollegen George Edward Moore besucht. Die beiden haben ihn schließlich - nach einigen Zweifeln auf beiden Seiten - zur Philosophie gebracht.

Während des Ersten Weltkriegs diente Wittgenstein an mehreren Fronten im Osten und Süden - und das Faszinierende ist, dass er praktisch im Krieg und an den Fronten sein berühmtes Hauptwerk, den "Tractatus logico-philosophicus", schrieb. Das ist ein Büchlein von nicht mehr als 115 Seiten, das trotz schwieriger Publikationsgeschichte innerhalb kürzester Zeit Karriere gemacht hat. Im deutschsprachigen Raum vor allem im "Wiener Kreis", und im englischsprachigen Raum durch die Vermittlung von Russell, Moore - und auch durch den jungen Cambridge-Philosophen Frank Plumpton Ramsey.

Fehlerhafte Erstauflage#

Das Büchlein erschien in erster Auflage allerdings 1921 unter dem Titel "Logisch-philosophische Abhandlung" auf Deutsch in der letzten Nummer von Wilhelm Ostwalds "Annalen der Naturphilosophie". Es war sehr fehlerhaft und Wittgenstein war sehr verärgert, dass er nicht vorher Korrekturen vornehmen konnte. Es ist Bertrand Russell, seinem Freund und späteren, kann man sagen, Antipoden zu verdanken, dass dieses Büchlein 1922 in einer Übersetzung von Frank Ramsey als "Tractatus logico-philosophicus" auf Deutsch und Englisch erschien, mit einer von Wittgenstein kritisierten Einleitung von Russell. Seitdem war dieses Werk ein Fanal oder ein Anlass für die Reform der Philosophie, manche sagen sogar für eine Revolution in der Philosophie.

Worum geht es?#

Wittgenstein hat zeit seines Lebens die Sprache zum Gegenstand des Philosophierens gemacht und er hat die Grenzen der Sprache, die Möglichkeiten, aber auch die Fallen immer wieder ausgelotet. Der bekannteste Satz des Traktats - "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen" - ist Ausdruck dieses radikalen Umgangs mit Sprache, die Wittgenstein als logische Abbildtheorie verstanden hat und die er dann in der Mitte seiner Schaffensperiode revidierte, bis hin zu seiner Sprachspielkonzeption der "Philosophischen Untersuchungen", die allerdings erst 1953 postum, zwei Jahre nach seinem Tod, erschienen sind.

Was war das Motiv für Wittgenstein? Er hat die moderne Logik von Frege, Russell und Whitehead aufgenommen und sie für seine Sprachkritik, für seine Kritik an der herkömmlichen Philosophie verwendet. Und er beginnt in dem Vorwort des "Tractatus" sehr programmatisch, wenn er sagt: "Das Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt, wie ich glaube, dass die Fragestellung dieser Probleme auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruht."

Grenze des Denkens#

Er war so radikal und konsequent, dass er schon in der Einleitung verkündet: "Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen oder vielmehr nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken".

Das war für die damalige Zeit, die 1920er Jahre, die ja eine Aufbruchsbewegung darstellte, eine Provokation - einerseits für die herkömmliche metaphysische und auch akademische Philosophie, andererseits auch ein Angebot für all diejenigen, die die Jahrtausende alte Philosophiegeschichte überwinden wollten, nämlich mit der Frage, ob es einen Fortschritt seit Plato und Aristoteles gibt.

Wittgensteins Büchlein wurde deshalb in Wien, vor allem im "Wiener Kreis", dieser Gruppe logischer Empiristen rund um Moritz Schlick, mit Begeisterung aufgenommen und sehr kontroversiell diskutiert. Es gab auch direkte Kontakte und Gespräche, die allerdings dazu führten, dass sich Wittgenstein ab 1929 nicht mehr mit allen Mitgliedern dieses Kreises treffen wollte, sondern nur noch mit dem Begründer Moritz Schlick und seinem Schüler Friedrich Waismann, der zeit seines Lebens den "Tractatus" popularisieren wollte.

Aber Wittgenstein hat seine Philosophie immer wieder revidiert, verändert, transformiert, modifiziert, sodass es zu solch einer Publikation nie gekommen ist. Eine tragische Geschichte, die auch im Verhältnis Wittgensteins zu anderen Freunden und Zeitgenossen zum Ausdruck gekommen ist.

Das Haus im dritten Wiener Bezirk, das Wittgenstein für seine Schwester entworfen hat
Klare Strukturen: Das Haus im dritten Wiener Bezirk, das Wittgenstein für seine Schwester entworfen hat. 1993.
Foto: Robert Schediwy. Aus: Wikicommons

Zwei Sprachfunktionen#

Was war das Faszinierende für den "Wiener Kreis"?

"Alles was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen", hat Wittgenstein geschrieben und mit diesem Diktum ein Angebot für die Abgrenzung des Sinnvollen vom Sinnleeren geliefert, aus der Sicht des Logischen Empirismus also für die Abgrenzung von metaphysischer Philosophie. Und die Sprache selbst kann zwei Funktionen haben: Die Klärung des Sinnes von Aussagen - und das Zeigen von dem, was nicht ausgesagt werden kann. In der Sprache zeigt sich eigentlich das Religiöse, das Schöne, das Metaphysische und anderes. Nun war es so, dass für Wittgenstein der zweite Teil, das Unaussprechliche, wichtiger war, während vom "Wiener Kreis" der erste Teil, das, was mit Hilfe einer exakten Sprache ausgesagt werden kann, präferiert wurde.

Und Wittgenstein hat mit seiner Methode der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Sätzen (was so viel heißt, dass die Logik als Mittel zum Zweck nichts über die Wirklichkeit aussagen kann), dem Philosophieren tatsächlich eine Grenze gezogen: Die Philosophie selbst sagt nichts über die Welt aus, über die Wirklichkeit, sie kann nur die Aussagen darüber klären und den Aussagen einen Sinn verleihen.

Die Verirrungen durch die Sprache, das ist das große Rätsel für Wittgenstein, auch in seiner mittleren und späten Phase. Wenn wir durch dieses Büchlein blättern, das aus sieben fundamentalen Sätzen besteht, die sich verästeln und verzweigen, so wird klar, dass Wittgenstein über mehrere Jahre um diese Logik der Sprache, die durch ihre Nummerierung avantgardistisch war, gerungen hat. Die Nummerierung und die Subsätze zu den sieben Hauptsätzen zeigten an, welche Gedanken welchen Kapiteln unterzuordnen seien. Aus heutiger Sicht versteht man das wie eine Baumstruktur, die nicht hierarchisch ist, die Verzweigungen aufweist und die letztlich immer weiter ausgebaut werden kann.

Es wird auch gerne das Bild eines Stadtplans verwendet oder einer Karte von U-Bahn oder Straßenbahn, um zu zeigen, was sich Wittgenstein mit seiner formalen Darstellungsweise gedacht hat. Die Radikalität, die Kompromisslosigkeit ist in diesen Sätzen durchgehend dokumentiert, und wir können, wenn wir wollen, mit dem Satz 4 - "Der Gedanke ist der sinnvolle Satz" - schon erahnen, dass es hier nicht darum geht, eine Abbildung der Wirklichkeit durch die Sprache herzustellen, sondern um eine Bildtheorie, bei der es um einen logischen Zusammenhang zwischen der Sprache und der Welt der Tatsachen geht.

Die Konsequenz von Wittgensteins Aussagen hat er selbst so ernst genommen, dass er letztlich zu dem Schluss gekommen ist, er habe alle philosophischen Probleme endgültig gelöst. Viele Sätze aus dem Tractatus haben in der Philosophiegeschichte und bis heute immer wieder für neue Diskussionen gesorgt, wie etwa Punkt 4.116: "Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen".

Keine Sätze der Ethik#

Die Schlussfolgerung, die Wittgenstein schließlich zieht, war eine metaphorische Formulierung, denn er war der Meinung, dass wir über die Sprache selbst nicht reden können, dass wir über die Sprache nichts aussagen können, denn entweder bildet die Sprache etwas ab oder es "zeigt" sich etwas in ihr. Daher Satz 6.24: "Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken. Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.)". Schließlich endet Wittgenstein mit dem berühmtesten Diktum 7: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Man fragt sich, warum dieses Werk neben einem Wörterbuch für Volksschulen das einzige publizierte zu Wittgensteins Lebenszeit blieb und eine solche Karriere gemacht hat. Denn Wittgenstein diente, nachdem er alle philosophischen Probleme gelöst zu haben glaubte, als Volksschullehrer am Lande in Niederösterreich (Trattenbach, Puchberg am Schneeberg, Otterthal)

Wittgenstein scheiterte zwar mehr oder weniger in dieser Funktion, aber er hat dort auch positive Spuren und Erinnerungen hinterlassen. Es gibt bis heute in dieser Gegend in Niederösterreich im Wechselgebiet, in Kirchberg, in der Nähe von Trattenbach und Otterthal, seit 1976 jährlich das große internationale Wittgenstein-Symposium, wohin die gesamte Wittgenstein-Community pilgert (wie im Laufe dieser Woche, Anm.).

Er hat nach dieser unglücklichen Phase, die ihn nicht befriedigt hat, sozusagen als Alternative mit seinem Freund, dem Architekten Paul Engelmann, in Wien ein Haus gebaut. Und das hat er genauso konsequent mitgestaltet wie er den "Tractatus" durchdacht hatte. Er hat die Proportionen, die Maße, die Innenarchitektur im Detail geplant und ausgearbeitet. Schließlich wurde dieses Haus in der Kundmanngasse im dritten Wiener Bezirk für seine Schwester Margarethe Stonborough fertiggestellt, die dann auch darin gewohnt hat. Und man kann heute noch das Haus besuchen, die sachliche Erscheinung außen betrachten und die Innenarchitektur bewundern.

Wittgenstein hat, nachdem er alle Probleme gelöst zu haben glaubte, auf Einladung des "Wiener Kreises" einen Vortrag des holländischen MathematikersLuitzen Brouwer 1928 in Wien besucht. Es ging um das Verhältnis von Mathematik, Logik und Wissenschaft. Nach diesem Vortrag und in lebendiger Diskussion mit den Teilnehmern hat er erkannt, dass es doch noch offene philosophische Probleme gibt, zum Beispiel, dass die Mathematik und Logik nicht rein tautologisch sind, weil sie auch via Intuition als empirische Wissenschaften aufgefasst werden könnten. Und dass die eindeutige Abbildtheorie von Sprache und Welt hinterfragt werden kann. Es gibt andere Verhaltensweisen des Menschen und andere Tatsachen, die dieser Struktur der logischen Form nicht entsprechen.

Was folgte?#

Wittgenstein war ökonomisch unabhängig. Er entschloss sich, nach Cambridge zurückzukehren. Sein "Tractatus" wurde als Dissertation von Russell und Moore anerkannt. Er wurde Fellow in Cambridge, Research Fellow, und war der Nachfolger von Moore: In den Jahren 1939 bis 1947, mit Unterbrechung im Zweiten Weltkrieg, hat er dessen Professur innegehabt. Er pendelte immer wieder zwischen Cambridge und Wien, besuchte Norwegen, Russland, Irland und starb 1951 schließlich allzu früh an einer Krebserkrankung in Cambridge, wo er im Hause seines Nachfolgers Georg Henrik von Wright in den letzten Jahren Gast gewesen war.

Die Spätphilosophie#

Er hat der Welt eine Botschaft hinterlassen, dass er eigentlich ein glückliches Leben geführt habe. Nun, ob das stimmt oder nicht, sei dahingestellt. Wittgenstein hat in diesen kurzen Jahren jedenfalls eine unglaubliche Schaffenskraft, Energie, Kreativität zu Tage gefördert - und er hat gegen Ende seines Lebens noch seine Spätphilosophie publizieren wollen, die "Philosophischen Untersuchungen", die - wie gesagt - erst postum erschienen ist.

Buchcover Tractatus logico-philosophicus
Buchcover Tractatus logico-philosophicus

Darin ist er von seiner Abbildtheorie im "Tractatus" abgegangen und hat die berühmte Sprachspielkonzeption eingeführt. Es geht also um die Bedeutung von Worten und den Gebrauch von Begriffen durch Sprachhandlungen. Und erst durch den Gebrauch in der Sprache oder der Sprache wird die Bedeutung offenkundig. Damit hat er einen weiteren Impuls für die Philosophie der normalen Sprache geliefert, die sogenannte ordinary language philosophy, die zwar nicht identisch war mit seinen Konzeptionen, aber die wie schon zuvor der "Tractatus" international intensiv diskutiert wurde - und wird.

Wenn wir diese faszinierende Biografie also kurz Revue passieren lassen, so können wir eigentlich nur sagen, Wittgenstein war eine einzigartige und einmalige Persönlichkeit. Er war kein typischer akademischer Philosoph, er war unkonventionell und hat "gegen den Strich gedacht", hat immer wieder seine eigenen Positionen in Frage gestellt.

Für niemanden leicht#

Das führte dazu, dass sein umfangreicher Nachlass mittlerweile auch mit digitalen Methoden erfasst werden kann und sich ein weiterer Kosmos seines Denkens öffnet. Er war nicht bereit, eine fix und fertige, systematische Philosophie zu vertreten, sondern hat immer den Zweifel, die Variation und schließlich die Infragestellung von Dogmen und Vorannahmen in den Vordergrund gerückt.

Wenn wir diese faszinierende Biografie ernst nehmen, historisch und philosophisch, so wird klar, dass konsequentes und ernsthaftes Denken zu wesentlichen Ergebnissen führt, auch dann, wenn es für den Betreffenden selbst nicht immer klar war. Wittgenstein hat zeit seines Lebens Zweifel gehabt, ob er etwas Großes geleistet hat, ob er würdig war, bewundert zu werden.

Er hat es sich selbst nicht leicht gemacht, und auch seiner Umgebung nicht. Es gab zahlreiche dramatische und tragische Geschichten mit Freunden und Bekannten zwischen Wien und Cambridge. Es ist vielleicht das Schöne daran, dass sie bis heute nicht abgeschlossen sind - und dass jedes Jahr in Kirchberg am Wechsel das Internationale Wittgenstein Symposium stattfindet!

Der Text basiert auf der redigierten Fassung eines Interviews, das der Autor einem italienischen TV-Sender gegeben hat.

Information#

Friedrich Stadler, geboren 1951, ist Wissenschaftsphilosoph und -historiker, Professor an der Universität Wien und Präsident der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft. www.alws.at

Zum Internationalen Wittgenstein Symposium zuletzt in der Wiener Zeitung erschienen:

  • "Sprache verstehen" - Interview mit Symposiums-Koorganisator Bernhard Ritter. Von Eva Stanzl.
  • "Die Mathematik als Lebensform" - der Wiener Mathematiker Karl Sigmund im Gespräch mit Eva Stanzl.

Wiener Zeitung, 11. August 2018


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