Wittgensteins Philosophie in Quasi-Aphorismen #
Vor 100 Jahren erschien erstmals der "Tractatus logico-philosophicus", das zentrale Werk Ludwig Wittgensteins, der vor 70 Jahren, am 29. April 1951, verstarb.#
Von der Wiener Zeitung (24. April 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Elisabeth Nemeth
"Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Dieser letzte Satz aus dem "Tractatus" ist angeblich der am öftesten zitierte Satz Ludwig Wittgensteins (1889-1951). Kein Wunder. Mit seiner Hilfe lässt sich jede lästige Diskussion mit einem Handstreich beenden. Ebenso gut eignet er sich zur Irritation von Philosophen und anderen Rede-Profis, die sich mit Schweigen bekanntlich schwertun. Der Satz lässt unvermeidlicherweise offen, was das, worüber man nicht sprechen kann, denn ist. Das ist beunruhigend. Lädt er womöglich zu Sprechverboten ein? Oder führt er in Sprachlosigkeit? In die Mystik? Immerhin lesen wir wenige Sätze vor diesem letzten Satz: "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische."
Der "Tractatus logico-philosophicus", vor 100 Jahren erstmals erschienen, ist ein in vieler Hinsicht merkwürdiger Text. In den Jahren nach seiner Fertigstellung sah Wittgenstein darin seine definitive Antwort auf die Grundlagenfragen der Mathematik und Logik, die er vor dem Ersten Weltkrieg mit Bertrand Russell in Cambridge heftig diskutiert hatte.
Dementsprechend geht es darin um höchst spezialisierte philosophische Probleme: um die logische Form von Sätzen, um Wahrheitsfunktionen, logische Konstanten, Tautologien und andere Bausteine aus der modernen Logik und Mathematik. Diese werden in einigen zentralen Abschnitten mit der von Frege und Russell entwickelten Symbolik dargestellt und untersucht.
Ansonsten arbeitet Wittgenstein mit einer höchst verknappten, gleichsam konzentrierten Alltagssprache. Er führt Begriffe mit scharf umgrenzten Bedeutungen ein ("Welt", "Tatsache", "Sachverhalt", "Satz"...), die im gesamten Traktat rigoros durchgehalten werden. Hinsichtlich seiner Form ist der Text als eine Abfolge quasi-aphoristischer Elemente konstruiert, die durch ein von Wittgenstein erfundenes System der Nummerierung in Dezimalzahlen gegliedert ist. Dieses vermittelt den Eindruck kristallener Klarheit, was aber eher ein Oberflächeneffekt ist.
Elisabeth Nemeth war bis zu ihrer Pensionierung 2016 außerordentliche Universitätsprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Wien. Derzeit ist sie Präsidentin der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft, die das jährliche Internationale Wittgenstein Symposium in Kirchberg veranstaltet (so das nicht durch eine Pandemie verhindert wird). Weitere Informationen siehe: www.alws.at
Wichtiger ist, dass die Verbindung von Alltagssprache, rigoroser Begriffsbestimmung und aphoristischem Format seiner Gedankenentwicklung eine große Freiheit erlaubt. Wittgensteins zentrales Thema - wie Aussagesätze durch ihre logische Form die Wirklichkeit darstellen - wird Schritt für Schritt vorangetrieben. Gleichzeitig verweisen unerwartete Wendungen, teilweise in Metaphern formuliert, auf Fragen jenseits logischer Analyse. Zwei Beispiele:
"4.014 Die Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen alle in einer jener abbildenden internen Beziehung zueinander, die zwischen Sprache und Welt besteht. Ihnen allen ist der logische Raum gemeinsam. (Wie im Märchen die zwei Jünglinge, ihre zwei Pferde und ihre Lilien. Sie sind alle in gewissem Sinne Eins.)"
"6.4311 Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist."
Sprache und Welt#
Zu Fragen der Ethik, Ästhetik und Religion hat die logische Analyse nach Wittgenstein absolut nichts zu sagen. Aber sie kann und soll aufzeigen, wo die Grenze zwischen dem Gebiet der empirisch gehaltvollen Aussagen (das sind letztlich die Aussagen der Naturwissenschaft) und der Ethik, Ästhetik und Religion verläuft. Ein weiterer Ausschnitt:
"4.113 Die Philosophie begrenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft.
4.114 Sie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen.
4.115 Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt."
Mit Hilfe der Unterscheidung zwischen dem, was ein Satz sagt, und dem, was ein Satz zeigt, entwickelt Wittgenstein eine neue Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Welt. Sie bringt aus seiner Sicht gravierende Konsequenzen für die Philosophie insgesamt mit sich. Und tatsächlich hat sie die Philosophie im 20. Jahrhundert um einen ganz neuen Typ des Philosophierens bereichert. Das Buch zeigt nämlich, so Wittgenstein im Vorwort, dass die "Fragestellung der philosophischen Probleme auf einem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruht". Und er meint, diese Probleme "im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben".
Später wird er davon sprechen, dass die logische Untersuchung philosophischer Probleme dazu führt, dass sie sich auflösen wie "wie ein Stück Zucker in Wasser". Allerdings ist diese Lösung nicht die ganze Botschaft. Der zweite Teil ist Wittgenstein im Tractatus-Vorwort mindestens ebenso wichtig: "Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht der Wert dieser Arbeit zweitens darin, dass sie zeigt, wie wenig damit getan ist, dass die Probleme gelöst sind."
Vorwort von Russell#
Den meisten seiner Zeitgenossen erschien das Werk, das Wittgenstein als Soldat im Krieg geschrieben und 1919 fertiggestellt hatte, vollkommen unverständlich. Einen Verleger zu finden erwies sich als schwierig. Schließlich erschien es 1921 unter dem Titel "Logisch-philosophische Abhandlung" in der letzten Nummer von Wilhelm Ostwalds "Annalen der Naturphilosophie" - freilich mit vielen Fehlern, weil Wittgenstein keine Korrekturen anbringen konnte. Mit der Unterstützung durch Bertrand Russell kam es 1922 zu einer Veröffentlichung auf Deutsch und Englisch in der Übersetzung von Frank Ramsey mit einem kritischen Vorwort Russells plus einer Antwort Wittgensteins.
In der Mitte der 1920er Jahre setzte eine intensive Rezeption des Werks ein. Im Zirkel um Moritz Schlick, der im Jahr 1922 auf die Lehrkanzel für Naturphilosophie nach Wien berufen worden war, wurde der "Tractatus" ausführlich, Dezimalstelle für Dezimalstelle, diskutiert. Ein paar Mal war Wittgenstein anwesend, scheint aber von der Art von Diskussion, die im "Wiener Kreis" geführt wurde, sehr genervt gewesen zu sein. Er traf sich später nur noch außerhalb des Kreises mit Moritz Schlick und Friedrich Waismann, die Wittgenstein als philosophisches Genie anerkannten und respektvoll auch auf seine extravaganten Verhaltensweisen reagierten.
Wittgenstein hat die Einsicht, dass er mit dem "Tractatus" die philosophischen Probleme endgültig gelöst habe, sehr ernst genommen. Er gab die Philosophie auf und wurde Volksschullehrer in Niederösterreich: in Trattenbach, Otterthal und Puchberg am Schneeberg. Erst als er im Jahr 1928, auf Einladung des Schlick-Zirkels, einen Vortrag des holländischen Mathematikers Luitzen Brouwers in Wien hörte, begann er sich wieder für Philosophie zu interessieren.
Aufgrund des Vortrags, in dem es um das Verhältnis von Mathematik, Logik und Wissenschaft ging, wurde ihm klar, dass bestimmte Auffassungen des "Tractatus" in Frage gestellt werden können. Das betraf vor allem eine zentrale Lehre des Traktats: dass alle Sätze der Mathematik und Logik tautologisch sind. Damit ist gemeint, dass diese Sätze nichts über die Wirklichkeit sagen, sondern nur Regeln zur Umformung von Aussagen darstellen.
Als ihm aufgrund von Brouwers Vortrag Zweifel an dieser Auffassung kamen, entschied Wittgenstein sich, nach Cambridge zurückzukehren. Eine Anstellung als Lehrender konnte er erst erhalten, nachdem er an der Universität Cambridge zum Doktor promoviert worden war. Der "Tractatus" wurde auf Betreiben Russells als Dissertation anerkannt.
Unter einem kulturhistorischen Gesichtspunkt wird der "Tractatus" als Teil der kulturellen Welt gesehen, die ihre Form noch in der Habsburger Monarchie um 1900 gewann und nach deren Zerfall in die 1920er Jahre hineinwirkte. Bücher wie "Wittgensteins Vienna" (Janik und Toulmin, 1971), "Fin-de-Siècle Vienna: Politics and Culture" (C.E. Schorske, 1980) und "Vienne 1900" (Michael Pollak, 1984) haben den Blick der internationalen Forschung auf die "Wiener Moderne" und damit auch auf Wittgensteins frühes Werk geprägt.
Karl Kraus als Leser#
Tatsächlich findet sich die Spannung zwischen radikaler Neuerung und Antimodernismus, die für das Milieu der Wiener Moderne in weiten Teilen charakteristisch war, in Wittgensteins Denken wieder. Auch die auf größtmögliche Einfachheit bedachte Sprache des "Tractatus" kann ihre Herkunft aus dem Wiener Milieu nicht verleugnen. Sie setzt eine ganz spezifische Poesie frei, die nicht zufällig an Adolf Loos und Karl Kraus denken lässt, mit denen Wittgenstein befreundet war. Den "Tractatus" soll er vor der Publikation Karl Kraus zu lesen gegeben haben.
Freilich sollte das alles nicht vergessen lassen, dass nichts von Wittgensteins Philosophie in Wien hätte entstehen können. Ohne seine Begegnung mit Russell in Cambridge und dessen Hilfe bei der Rückkehr dorthin wäre sein gesamtes Werk undenkbar. Russells Konzeption - Philosophie als logische Untersuchung - hat Wittgenstein übernommen und weiterzuentwickeln versucht. Nicht nur der "Tractatus", auch seine spätere Philosophie kann als Weiterentwicklung des Russell’schen Projekts gesehen werden. In diesem Sinn hat Wittgensteins Werk seine Wurzeln eben nicht in Wien, sondern jenseits des Kanals. Aufgeschrieben hat er seine Gedanken freilich auch später immer in Deutsch.
Zeitalter der Zauberer#
Es kann im Übrigen lehrreich sein, Wittgenstein auch neben anderen deutschsprachigen philosophischen Entwürfen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu betrachten. Als "Zeit der Zauberer" wurde das "große Jahrzehnt der Philosophie 1919 - 1929" vor Kurzem beschrieben (Wolfram Ellenberger, 2018). Gemeint sind damit Wittgenstein, Martin Heidegger, Ernst Cassirer und Walter Benjamin. Ein Blick auf Heidegger und Cassirer sei hier gestattet. Die beiden wussten mit der Philosophie des jeweils anderen insgesamt wenig anzufangen, aber sie sahen die Problemlage, von der sie ausgingen, in einigen Hinsichten ähnlich.
So fanden beide, dass die europäische Philosophie dem theoretischen Erkennen der Welt einen Vorrang eingeräumt habe, der ihm nicht zukommt. Es sei falsch, die menschliche Erkenntnis als Ausgangspunkt und Grundlage für das Selbstverständnis des Menschen zu verstehen.
Heidegger lehrte, dass uns die Dinge primär in den diversen praktischen Bezügen unseres Alltags gegeben sind. Das erkennende Verhältnis zur Welt, in dem wir über die Dinge Aussagen machen, die wahr oder falsch sein können, ist für Heidegger eine bloß sekundäre Weise, uns auf die Welt zu beziehen, die dem ursprünglich praktischen Bezug nachgeordnet ist. Für Cassirer ist das Primäre die symbolschaffende Tätigkeit des Menschen, die immer auf mehreren, voneinander unabhängigen Wegen vor sich geht (Sprache, Mythos, Religion, Wissenschaft...). Der menschliche Geist schafft diese Formen, kann sie aber - weil er unabhängig von ihnen gar nicht existieren könnte - gleichsam nicht von außen betrachten. Die Grenze einer symbolischen Form kann daher nur aus der jeweiligen Innenperspektive ausgelotet werden.
Offensichtlich ist Wittgenstein von all dem sehr weit entfernt. Weder philosophisch noch lebensgeschichtlich gibt es wirkliche Überschneidungen mit Heidegger oder Cassirer. Dennoch: Die Problemlage, von der Heidegger und Cassirer ausgingen, findet sich andeutungsweise auch darin, wie Wittgenstein, von Russell ausgehend, die logische Untersuchung weiter entwickelt hat.
In Russells Augen war die Logik eine Wissenschaft, die Erkenntnisse über die Wirklichkeit hervorbringt - nicht anders als etwa die Zoologie. Die Logik, so Russell, beschäftigt sich nur mit abstrakteren und allgemeineren Zügen der Wirklichkeit als die Zoologie. Sie entdeckt logische Wahrheiten und lehrt diese so, wie andere Wissenschaften das auch tun. Für Wittgenstein dagegen ist die Logik keine Wissenschaft, die Wahrheiten entdeckt und verkündet, sondern eine klärende Tätigkeit. Sie tut nichts anderes, als uns die Prinzipien, auf die wir uns in unserem Denken und Sprechen immer schon stützen, deutlicher vor Augen zu führen.
Mit Blick auf Heidegger können wir sagen, dass Wittgenstein das Denken und Sprechen in seinen praktischen Bezügen in den Mittelpunkt stellt und seine Aufgabe darin sieht, die darin wirksamen Prinzipien der Logik ausdrücklich zu machen und zu klären. Mit Blick auf Cassirer können wir sagen, dass Wittgenstein die welterzeugende Kraft der Symbolisierung durch Sprache so ernst genommen hat wie kaum ein anderer.
Die Grenzen der Sprache und die Grenzen der Welt sind für ihn gleichsam deckungsgleich; das denkende, vorstellende Subjekt, das sich der Welt und der Sprache gegenüberstellt und sie sozusagen von außen betrachtet, gibt es nicht. "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." (TLP 5.6) "Ich bin meine Welt." (TLP 5.63) Hier liegt der Grund dafür, dass die Philosophie das Undenkbare nur gleichsam aus der Innenperspektive des Denkbaren abgrenzen kann.
Kommen wir zurück an den Anfang. "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Was ist das für ein Satz? Da er nicht in die Naturwissenschaften gehört und kein logischer Satz ist, handelt es sich nach Wittgensteins Kriterien um einen sinnlosen Satz. Was übrigens für die meisten Sätze des "Tractatus" gilt. Aber diese Sätze haben nach Wittgenstein eine Bedeutung, indem sie "erläutern".
"Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinaufgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig." (TLP 6.54)
Merksatz für Pinnwand#
Später hat Wittgenstein die Metapher der Leiter durch die des Fliegenglases ergänzt. "Was ist dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen." Diese metaphorischen Auskünfte über die Aufgabe der Philosophie scheinen auf Ausweglosigkeit und Verzweiflung hinzuweisen - und tatsächlich hat Wittgenstein schwere Krisen und Zeiten tiefer Depression durchlebt. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, Wittgensteins Aussagen über seine philosophische Tätigkeit ohne (das manchmal von ihm selbst mitgelieferte) Pathos, also eher kühl zu betrachten.
Dass der Satz am Schluss und im Vorwort des "Tractatus" steht, macht aus ihm eine Art Merksatz für die philosophische Pinnwand. Er erinnert daran, dass die Unterscheidung zwischen dem, was ein Satz sagt, und dem, was er zeigt, auf allen Ebenen logisch-philosophischer Untersuchung gelten soll. Und dass das gar nicht leicht durchzuhalten ist.
Zum Schluss sei der Hinweis auf ein Buch erlaubt, das Wittgensteins "Tractatus" als Beitrag zur Geschichte der modernen Logik zeigt, und zwar im Comics-Format. Im Mittelpunkt Bertrand Russell, Wittgenstein in einer der wichtigen Nebenrollen. Das Ganze ist ein großes Vergnügen. (A. Doxiadis, C. H. Papadimitriou: Logicomix. Eine epische Suche nach Wahrheit. Übersetzt von Ebi Naumann. Atrium 2010 (erschienen in Griechisch 2008, in Englisch 2009).