Experiment in Entschleunigung#
Adalbert Stifter hat vor 150 Jahren den Roman "Witiko" verfasst: ein antirevolutionäres Sittenbild.#
Von der Wiener Zeitung (Sonntag, 19. November 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Christian Hütterer
"Ihr Fließen ist sehr langsam." So beschreibt Adalbert Stifter gleich in einem der ersten Absätze seines Romans "Witiko" die Moldau auf ihrem Weg durch den Böhmerwald. Diese Worte könnten aber auch als Motto für das gesamte Buch stehen. Stromschnellen sucht man hier vergebens, viel eher wälzt sich die Handlung des Romans dahin wie ein breiter, ruhiger Fluss.
Im Jahr 1138 reitet Witiko von Passau kommend durch den dichten Wald nach Böhmen. Der Titelheld ist ein junger Mann, "die Wangen fast rosenrot, die Augen blau", ehrlich und unverdorben, man könnte ihn schon naiv nennen. Sein bis dahin ruhiges Leben geht aber zu Ende, als Witiko in den Streit um die Thronfolge in Böhmen verwickelt wird.
Herzog Sobeslaw liegt im Sterben und eigentlich sollte sein Sohn Wladislaw die Herrschaft übernehmen, dieser Erbfolge hatte Jahre zuvor auch schon der böhmische Adel zugestimmt. Die Fürsten ändern nun aber ihre Meinung. Sie finden, dass der Thronfolger zu jung sei, und wählen deshalb den Neffen des Herzogs, der ebenfalls den Namen Wladislaw trägt, zum neuen Regenten. Wer ist nun der legitime Herrscher: Jener Wladislaw, der schon vor Jahren auserkoren wurde, seinem Vater nachzufolgen, oder doch jener, der nun entgegen der ursprünglichen Zusage von den Fürsten gewählt wurde?
Witiko kann diese Frage nicht beantworten und entkommt dem Dilemma, indem er sich auf seine Güter im Süden Böhmens zurückzieht. Jahre später kommt es zum Konflikt zwischen den beiden Anwärtern, ein Bürgerkrieg droht und Witiko muss sich nun entscheiden, für wen er Position bezieht. Der Sohn des verstorbenen Herzogs gibt allerdings seinen Anspruch auf die Thronfolge an einen Dritten weiter; damit ist für Witiko klar, wer der rechtmäßige Herrscher ist: Er unterstützt den gewählten Herzog Wladislaw (also den Neffen des früheren Herzogs), erwirbt im folgenden Kampf Ansehen und Reichtum und wird zu einer bedeutenden und geschätzten Person am Hofe.
Neben dieser politischen Chronik des mittelalterlichen Böhmen gibt es im Roman einen zweiten Handlungsstrang, nämlich das Verhältnis Witikos zu einem Mädchen namens Bertha. Unvermutet trifft er sie auf seinem Weg durch den Wald, und es ist Liebe auf den ersten Blick. Auf einer Lichtung entspinnt sich folgendes Gespräch zwischen den beiden:
"Ach, was für schöne Haare ihr habt", sagte das Mädchen.
"Und was du für rote Wangen hast", erwiderte er.
"Und wie blau eure Augen sind", sagte sie.
"Und wie braun und groß die deinen", antwortete er.
"Und wie Ihr freundlich sprecht", sagte sie.
In dieser Tonart geht es weiter. Ist so ein Dialog kitschig? Oder doch poetisch? Der Literaturkritiker Ulrich Greiner spricht jedenfalls von einer "archaischen Schlichtheit der Sprache" und fühlt sich von Stifters Schilderungen an die Psalmen des Alten Testaments erinnert. Zeitgenössische Leser brachten weniger Verständnis dafür auf, denn die Rezensionen fielen negativ aus. Manche Leser fanden, dass Stifter damit sein Talent vergeudet hätte, für andere war das Buch "in höchstem Grade langweilig". Wie dem auch sei, die Geschichte zwischen Witiko und Bertha wird gut enden. Witiko fühlt sich aber beim ersten Treffen für eine dauerhafte Bindung noch nicht reif genug und zieht weiter, um in der Welt Erfahrungen zu machen. Jahre später kehrt er als erprobter Ritter zu Bertha zurück, einer Ehe steht nun nichts mehr im Wege. Und als der älteste Sohn des Paares eine Burg in der "krummen Au" (Krumau) baut, ist damit sogar der Grundstein für eine Dynastie - die Witigonen - gelegt.
Schon seit den 1840er Jahren hatte Stifter geplant, einen historischen Roman zu schreiben. Die im Mittelalter angesiedelten Romane des Briten Walter Scott waren zu dieser Zeit sehr beliebt und fanden viele Nachahmer. Zum Wunsch nach Popularität gesellte sich der Ehrgeiz, denn Stifter hatte bis dahin nur Erzählungen, aber keinen großen Roman vorgelegt. Er wollte in seinem Buch aber andere Wege einschlagen als Scott in seinen Romanen, denn die dort geschilderten "Gefahren, Abenteuer und Liebesweh einzelner Menschen" erschienen ihm zu profan. In seinem Roman sollte vielmehr anhand von einzelnen Schicksalen die "Abwiklung eines riesigen Gesezes, das wir das Sittengesez nennen" dargestellt werden.
Stifter hat diesen Vorsatz, das Schicksal einzelner Menschen auszublenden, konsequent umgesetzt. Die Personen seines Romans verlieren alle individuellen Eigenschaften, denn nicht ihre persönlichen Erlebnisse stehen im Mittelpunkt, sondern eben der allgemeine, große Verlauf der Geschichte. Stifter entschied sich daher auch für einen Schreibstil, der gänzlich anders war als die üblichen historischen Romane, in denen Herz und Schmerz vorherrschten: Das Innenleben der auftretenden Personen ist ohne Bedeutung, sogar der Protagonist Witiko nimmt sich völlig zurück, er hat keine großen Ambitionen, oder, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: "Ich habe keine Meinung, ich erwarte nur die Dinge." Als Leser kann man sich nun entscheiden: Entweder findet man diese Aufzählungen und das andauernde Sich-Zurücknehmen der Personen schlicht langweilig, oder man lässt sich von diesem ruhigen, meditativen Erzählen gefangen nehmen.
Stifter beschreibt die Ereignisse wie ein außenstehender Beobachter, der eine Chronik erstellt. Wenn Witiko durch Böhmen reitet, heißt das: "Es ging einen langen Berg hinan, dann eben, dann einen Berg hinab, eine Lehne empor, eine Lehne hinunter, ein Wäldchen hinein, ein Wäldchen hinaus." Sobald sich mehrere Personen treffen, werden die Begrüßungen ausufernd und wie in einer Litanei dargestellt. Keine Sache ist zu gering, um nicht geschildert zu werden: Wenn Witiko an jeder Station seiner Reisen das Pferd versorgt, ist dies ebenso wichtig wie ein Gespräch mit einem Fürsten.
Vom Vorhaben Stifters, einen historischen Roman zu schreiben, bis zur Umsetzung dauerte es mehr als zwanzig Jahre. Dazwischen lag die Revolution des Jahres 1848, die Stifter sehr bewegte und schließlich auch im "Witiko" ihren Widerhall finden sollte. So diskutieren etwa die böhmischen Adeligen in einer Versammlung, wer denn nun der Herzog des Landes sein sollte. Dabei kommen auch revolutionäre Positionen zum Ausdruck, wenn etwa einer der Redner vorschlägt, die Monarchie überhaupt abzuschaffen.
Solch eine Radikalität wirkte auf Stifter allerdings beunruhigend und sogar verängstigend, denn bald nach den Ereignissen des Jahres 1848 formulierte er sein bekanntes "sanftes Gesetz", mit dem er die üblichen Maßstäbe zurechtrückte. Groß ist für ihn ein einfaches und bescheidenes Leben, alles Revolutionäre ist ihm fremd, und den Geist, der "umreißt, ändert, zerstört, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner." Dementsprechend ist Witiko auch kein Held, der den Umbruch herbeisehnt oder Bahnbrechendes vollbringt, sondern jemand, der sich in die bestehende Ordnung fügt und diese anerkennt.
Mäßigung & Maßlosigkeit#
Die Prinzipien, die im Roman durch die Person des Witiko vertreten und als erstrebenswert dargestellt werden, nämlich Einfachheit, Bescheidenheit und Mäßigung, standen aber im Widerspruch zu Stifters eigenem Leben.
Die Völlerei und der Alkoholkonsum hatten in diesem Abschnitt seines Lebens bedrohliche Ausmaße erreicht, auch die wiederholten Kuren brachten keine Besserung. Trotz der gesundheitlichen Probleme vertiefte er sich in Studien über die böhmische Geschichte, und die Arbeit an seinem Roman wurde ihm zu einer Erleichterung und Stütze, denn noch nie habe er an einem Buch "mit solcher Liebe gearbeitet als an Witiko".
Im Frühling 1867 schloss Stifter die Arbeiten am letzten Band des Romans ab, im Herbst desselben Jahres erschien er in gedruckter Form. Wenige Monate später war Stifter tot. Ein Selbstmordversuch - der Schriftsteller schnitt sich mit einem Rasiermesser die Kehle auf - war fehlgeschlagen, und so lag Adalbert Stifter zwei Tage lang in Agonie, ehe er am 28. Jänner 1868 im Alter von 62 Jahren starb.
150 Jahre nach Erscheinen des Romans ist die Lektüre des "Witiko" ein Experiment in Entschleunigung, denn schnell lesen kann man diesen Roman nicht. Wer allerdings genug Geduld aufbringt, sich auf den behäbigen Duktus einzulassen, wird in den Bann dieses Buches gezogen und entdeckt darin vielleicht, wie einst Thomas Mann, das "Sensationellwerden der Langeweile".