Der Weg zu Kultursender und Dudelfunk #
Seit 90 Jahren gibt es Radio in Österreich: Am 1. Oktober 1924 nahm die Radio-Verkehrs AG (RAVAG) ihren Betrieb auf. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich nicht nur die Radiolandschaft immens verändert, sondern auch die Bedeutung des Mediums. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 9. Oktober 2014).
Von
Michael Kraßnitzer
Schnell die Aufnahme- und die Starttaste des Radiokassettenrekorders drücken, wenn das neue Lieblingslied ertönt – und hoffen, dass der Moderator nicht hineinquatscht; Axel Corti zuhören, wenn er sein Radiofeuilleton „Schalldämpfer“ spricht – und plötzlich eine Ahnung davon bekommen, zu welchen Höhenflügen der menschliche Intellekt fähig ist; unverständlichen Botschaften in fremden Sprachen lauschen, die in der Nacht via Kurzwelle die weite Welt ins Kinderzimmer tragen: Wohl jeder schon etwas ältere Österreicher kann auf ähnliche Erinnerungen zurückblicken, die mit dem Medium Radio verbunden sind. Jüngere tun sich schwerer, denn nur noch für eine Minderheit von Menschen hat Radio eine Bedeutung, die über jene einer Berieselungsmaschinerie hinausgeht.
Seit nunmehr 90 Jahren gibt es Radio in Österreich: Am 1. Oktober 1924 nahm die Radio-Verkehrs AG (RAVAG) ihren Betrieb auf. Zu Anfang gab es 15.000 offizielle Teilnehmer, bereits ein Jahr später entrichteten 100.000 Rundfunkteilnehmer die monatliche Gebühr von zwei Schilling. Das Programm war ursprünglich geprägt von klassischer Musik, Literatur und Bildung, bald gesellten sich jedoch auch „Wiener Weisen“ und „Chansons und Kabarettlieder“ – so zwei Sendungstitel – hinzu. Ab 1928 kamen die Hörer auch in den Genuss regelmäßiger Übertragungen von Sportveranstaltungen.
Propaganda und Widerstand #
Politische Berichterstattung hingegen war tabu. Denn dass sich das Radio hervorragend als Propagandainstrument eignet, lag auf der Hand. Bei ihrem Putschversuch im Juli 1934 besetzten österreichische Nationalsozialisten bezeichnenderweise zwei Gebäude: das Bundeskanzleramt und die Senderäume der RAVAG.
Nach dem „Anschluss“ 1938 stellten die Nationalsozialisten das Radio auch in der nunmehrigen Ostmark in den Dienst der Verbreitung ihrer verbrecherischen Weltanschauung. Aber Radiohören konnte auch ein Akt des Widerstandes sein: Wer im Krieg „Feindsender“ hörte – sei es, um sich einigermaßen objektiv zu informieren, sei es, um Jazzmusik zu hören –, riskierte viel.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die RAVAG wiedergegründet und betrieb den Sender „Radio Wien“. Bald entstand Konkurrenz, denn die Besatzungsmächte betrieben eigene Radiosender: die Amerikaner „Rot-Weiß-Rot“, die Franzosen die Sendergruppe „West“, die Briten die Sendergruppe „Alpenland“. „Radio Wien“ geriet überdies in den Ruf, ein roter Propagandasender zu sein, weil die Sowjets die RAVAG zur Ausstrahlung der „Russischen Stunde“ nötigten. Mit dem Abzug der Alliierten gingen deren Sender im Laufe des Jahres 1955 an die Republik Österreich zurück, die schließlich drei Jahre später mit der RAVAG zum Österreichischen Rundfunk (ORF) vereint wurden.
Die folgenden Jahre waren keine Sternstunde des österreichischen Radios. Der ehemalige Ö1-Chef Alfred Treiber beschrieb das Sendungsangebot als „unerträgliches Kraut und Rüben-Programm“, der legendäre ORF-Generalsekretär Gerd Bacher als „willfähriges und noch dazu kostenloses Propagandainstrument“ der beiden damaligen Großparteien SPÖ und ÖVP.
Anderswo – vor allem in den USA – war Radio schön langsam zu dem geworden, was der Medientheoretiker Marshall McLuhan als „Stammestrommel“ beschrieb. Demnach erfüllte der Rundfunk die Funktion, Menschengruppen Zusammenhalt zu verleihen, ihnen einen gemeinsamen Rhythmus zu geben und die für sie relevanten Informationen zu liefern. Es bildeten sich immer mehr Sender heraus, die ganz bestimmte Zielgruppen bedienten.
Sender für alle #
Das ORF-Radio hingegen hielt an dem Konzept „Ein Sender für alle“ fest – obwohl etwa die Popkultur komplett ignoriert wurde. Dann jedoch, im Jahr 1964, kam das Rundfunk-Volksbegehren, dessen Start sich dieser Tage zum 50. Mal jährt. Seine Umsetzung dauerte drei Jahre, doch es revolutionierte die österreichische Radiolandschaft.
Ab 1. Oktober 1967 gab es in Österreich drei Radiosender: den Kultursender Ö1, den Popsender Ö3 und je ein Regionalprogramm in jedem Bundesland. Ö1 und Ö3 waren Antipoden und entwickelten sich interessanterweise auch spiegelverkehrt: Aus dem anfänglich biederen und betulichen Hofratswitwensender Ö1 wurde im Lauf der Zeit ein in seiner Qualität einmaliger Kultursender, während sich der einst aufmüpfige und ambitionierte Jugendsender Ö3 zu einem in kultureller Hinsicht irrelevanten Dudelfunk entwickelte.
Das Programm von Ö1 bestand, neben einer Reihe von neuen Nachrichtensendungen, anfangs vor allem aus klassischer Musik und der Pflege von Literatur – wobei im damaligen Literaturverständnis zum Beispiel Elfriede Jelinek, Peter Handke und H. C. Artmann als der „letzte Dreck“ galten, wie ein leitender, für Literatur zuständiger ORF Mitarbeiter kund tat. Ö3 hingegen war auf der Höhe der Zeit und versuchte die gesamte Bandbreite der Popkultur abzudecken: Die legendäre „Musicbox“ war der jugendlichen Gegenkultur verpflichtet, Randgebiete der Unterhaltungsmusik deckten Walter Richard Langer mit „Vokal – Instrumental – International“ oder Gerhard Bronner mit „Schlager für Fortgeschrittene“ ab. Anfangs gab es auf Ö3 sogar Literatursendungen.
Kultursender und Formatradio #
In den 1980er-Jahren begann sich Ö1 in jenen zeitgemäßen Kultursender zu verwandeln, der er heute ist – nicht zuletzt weil immer mehr Mitarbeiter der „Musicbox“ aus Altersgründen zu Ö1 wechselten. Parallel dazu ging es mit Ö3 bergab: Nachdem sukzessive alles, was über eine gewisse Qualität verfügte, aus dem Programm verbannt worden war, wurde Ö3 1995 zu einem Formatradio umgebaut: mit einer streng festgelegten Musikfarbe und Gute-Laune-Terror. Immerhin aber startete der ORF im selben Jahr – gewissenmaßen aus der Konkursmasse des alten Ö3 – den progressiven Jugendsender FM4. Das Auftauchen der ersten Privatradios kurz darauf fügte der österreichischen Radiolandschaft kaum etwas Neues hinzu. Neben ein paar „freien Radios“ entstanden hauptsächlich kommerzielle Sender, die mit Radiomachen eigentlich nichts zu tun haben, sondern reine Geschäftsmodelle sind.
Fragt man Jugendliche, welchen Radiosender sie am liebsten hören, lautet eine häufige Antwort: „Ich höre kein Radio.“ Mit dem Internet ist dem Radio ein übermächtiger Konkurrent erwachsen. Damit sind nicht die zahllosen Internet- Radios gemeint, mit denen sich rund um die Uhr selbst ausgefallenste Musikgeschmäcker bedienen lassen, denn deren Nutzerzahlen sind relativ überschaubar. Und auch nicht der Streaming-Dienst Spotify, obwohl dieser es mittlerweile auf 40 Millionen Nutzer in 56 Ländern bringt. Das große Ding ist und bleibt die Videoplattform YouTube, die jederzeit und überall via Computer oder Mobiltelefon abrufbar ist. YouTube ist nicht nur ein gigantisches audiovisuelles Archiv, sondern wartet längst mit einer schier unendlichen Zahl exklusiver Inhalte auf. Wenn sich junge Menschen von heute in 20 oder 30 Jahren an ihren Medienkonsum zurückerinnern, dann werden diese Erinnerungen nur bei wenigen mit der Ö1-Sendung „Diagonal“, dem FM4-Feuilleton „Im Sumpf“ oder einer anderen Radiosendung verbunden sein. Aber jeder wird sich daran erinnern, wie man damals zum YouTube-Video „Gangnam Style“ des Popstars Psy getanzt und dabei ein imaginäres Lasso geschwungen hat.