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Wer hat’s erfunden?#

Egal, ob Tinder, Tweets oder Facebook: Erstaunlich viele digitale Neuerungen sind spukhafte Fernwirkungen alter Ideen.#


Von der Wiener Zeitung (Sonntag, 30. Juli 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Franz Zauner


Anita Traninger
Die Romanistik-Professorin Anita Traninger belebt das Verständnis gängiger Apps mit geisteswissenschaftlichen Ideen.
Foto: © Erika Borbély-Hansen

Berlin. Es war schon immer eine Frage, wer in Frage kommt. Während heute die Partnerwahl auf Dating-Apps wie Tinder blitzschnell abläuft, war es in der Renaissance oder im Barock deutlich schwieriger, sich ein Bild vom zukünftigen Partner zu machen. Ein Hofmaler musste bemüht werden, der über Wochen und Monate damit beschäftigt war, Liebreiz, Prunk und Herrlichkeit adeliger Heiratskandidaten in Öl auf Leinwand zu bannen. Das geht mit heutigen Smartphones, die mit raffinierten Farbpaletten und schmeichelhaften Filtern Gesichter ähnlich trickreich in Pixeln auf Silizium abbilden wie versierte Porträtmaler, deutlich schneller.

Bildnisse können heute in Echtzeit hergestellt und übertragen werden, aber die Parallelen zur Frühmoderne sind unübersehbar: Menschen, die sich verlieben wollen, weilen auch in der fragmentierten, globalisierten Gesellschaft oft nicht am selben Ort. Und der Algorithmus, der heute auf einer Dating-Plattform einen passenden Partner vorschlägt, trat früher in der Gestalt eines heiratspolitischen Beraters auf den Plan, der auch dynastischen Fortbestand und machtpolitische Konstellationen im Auge hatte. Wie aktuelle Studien zeigten, erfolgt auch die romantische Partnerwahl unserer Tage nicht immer reinen Herzens: Neben Aussehen und Charakter spielt durchaus auch der gesellschaftliche und ökonomische Status beim Verlieben eine Rolle.

Verschränkte Memory-Paare#

Die Romanistik-Professorin Anita Traninger hatte sichtlich Spaß dabei, Tinder und die Porträtmalerei für einen ganz besonderen Event miteinander zu verheiraten. In Berlin geht nämlich der Samstag in die lange Nacht der Wissenschaften über. Traninger will just angesagte Apps und Algorithmen benutzen, um die Rolle der Geisteswissenschaften zu stärken: Wissenschaftler des Dahlem Humanities Center (DHC) und der Freien Universität Berlin haben Anregungen zu einem Memory-Spiel mit überdimensionalen Karten beigesteuert. Je eine geisteswissenschaftliche Idee und ihre moderne Anwendung ergeben ein Paar. Damit können Zuseher ihr Wissen auf die Probe stellen und dabei verschiedene Aspekte des Digitalen und dessen historische Wurzeln buchstäblich aufdecken.

"Die derzeitige "technology first"-Orientierung", meint Traninger, "verstellt den Blick darauf, dass die aktuellen gesellschaftlichen Debatten und Probleme ihre Wurzeln in Phänomenen haben, die die Geisteswissenschaften erforschen und erhellen." Die Geisteswissenschaften haben zwar traditionell einen guten Stand an der Freien Universität in Berlin, "aber es kann nicht schaden, ihre Bedeutung über die Universität hinaus sichtbar zu machen", meint die gebürtige Österreicherin, die der Wissenschaft wegen nach Berlin übersiedelte.

Das DHC fördert die interne und internationale Vernetzung und Zusammenarbeit von Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Forschungsprojekte finden in diesem Rahmen statt – und im Memory-Spiel ihren Niederschlag.

Hass im Netz und in der Gelehrtenrepublik#

Traningers eigener Beitrag gilt den Internetforen, die oft von Hass und Bosheit entstellt werden. Es mangelt nicht an Versuchen, die Emotionen technisch und organisatorisch in den Griff zu bekommen, ein Königsweg zeichnet sich bis jetzt allerdings nicht ab. Die großen Internetforen setzen durchweg auf Moderatoren und Moderatorinnen, die notfalls Einträge löschen und Benutzer sperren. Vielfach gefordert wird eine Klarnamenpflicht, weil man die Anonymität als Wurzel der Enthemmung vermutet.

Anonymität, so hoffte man im 17. Jahrhundert ganz im Gegenteil, wäre ein sicherer Weg zur Steigerung der Qualität öffentlicher Auseinandersetzungen. Mit dem Aufkommen der periodischen Presse und insbesondere von Rezensionsjournalen sah sich die internationale Welt der Gelehrten vor die Aufgabe gestellt, sich Regeln für die Kritik zu geben. Man imaginierte sich als Mitglied einer Gelehrtenrepublik, die ihren eigenen Idealen und Regeln folgen sollte. Damit sich die Gelehrten unvoreingenommen in den Dienst der Wahrheit und des besseren Argumentes stellen konnten, erschienen Beiträge oft anonym. Unparteilichkeit war die Haltung, die jedem Debattenteilnehmer abverlangt wurde, Zorn der Affekt, den es unbedingt zu vermeiden galt.

Die noblen Ideale wurden allerdings, ganz wie im Falle des Web 2.0, rasch von der Realität eingeholt. Statt in sachliche Debatten investierte man allzu oft Energie in persönliche Angriffe und Diffamierungen, so dass auch die Herausgeber der Journale feststellen mussten, dass neue Medien nicht nur neue Möglichkeiten, sondern durchaus auch neue Probleme mit sich bringen.

Ägyptisches Facebook#

Als Mark Zuckerberg 2004 Facebook gründete, hat er sich von den Jahrbüchern (facebooks) inspirieren lassen, die Bilder und biographische Angaben von Studierenden US-amerikanischer Universitäten sammeln. Zuckerberg hätte sich genauso gut ägyptische Grabstelen anschauen können. Das menschliche Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Vernetzung ist nämlich uralt. Schon im alten Ägypten gab es mit den Nekropolen Orte, an denen soziale Netzwerke detailliert dargestellt wurden.

Die Grabanlagen speichern, in Stein gemeißelt, eine Fülle an Personendaten, die sich nicht nur an den Grabwänden finden lassen. Auch die Grabbeigaben dokumentieren sozial relevante Informationen wie familiäre und berufliche Zugehörigkeiten, zeigten aber auch das jeweilige Umfeld der Toten, neben Verwandten oder häuslichen Bediensteten beispielsweise ihre Verbundenheit mit anderen Personen, ihre Zugehörigkeit zu Gruppen. Im Gegensatz zu den heutigen sozialen Netzwerken geschah dies jedoch erst nach dem Tod. Aber manche Kritiker digitaler Sitten sagen auch der virtuellen Welt nach, ein Schattenreich zu sein und die Menschen vom wirklichen Leben abzuhalten.

Noch deutlicher wird die spukhafte Fernwirkung alter Ideen auf Twitter. Schon das Aufkommen der SMS (Short Message Service) in den 1980er Jahren hat manche dazu veranlasst, den Untergang der Kommunikationskultur zu prophezeien. Kryptische Abkürzungen und abenteuerliche Rechtschreibung schockierten die Sprachpfleger. Die gerade einmal 140 Zeichen, die der seit 2006 bestehende Kurznachrichtendienst Twitter den Schreibenden für einen Tweet lässt, engen den Spielraum weiter ein. Diese Kürze ist jedoch keine Eigenart des schnellen, digitalen 21. Jahrhunderts, sondern auch Kennzeichen einer der ältesten Gattungen der Weltliteratur: Das japanische Haiku darf in seiner traditionellen Form nur drei Zeilen mit jeweils fünf, sieben und fünf Silben haben.

Haiku, Sentenz, Tweet#

Das Haiku gleicht in seiner strengen Längenvorgabe Twitter am meisten, doch ist die kurze Form seit der Antike vielfältig kultiviert worden. So finden sich Sentenzen – treffend formulierte, zitatfähige Sinnsprüche – geschrieben, gesammelt und tradiert von Gelehrten unterschiedlicher Epochen und über die Zeiten hinweg. Nicht immer muss eine eindeutige Autorschaft vorliegen, denn häufig handelt es sich um weitergegebene Aussprüche, die als Allgemeinplätze Teil eines kulturellen Wissens sind.

Auch der Aphorismus – ein prägnanter, für sich stehender Ausspruch – ist eine literarische Form von bleibender Dauer.

Nicht nur bei bekannten Aphoristikern wie Friedrich Nietzsche und Oscar Wilde ist diese Textform zu finden, sondern auch in der antiken griechischen wie römischen Philosophie. "Der Krieg ist der Vater aller Dinge", schreibt Heraklit von Ephesos im 6. Jhd. v. Chr. Das hätte, wenn es zum ersten Mal gesagt würde, auch auf Twitter nicht schlecht ausgesehen und vielleicht sogar einen Shitstorm provoziert. Wie es charakteristisch für einen Aphorismus ist, verfährt Heraklits Sager nicht argumentativ und erläuternd, sondern bringt einen Gedanken auf den Punkt, dessen Interpretation und Beurteilung dem Leser überlassen bleibt.

Dass der Hang zur Verkürzung nicht immer nur Witz und Kreativität evoziert, beweist Twitter jeden Tag auf’s Neue. Bei Dating-Apps sind Abweichungen zwischen Ideal und nicht immer ganz so idealer Wirklichkeit die Regel. Auch dies kein neues Phänomen: Ein berühmtes Beispiel ist die deutsche Prinzessin Anna von Kleve, deren von Hans Holbein gemaltes Bildnis die Spuren der Blattern verbarg. Der englische König Heinrich VIII., der sie auf der Grundlage des Porträts zu seiner vierten Ehefrau machte, war bitter enttäuscht, als er ihrer ansichtig wurde. Er strebte sogar die Annulierung der Ehe an, was ihm ein halbes Jahr später auch gelang.

Wiener Zeitung, Sonntag, 30. Juli 2017

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