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"Auf den Spuren des Gedächtnisses"#

Eric Kandel wollte immer schon wissen, wie man sich etwas merkt und warum man es vergisst: zunächst als angehender Psychoanalytiker, dann als Molekularbiologe. Inzwischen hat er die Forschung um entscheidende Schritte weitergebracht.#


Ein biografischer Text aus dem Buch "Geistesblitze" (1997) von Michael Freund, freundlicherweise dem Austria-Forum vom Springer Verlag zur Verfügung gestellt (www.springer.at)


Unter „Klinische Ausbildung“ sind vier renommierte Spitäler gelistet, unter „Forschungstätigkeit“ sieben der besten Universitäten und Laboratorien, zurzeit die Columbia University. Ehrendoktorate wurden ihm an sieben Unis, von Chicago bis Wien, verliehen, mehr als 30 sonstige Ehrungen erhielt er seit 1959. Acht wissenschaftliche Akademien und Gesellschaften führen ihn als Mitglied. Nach der hundertsten Eintragung in der Rubrik „Spezielle Vorlesungen und Vorträge“ wird es unübersichtlich, doch auf Wunsch schickt sein Büro eine Liste der (Ko-)Veröffentlichungen; zurzeit sind es 314. Und eine Yahoo!-Suche im Internet nach dem Namen „Eric R. Kandel“ ergab 7902 Treffer.

Eric R. Kandel ist Amerikaner geworden. Zwar wurde er 1929 in Wien geboren und hat bis zur Mittelschule auch hier gelebt, zwar stand er noch in der Emigration stark unter dem Einfluss einer österreichischen intellektuellen Kultur. Doch mit der Hinwendung zur naturwissenschaftlichen Forschung lockerte sich die Bindung. Im Büro erinnert ein Stich vom Michaelerplatz an seine Heimat, und mit Leichtigkeit pendelt er zwischen dem Englischen und einem Deutsch mit leicht wienerischem Einschlag hin und her: „I lived in Severingasse in the neunten Bezirk, and my father had a small toystore on Kutschkermarkt.“

Das lässt ahnen, wie sehr er Teil einer hiesigen Forschertradition hätte sein können, wenn man ihn nur gelassen hätte. Für diese Serie ist er noch mehr ein Grenzfall als Walter Mischel, der sich immerhin noch als Österreicher fühlt. Kandel markiert eher den point of no return. Einen Referenzpunkt des potentiellen Österreich.

„Als Schüler war ich an Geschichte interessiert, nicht an den Naturwissenschaften“, sagt er. Nach seinem Geschichts- und Literaturstudium auf Harvard lernte er Anna Kris kennen, die Tochter des ebenfalls emigrierten Analytikers und Freud-Schülers Ernst Kris, und er geriet, wie er sagt, in den Bann der Familie. „Das intellektuelle Leben auf Harvard hatte mich schon sehr beeindruckt. Die Psychoanalyse aber schien mir der Gipfel, das interessanteste Modell des menschlichen Geistes. Walter Mischel hatte eine ähnliche Erfahrung, doch wir reagierten unterschiedlich.“

Kandel wandte sich zunächst der Medizin in der Absicht zu, selber Analytiker zu werden. Eher zufällig geriet er während einer Studienpause von mehreren Monaten in ein neurobiologisches Forschungslabor auf Columbia. „Ich mochte das Informelle daran: keine Krawatte, keine fixen Arbeitszeiten. Was die Forschung selbst anbelangte, wusste ich zwar wenig. Aber ich wusste, dass sie hier eher primitiv war. Ich wollte etwas Fundamentaleres untersuchen.“ Er wurde in eine Abteilung weiterempfohlen, die sich mit der Untersuchung einzelner Nervenzellen des Flusskrebses befasste.

Das Hirn interessierte ihn hauptsächlich, „weil Gedächtnis eines der zentralen Probleme in der Psychiatrie ist“. Doch von der Facharztkarriere entfernte er sich immer mehr (die Ausbildung schloss er dennoch ab) und konzentrierte sich auf die biologische Grundlagenforschung, zunächst am National Institute of Mental Health „ein unglaubliches Nirwana für Forscher!“, dann in seinem eigenen Laboratorium auf Harvard, in Paris (er hatte Denise, eine Soziologin und gebürtige Französin, geheiratet), an der New York University und schließlich auf Columbia.

„Die längste Zeit arbeitete ich an der Meeresschnecke Aplysia. Sie interessierte mich nicht per se, aber ich hatte hier ein Neuronensystem, das ziemlich komplexe Dinge tun konnte, und ich konnte die Aktivität im Hirn direkt beobachten.“ Er konditionierte die Schnecken auf bestimmte Reflexe und untersuchte auf molekularem Niveau, was passierte, wenn sich die Tiere etwas merkten. Sein Team konnte die Gene identifizieren, die für das Wachstum der Synapsen verantwortlich sind.

In den letzten Jahren dehnte er die Untersuchung auf transgene Mäuse aus. Er schaltete etwa ein bestimmtes Gen bei ihnen aus, das für die Produktion eines Enzyms verantwortlich ist, und beobachtete Lernschwächen und anatomische Veränderungen im Hippocampus.

Für seine Leistungen wurde er in Wien gleich zweimal geehrt und eingeladen. Nicht ohne Amüsement erzählt er, wie er das erste Mal die Sprache auf seine Vertreibung gebracht hat und peinlich berührtes Schweigen geerntet hat. „Bei meinem nächsten Besuch vermied ich das Thema und beschränkte mich auf Bemerkungen zu meiner Forschung worauf einer der Gastgeber selber mit bewegten Worten auf mein Schicksal eingegangen ist und sagte, welche Ehre es doch sei, dass ich überhaupt gekommen bin.“ Was also sein eigenes Fachgebiet anbelangt, das Gedächtnis, hat Kandel bei diesen Gelegenheiten die wienerische, die Luegersche Variante kennengelernt: Wann wir uns erinnern, bestimmen wir!

Sein nächstes Ziel ist es, herauszufinden, was genau den Übergang vom Kurzzeit- zum Langzeitgedächtnis ausmacht. „Was wir bisher wissen die Inhibition der Proteinsynthese, das Wachsen zusätzlicher Synapsen , ist nur die Spitze des Eisbergs, Teile einer viel komplexeren, geradezu barocken Maschinerie, die wir noch identifizieren müssen.“

Im Sommer 1994 äußerte er in einem Interview die Hoffnung, dass er und seine Mitarbeiter in fünf bis acht Jahren Pillen gegen den altersbedingten Schwund des Langzeitgedächtnisses finden würden. Inzwischen haben sie die Firma Molecular Cognition gegründet, erproben entsprechende Medikamente bereits an Mäusen und sehen einen großen Markt vor sich: „Im Jahr 2000 werden 35 Millionen Menschen in den USA älter als 65 sein. Alte Menschen beschweren sich über alles, aber worüber sie sich am meisten beschweren, ist ihr nachlassendes Gedächtnis.“

Kandel arbeitet „die meiste Zeit“. Immerhin gibt es neben allem anderen noch regelmäßig zwei Textbücher zu aktualisieren. Trotzdem findet er Zeit für Joggen und Tennis, und in den Mittagspausen geht er schwimmen. „Ich liebe meine Arbeit. Ich meine, wir gehen auch gerne in Museen. in Konzerte oder in die Oper. Aber genauso gern schreibe ich an einem Paper.“ Und irgendwo findet er immer eine Nische: Geht er zum Zahnarzt oder zum Friseur, nimmt er die neuesten Ausgaben von Nature und Science mit.

Der biografische Text wurde dem Buch „Geistesblitze“ (1997) von Michael Freund entnommen und dem Austria Forum freundlicherweise seitens Springer Verlag zur Verfügung gestellt. (www.springer.at)


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