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unbekannter Gast

Ein Gedächtnisforscher erinnert sich#


Von der der Wochenzeitschrift Die Furche am Donnerstag, 5. Juni 2008 freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

von

Thomas Mündle


Eine Zelle nach der anderen. So muss das Gehirn studiert werden, erklärt Harry Grundfest dem jungen Eric Kandel im Jahre 1955. Der Lehrer macht damit zwar die hoch gesteckten (man könnte auch sagen: reichlich naiven) Ziele seines Schülers vorerst zunichte. Kandel wollte eigentlich in den komplexen Faltungen des menschlichen Gehirns Freuds Es, Ich und Über- Ich lokalisieren. Nichtsdestotrotz will der 26-jährige Psychoanalytiker ins Labor gehen, um als Forscher Freuds Theorie auf eine biologische Grundlage zu stellen.

Streng reduktionistisch#

Dabei hält sich der Neurowissenschafter (die Bezeichnung gab es damals wohl noch nicht) streng an die reduktionistische Vorgehensweise von Grundfest: Um Veränderungen von Verhalten auf molekularer Ebene untersuchen zu können, sucht Kandel bald nach einem einfachen Organismus – und findet Aplysia, eine Meeresschnecke. Im Vergleich zu einem Säugerhirn haben die se Tiere nur 20.000, statt 100 Milliarden Nervenzellen. Und die Nervenzellen sind mit einem Millimeter ungewöhnlich groß. Zwei Eigenheiten, die sich als unschätzbare Vorteile beim Experimentieren herausstellen sollten. In den folgenden Jahrzehnten wird Kandel viele Erkenntnisse darüber sammeln, wie Lernerfahrungen sich in veränderten Hirn-Strukturen niederschlagen. So entdeckt er bald, dass das Kurzzeitgedächtnis auf einem relativ einfachen Mechanismus beruht: Es kommt zu einer schwächeren, respektive stärkeren Ausschüttung von bio chemischen Botenstoffen, je nachdem ob das Tierchen sich an einen Reiz gewöhnt hat oder – etwa mittels Elektroschock – dafür sensibilisiert wurde. Später zeigt sich, dass die Prozesse, die bei der Ausbildung des Langzeitgedächtnisses ablaufen, weitaus komplizierter sind: Wiederholte Erfahrungen führen dazu, dass bestimmte Gene angeschaltet werden. Diese setzen ein Programm in Gang, so dass an den gewünschten Stellen neue Synapsen wachsen. Diese bahnbrechenden Ergebnisse werden sowohl im Buch wie im Film wiedergegeben. Aber die Art, wie dies geschieht, könnte unterschiedlicher nicht sein. Im Buch hat Kandel „die Entwicklung einer neuen Wissenschaft des Geistes“ (so der Untertitel) nachgezeichnet. Er zeigt, was und wie wenig die Wissenschaft über die Anatomie des Gehirns wusste, als er mit seinen Studien beginnt. Oft findet er neue Wege, um ältere Hypothesen von anderen Forschern zu testen. Kandel beschreibt das Wesen der Wissenschaft im Gespräch mit der Furche so: „Forschung ist ein soziales Unternehmen, das vom gegenseitigen Informationsaustausch lebt.“ Dabei ähnelt die Arbeit der Wissenschafter – so scheint es – oft der von Detektiven. Weit verstreute und scheinbar unbedeutende Hinweise werden geschickt verknüpft. Die Richtigkeit des Gedankens schließlich mit einem Experiment bestätigt – oder auch nicht. Obwohl Kandel etwa am Anfang seiner Forschung zum Langzeitgedächtnis zugibt, seine Versuche aus Ahnungen und verschwommenen Gefühlen heraus entwickelt zu haben, scheint ihm das Glück hold. Während in den frühen 1950er Jahren nicht einmal die Struktur der DNA bekannt war, haben sich mittlerweile (in den 1980er Jahren) die Biowissenschaften so weit entwickelt, dass mit deren neuen Werkzeugen der „Dialog zwischen Genen und Synapsen“ untersucht werden kann. Und so zeichnet es sich ab, dass auch dieses Rätsel gelöst werden wird. Hätte Petra Seeger, die Regisseurin des Dokumentarfilms, versucht, die mehr als 500-seitige Kriminal-Geschichte der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse auf der Leinwand nachzuerzählen, sie wäre sicherlich gescheitert. Mutig hat die Filmemacherin einen ganz anderen Zugang gewählt: Sie hat das Leben im Labor von Kandel szenisch eingefangen. Der wissenschaftliche Alltag wird selten genug in seiner Schlichtheit dargestellt – und dürfte gerade deswegen für nicht-laborkundige Zuschauer einen ungewöhnlich tiefen Einblick in diese sehr reale Form von Wissenschaft geben. Da entschuldigt sich etwa ein junger Wissenschafter, dass er es vor laufender Kamera vielleicht nicht schaffen wird, ein einzelnes Neuron aus einem Bündel von Nervenzellen herauszuziehen. (Er schafft es dann doch.) Ein anderer erzählt, wie er jahrelang nach einem Wachstumsfaktor gesucht hat. Nachdem er sich schon fast einem anderen Thema zuwenden wollte, fand er das gewünschte Molekül zu seiner eigenen Überraschung doch noch. Ein Durchbruch wird so zu einem seltenen Ereignis. Auch für einen Topwissenschafter wie Kandel, der von ekstatischen Freudentänzen nach seinem ersten experimentellen Erfolg erzählt – das Feuern von Neuronen hatte er als kakophones Klackern hörbar gemacht. Doch dann fragt er sich, was er nun eigentlich damit bewiesen hätte – offensichtlich nicht so viel – und hört augenblicklich wieder auf zu tanzen. Das Publikum lacht dann auch lauthals. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein dafür, wie langwierig der Forschungsprozess ist. Wenn so später das Resultat von „Jahren, ja Jahrzehnten harter Arbeit“ als ein gelb-leuchtender Punkt – eine neu gewachsene Synapse – mit den einfachen Worten „Das ist Lernen“ kommentiert wird, kann den Zuschauer das Gefühl überkommen, an einem quasi-mythischen Ereignis teilzuhaben. Im Film und im Buch ist das Gedächtnis nicht nur als naturwissenschaftlicher Gegenstand, sondern auch als Speicher der eigenen Lebensgeschichte präsent. So schildert Kandel in den ersten Kapiteln seine Kindheit in Wien und wie sich das Leben seiner (jüdischen) Familie durch den Einmarsch der Nazis von einem Tag auf den anderen radikal änderte. Zwar konnte sich die ganze Familie nach New York retten, doch die seelischen Verletzungen blieben bestehen (siehe auch das Interview unten). Nicht von ungefähr kam deshalb der Entschluss, an der Universität Geschichte zu studieren (später wechselte Kandel zur Medizin, dann zur Psychoanalyse, schließlich in die Forschung).

Vergangenes rekonstruiert#

In episodischen Rückblenden führt auch der Film zurück in die Vergangenheit. Dass es sich dabei um fiktive Darstellungen handelt, machen die Schwarz-Weiß- Bilder deutlich. Wie störanfällig diese Bilder aus dem Gedächtnis sind, wird nur im Film zum Thema, als Eric Kandel und seine Familie sich aufmachen, um Plätze alter Erinnerungen aufzusuchen. In Cahors, Frankreich, hat seine ebenfalls jüdische Frau Denise in einem Kloster versteckt das Nazi- Regime überlebt; den Fluchttunnel aus dem Kloster sucht sie lange. Der Gedächtnisforscher fragt sich am Kutschermarkt durch, um den ehemaligen Laden seines Vaters zu finden. In Brooklyn verirrt er sich zunächst in ein Apartment, das er fälschlicherweise für die ehemalige Unterkunft seiner Familie hält (da ein Zimmer fehlt, bemerkt er den Irrtum doch noch). Im Gespräch mit der FURCHE meint Kandel dazu: „Natürlich ist jede Erinnerung eine Rekonstruktion. Gehirne machen keine Fotografien. Die Frage, bis zu welchem Grad das Bild richtig ist, beschäftigt mich deshalb auch.“ Und fügt hinzu: „Obwohl es die Möglichkeit von Verzerrungen gibt, bin ich doch zuversichtlich, dass das Bild korrekt ist.“

FURCHE, 5. Juni 2008

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