Von bösen Zellen und einem letzten Grund #
Jeder und jede Vierte ist einmal im Leben von der Diagnose „Krebs“ betroffen. Doch was bedeutet das existenziell? Eine Annäherung. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: DIE FURCHE (Donnerstag, 12. Oktober 2017)
Von
Doris Helmberger
Die Plakate sorgten für Empörung. Zu sehen war eine Frau, die selbstsicher – und haarlos – in die Kamera blickte. Darüber zwei lapidare Sätze: „Du kämpfst mit Krebs. Dein Arzt kämpft mit bürokratischen Hürden der Krankenkasse“. Man habe mit dieser provokanten Kampagne gegen die „Ignoranz“ der Sozialversicherungsträger protestieren wollen, hieß es anfangs seitens der österreichischen Ärztekammer. Nach heftiger Kritik von Betroffenen und der Österreichischen Krebshilfe, die das Plakat als Skandal empfand, weil es einen „völlig unmöglichen Zusammenhang“ herstelle, ruderte man aber zurück: „Ich entschuldige mich bei jedem Patienten, der sich durch das Bild, das affichiert wurde, gekränkt fühlt“, erklärte Kammer-Präsident Thomas Szekeres. Man habe keineswegs die Krankheit per se mit den administrativen Aufgaben der Ärzte vergleichen wollen.
Mit Krebs (oder vielmehr gegen ihn) kämpfen zu müssen, gilt heute als das Schreckensszenario schlechthin. Allein der Begriff lässt die meisten an Leid, Schmerz und Tod denken. Kommt es tatsächlich zur Diagnose, werden die Betroffenen in elementarer Weise auf sich selbst zurückgeworfen. Statistisch gesehen ist jeder bzw. jede Vierte einmal im Leben davon betroffen. Und auch jeder vierte Todesfall geht auf eine Krebserkrankung zurück (siehe Kasten).
„In Familie aufgehoben gefühlt“ #
Der Umgang mit dieser Extremsituation ist freilich so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Nehmen wir etwa Christine Brunnsteiner. Es war im Jahr 2000, als bei der damaligen Präsentatorin der ORF-Sendung Steiermark heute Brustkrebs festgestellt wurde – wie bei jeder achten Frau in Österreich. „Es war nicht so, dass ich vollkommen schockiert war, ich war eher überrascht, hatte aber großes Vertrauen in die Ärzte“, erinnert sich die heute 63-Jährige. Um eine Ausbreitung der Krebszellen zu verhindern, wurde die linke Brust entfernt und eine Chemotherapie begonnen. Sieben Monate lang erhielt Brunnsteiner alle 14 Tage Infusionen – und moderierte daneben weiter (mit Perücke) ihre Sendung, ohne dass jemand etwas von ihrer Erkrankung ahnte. Erst später, als die Haare etwas nachgewachsen waren und sie die Perücke abnahm, gab es Zuseherreaktionen – was ein „Outing“ nötig machte und zu einem „massiven Ansturm auf das Thema Krebs“ führte, wie sich Brunnsteiner erinnert. Im Sinne der Aufklärung war das wünschenswert, aber für sie selbst – nach Chemotherapie und Brustabnahme – eine weitere psychische Belastung. „Ich habe aber Krisen immer als Teil des Lebens akzeptiert und mich in meiner Familie und meinem Leben immer gut aufgehoben gefühlt“, erzählt sie. „Das hat mir sehr geholfen.“
Zwei ebenfalls betroffene Frauen, die sie damals kennenlernen durfte, hatten weniger Glück: Bei einer verstärkte die Diagnose vorhandene psychische Probleme, die andere lebte in einer sehr unglücklichen Beziehung und fühlte sich allein gelassen. Beide sind mittlerweile ihrer Krebserkrankung erlegen.
Gibt es Wechselwirkungen zwischen der psychischen und sozialen Situation eines Menschen und seiner Krebserkrankung? Dieser Frage widmet sich die Psychoonkologie. „In der Bewältigung einer solchen Erkrankung spielt die psychische Verfassung eine große Rolle“, weiß Karin Isak, psychoonkologische Leiterin des Beratungszentrums der Krebshilfe Wien. Depression und Ängste – von der Kinderbetreuung über Probleme in Arbeit und Partnerschaft bis zur existenziellen Angst vor dem Sterben – seien häufige Begleiterscheinungen. Umso wichtiger sei es, über diese Ängste zu reden und ein Netz der Unterstützung für den Betroffenen und seine Familie zu spannen. „Auch wenn die Menschen unterschiedlich auf eine Diagnose reagieren, ist sie doch ein Schock, und wir versuchen hier etwas Ordnung in das Gefühls- Chaos zu bringen“, erklärt Isak. Ob sich jemand getragen fühle, sei schließlich bei der Behandlung „entscheidend“:
Doch ist die Psyche auch entscheidend dafür, ob es überhaupt zu einer Krebserkrankung kommt? Diese heikle Frage beschäftigt viele Betroffene. „Natürlich gibt es Risikofaktoren – etwa genetische Faktoren bei einigen Formen von Brustkrebs und Darmkrebs oder Lifestyle-Faktoren wie Rauchen oder Alkohol. Auch Stress kann eine Rolle spielen. Aber der psychische Aspekt wird meist weit überschätzt“, ist Isak überzeugt. Vor allem fehlten bis heute Belege dafür, dass es eine „Krebspersönlichkeit“ gäbe, wie man noch in den 1980er-Jahren dachte. In ihrer langjährigen Beratungstätigkeit habe sie eine solche Bandbreite an Betroffenen kennengelernt, dass sich hier kein Zusammenhang herstellen lasse. „Krebs entsteht auch nicht auf Grund von Lebensunzufriedenheit oder Schicksalsschlägen“, betont Isak. Viele hätten dennoch ihre je eigene Antwort auf die Frage: Warum ich? „Oft sind es absurde subjektive Theorien, die dann auch Schuldgefühle auslösen. Doch es kann jeden treffen: Die Entstehung von Krebs ist ein multifaktorielles Geschehen.“
„Verwesentlichung“ gegen Krebs? #
Diesen multifaktoriellen Aspekt betont auch der Theologe und Mediziner Matthias Beck in seinem neuen Buch „Krebs. Körper, Geist und Seele einer Krankheit“. Zugleich versucht er aber – über die Psychoonkologie hinaus – das Phänomen auch theologischphilosophisch zu deuten. Spätestens die Epigenetik habe gezeigt, so Beck, dass genetische Schädigungen nicht allein für den Ausbruch einer Erkrankung verantwortlich seien. Der Lebensstil, aber eben auch das Innenleben des Menschen hätten Einfluss darauf, ob ein (geschädigtes) Gen aktiviert werde oder nicht. Nach grundsätzlichen Überlegungen zum Leib-Seele-Problem sowie Informationen über Krebszellen – sie besitzen übrigens „eine Art Unsterblichkeit“ – sucht Beck folglich nach geistig-spirituellen „Bedeutungen“ einer Krebserkrankung. Er betont die Wichtigkeit, sich in der Lebensmitte um eine „Verwesentlichung“ bzw. „Stimmigkeit“ des eigenen Lebens zu bemühen; er vertritt die These, dass „die Verdrängung von inneren Antrieben zu Krankheiten führen kann“; und er deutet an, wie die vier Tugenden der griechischen Philosophie (Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß) sowie die christlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe die gesunde Selbstannahme fördern können.
Das alles könnten Krebspatienten als Anmaßung empfinden – wenn man damit alles erklären oder gar Schuld zuweisen wollte. Matthias Beck bemüht sich freilich auch um Relativierung: Viele Krebserkrankungen blieben „nicht zu verstehen“, stellt er klar. Zugleich wolle er aber auch deutlich machen, „dass eine Hinwendung zum letzten Seins- und Seelengrund möglicherweise eine größere Resilienz“ befördern könne. Der Mensch, so Beck, sei jedenfalls „nicht vollständig determiniert“, sondern könne an seiner Heilung mitwirken oder präventiv etwas gegen den Ausbruch einer Erkrankung tun. Eine tatsächlich „personalisierte Medizin“ müsse folglich auch die geistig-spirituelle Dimension berücksichtigen. Viel Stoff also für weitere Debatten – jetzt, wo die Plakate der Ärztekammer endlich abgenommen sind.
- Siehe auch Fortschritte in der Medizin 2020-2024
KREBS. Körper, Geist und Seele einer Krankheit
Von Matthias Beck.
Styria 2017, 142 Seiten, geb., €19,90.