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Harmonie als Welt-Bindemittel#

Der deutsche Komponist und Bratschist Paul Hindemith war eine prägende Gestalt im revolutionären deutschen Musikleben der Zwischenkriegszeit. In späteren Jahren fühlte er die Verantwortung des Künstlers.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 28./29. Dezember 2013)

Von

Markus Vorzellner


Paul Hindemith
Paul Hindemith (1895-1963).
© De Agostini/A. Dagli Orti/Corbis

"Wir müssen die Musik aus dem amorphen Klang herausheben, müssen über die rein sinnliche Wahrnehmung hinaus an ihrer klanglichen Gestaltwerdung teilhaben, wir müssen unsere musikalischen Eindrücke in Formen von Leben und Bedeutung verwandeln."

Dieses Zitat aus Paul Hindemiths musikphilosophischem Buch "A Composer’s world" (1952) mag jenen schalen Beigeschmack austauschbarer Allerwelts-Weisheiten suggerieren, die meist in einem ebenso austauschbaren Umfeld auftreten. Bei Hindemith verhält sich die Sache anders: Er kann als Maxime eines Musikers angesehen werden, der sein gesamtes Leben hindurch seine Tätigkeiten als Komponist, Interpret und Pädagoge in einen vermittelnden und vermittelten Sinnzusammenhang zu stellen versuchte.

Musikalischer Drill#

Bereits als Kind wird er mit den verschiedenen Auswirkungen musikalischer Praxis konfrontiert: Der Vater Robert Rudolf Hindemith lässt seine drei Söhne mit musikalischem Drill erziehen, das aus ihnen bestehende "Frankfurter Kindertrio" wird bei allen möglichen Gelegenheiten vorgeführt. Es handelt sich dabei um die erste kammermusikalische Formation, in der der 1895 geborene Paul Erfahrungen sammeln konnte. Im Alter von 12 Jahren nimmt er Unterricht beim Konzertmeister der Frankfurter Oper, Adolf Rebner, in dessen Quartett er von 1914-21 spielt. Ab 1912 beginnt er ein Kompositionsstudium bei Arnold Mendelssohn, später bei Bernhard Sekles, für dessen Kompositionen er sich auch in den Folgejahren immer wieder einsetzen sollte. Ab 1915 übernimmt er die Konzertmeister-Stelle an der Frankfurter Oper.

Hindemith, der erst 1918 einrückt, macht in diesem letzten Abschnitt des Ersten Weltkrieges einschneidende Erfahrungen. In seinem Kompaniekommandanten Graf von Kielmannsegg findet er einen Förderer anspruchsvollen Kammermusikspiels, wo die Moderne einen besonderen Stellenwert einnimmt. So wird Debussys Quartett gerade gespielt, als die Nachricht von dessen Tod eintrifft, wie einer im Nachlass Hindemiths aufgefunden Notiz zu entnehmen ist: "Musik griff hier über politischen Grenzen, über nationalen Haß und über die Greuel des Krieges hinweg."

In dieser Zeit entstehen die ersten Kompositionen, von denen Hindemith einige noch in späteren Jahren als vollwertig anerkennen wird, so etwa das 2. Streichquartett op. 10. Dessen zweiter Satz weist einen langsamen Marsch auf, "wie eine Musik aus weiter Ferne", bei dem das Cello leise Trommelschläge andeutet - ein Abgesang auf den Krieg. Jenseits dieses Charakters lässt die Melodieführung die Strahlkraft späterer Märsche erahnen, etwa jene am Schluss des Philharmonischen Konzerts (1932) oder der Flötensonate (1936).

Mit einigen der an der Front entstandenen Kompositionen bestreitet Hindemith am 2. Juni 1919 seinen ersten Kompositionsabend, in dessen Rahmen der Schott Verlag auf ihn aufmerksam wird. Die Verlagsleitung bietet dem Komponisten einen Vertrag an, der bis zum Lebensende Hindemiths gelten wird.

In den 20er Jahren eröffnen sich für Hindemith neue Perspektiven: So kann er von seinen Kompositionen leben und die Konzertmeister-Stelle aufgeben. Die Aufbruchstimmung nach dem Krieg mündet unter dem Schlagwort der "Gebrauchsmusik" in eine Freude am Experiment; Hindemith beschreitet als Komponist wie auch als Bratschist neue Wege. Ab 1922 Mitglied des Amar-Quartetts, realisiert er mit dieser Formation einen großen Teil des klassischen wie auch des zeitgenössischen Repertoires. Das Ensemble wird unter anderem sein Streichquartett op. 16 im schwäbischen Donaueschingen zur Uraufführung bringen.

Etablierte Moderne#

An diesen Ort werden mit tatkräftiger Unterstützung von Max Egon zu Fürstenberg, einem Freund des abgedankten Kaisers Wilhelm II., die Musikgrößen der Zeit geladen. So begegnen einander bei den Donaueschinger Kammermusik-Aufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst etwa Richard Strauss, der seine avantgardistische Phase längst hinter sich hat, und Ernst Krenek, dessen Serenade op. 4 beim allerersten Konzert uraufgeführt wird. Hindemith wiederum wird in den kommenden Jahren die Programme des Festivals entscheidend mitbestimmen.

In diesen ersten Jahren ist von den späteren, nahezu ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Richtungen noch nichts zu merken. In einem Brief an das Kuratoriumsmitglied Heinrich Burkhardt schreibt Hindemith 1923: "Wir müssen unbedingt etwas ... von Webern haben. Besonders den Schönberg mußt du auf jeden Fall bekommen." Und so spielt sich ein Jahr später, zu Schönbergs 50. Geburtstag, eine besondere Begebenheit ab: Vor einem Konzert des Amar-Quartetts, in welchem dessen Streichquartett op. 7 erklingen sollte, stürzt der Komponist Philipp Jarnach "ins Künstlerzimmer und sagt dem Quartett: Kinder, Ihr müßt schön spielen, Schönberg ist im Saal - Um Gottes willen rief Paul Hindemith, wir haben das Stück nicht genug geprobt. Sie spielten in der Aufführung nur umso schöner; Schönberg war glücklich".

Für Hindemith stellt der Jänner 1933 nach den - trotz aller wirtschaftlicher Krisen in künstlerischer Hinsicht experimentierfreudigen - 20er Jahren einen zwiespältigen Einschnitt dar: Zum einen zählt er nach wie vor zu den meistaufgeführten Komponisten der Gegenwart, zum anderen wird er als "Entarteter" von der offiziellen Kulturpolitik geächtet. Anfänglich blockiert die Befehlskette noch in den oberen Rängen: So wies der erste Präsident der Reichsmusikkammer, Richard Strauss, seinen Mitarbeiter, den Komponisten Hugo Rasch, an, Hindemith nicht aus der Reichsmusikkammer auszuschließen. Was Strauss noch verhindern konnte, erledigte sein Nachfolger im Amt, Peter Raabe, in führertreuer Pflichterfüllung.

Hindemith bleibt zunächst dennoch ein Faktor im deutschen Musikleben und wird dabei von namhaften Persönlichkeiten unterstützt: Wilhelm Furtwängler leitet die Uraufführung der Symphonie "Mathis der Maler" am 12. März 1934. Als der Dirigent die gleichnamige Oper in der Saison 1934/35 an der Lindenoper ansetzt, folgt prompt das Aufführungsverbot. Als Reaktion veröffentlicht die "Deutsche Allgemeine Zeitung" am 25. November 1934 Furtwänglers berühmt gewordenen Artikel "Der Fall Hindemith", in dem der Autor einen klaren Appell an die deutsche Öffentlichkeit wendet - ein Schlag in das Gesicht derjenigen, welche die Musik des nunmehr sogar "jüdisch versippten Neutöners" zu Fall bringen wollen: "Es ist sicher, daß niemand der jüngeren Generation so viel für das Ansehen der deutschen Musik im Ausland getan hat wie Paul Hindemith (...) Wir können es uns nicht leisten, angesichts der auf der ganzen Welt herrschenden unsäglichen Armut an wahrhaft produktiven Musikern auf einen Mann wie Hindemith so ohne weiteres zu verzichten." Als Antwort des Regimes poltert kurz darauf Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast gegen die "Infektion durch jüdisch-intellektuellen Geist"; Furtwängler tritt von allen Ämtern zurück.

Die Arbeit an seiner Bekenntnis-Oper "Mathis der Maler" über das Leben des Matthias Grünewald und dessen angebliche Mitwirkung bei den Bauernkriegen von 1525 kann durchaus als Hindemiths Auseinandersetzung mit dem Regime interpretiert werden. Seine aktive Mitwirkung bei den Bauernkriegen hindert Mathis an der Erfüllung seiner eigentlichen schöpferischen Sendung. Wenn am Schluss der Oper Paulus dem Heiligen Antonius, dem Alter ego des Mathis, vorwirft: "Du bist zum Bilden übermenschlich begabt. Undankbar warst du, untreu, als du dreist Göttliche Gabe verleugnetest" - so scheint der Komponist, der auch das Libretto verfasste, seine eigene Tätigkeit zu legitimieren.

Den Endpunkt seiner musikalischen Existenz in Deutschland markiert die Uraufführung der Sonate in E durch den Geiger Georg Kulenkampff am 6. Oktober 1936. Der Erfolg ist so groß, dass das Regime Hindemiths Musik nur durch das endgültige Verbot entgegentreten kann. Im Verlag hegt man keinen Zweifel an der Zukunft der Werke: In einem Brief an Hindemith heißt es: "Die Sonaten sind im übrigen im Handel ... und die Werke werden für sich in der Stille wirken." Tatsächlich gelangt die 3. Klaviersonate in B-Dur bereits ein Jahr später in Washington zur Uraufführung. Hindemith wird erst 1940 in die USA emigrieren und dort bis 1953 an der Yale-University unterrichten.

Der Komponist hat sich zur politischen Situation kaum geäußert. Die Behauptung, er habe durch die Erfahrung des propagandistischen Missbrauchs von Musik deren Wert als universelle Sprache herauszuarbeiten versucht, wird aber durch persönliche Äußerungen erhärtet. Hindemiths Intention konzentriert sich auf den Versuch, Musik gleichsam aus jeder Zeitbezogenheit herauszuheben, um allgemeingültige moralische Ansprüche zur Wirkung zu bringen.

Der Altmeister#

Dies erklärt auch seine Absicht, ein verbindliches Tonsystem zu etablieren, dem er als Komponist treu bleiben sollte, das dem Lehrer in ihm jedoch bedenkliche Grenzen setzt. Ist ihm in den 20er Jahren die größtmögliche Funktionalität der Musik wichtig, die auch das Medium Film miteinbezieht und selbst vor mechanischen Experimenten nicht zurückschreckt, so hört man am 29. Oktober 1948 in Wien, dass uns heute nichts übrig bleibt "als das ohnehin längst altmodisch gewordene Suchen nach dem ewig Neuen endlich aufzugeben und mit den alten Harmonien weiterzuarbeiten." Denn "während die technischen Probleme des Komponierens teils schon gelöst sind, teils in absehbarer Zeit gelöst werden können, stellt sich die Frage nach der moralischen Verpflichtung des Komponisten stets von neuem." Er löst diese Verpflichtung u.a. dadurch ein, dass er jedem Orchestermusiker ein Kammermusikstück zur Verfügung stellen will, indem er einen Zyklus von Sonaten für jedes dieser Instrumente in Angriff nimmt; ein Projekt, das erst 1955 mit der Sonate für Basstuba und Klavier seinen Abschluss findet.

Wenn Hermann Broch in seiner Studie "Hofmannsthal und seine Zeit" von 1947 so manche Selbstfindung in der Gegenwart nur mithilfe von Persönlichkeiten aus der Vergangenheit für realisierbar hält, so mag es nicht zu hoch gegriffen sein, Hindemiths Œuvre ab seiner mittleren Schaffensperiode auch unter diesem Aspekt zu betrachten: Er lässt sowohl Matthias Grünewald als auch den Spielmann in seinem Bratschenkonzert "Der Schwanendreher" zu einer überzeitlichen Gemeinschaft sprechen, an die sich Johannes Kepler in Hindemiths letzter großen Oper "Die Harmonie der Welt" von 1957 ebenfalls wenden wird.

Nahezu folgerichtig erscheint, dass Hindemith als letztes Konzert seines Lebens am 12. November 1963 die Uraufführung seiner A-capella-Messe in der Wiener Piaristenkirche leitet, lässt sich doch die überzeitliche Form der "missa" bereits am Ursprung abendländischer Werkgestalt finden. Zwei Tage später kommt er in seiner Wahlheimat Blonay am Genfer See an. Am 23. November wird Paul Hindemith in ein Frankfurter Krankenhaus eingeliefert, wo er am 28. Dezember 1963 nach mehreren Schlaganfällen stirbt.

Markus Vorzellner, Pianist(Schwerpunkt Kammermusik und Liedbegleitung), Musikpublizist und Pädagoge; lebt in Wien.

Wiener Zeitung, Sa./So., 28./29. Dezember 2013