Von Leitmelodien und Leidmotiven #
In den 1930er-Jahren war er ein gefeierter Tenor, vor den propagandistischen Karren ließ sich der „Shootingstar“ mit jüdischen Wurzeln dennoch nicht spannen, er floh. Vor 75 Jahren starb Joseph Schmidt in einem Schweizer Internierungslager. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 16. November 2017).
Von
Oswald Panagl
I. „Ach, alles sinkt hinab“ – Der 16. November 1942 begann mit freundlichen Vorzeichen für einen schwerkranken Menschen und politischen Flüchtling, der nur wenige Jahre davor noch Kinosäle gefüllt, Rundfunkprogramme beherrscht und Schallplattenfirmen reich gemacht hatte. Der Jude Joseph Schmidt, am 4. März 1904 in einem kleinen Dorf der Bukowina nahe von Czernowitz geboren, hatte als 25-Jähriger binnen kurzem in Deutschland eine Stufe der Karriereleiter erklommen, für die der „neudeutsche“ Jargon das Etikett „Shootingstar“ bereithält. Trotz – oder vielleicht sogar wegen – einer Körpergröße von bloß einem Meter vierundfünfzig, die dem Sänger eine reguläre Bühnenlaufbahn verwehrte, war der Tenor zu einem unbestrittenen Liebling der Massen aufgestiegen: weil ihn ein besonderes, unverwechselbares, leicht nasal gefärbtes Timbre im Verein mit einer strahlenden, schier unbegrenzten Höhe für den Rundfunk, das moderne Medium der Zwanzigerjahre schlechthin, prädestinierte.
Schon immer hatte das breite Publikum eine Vorliebe für Idole abseits der ausgetretenen Pfade und jenseits der erwartbaren Norm, vor allem dann, wenn außergewöhnliche künstlerische Fähigkeiten körperliche Defizite aufwogen und dazu ein fremdartiges, geheimnisvolles Flair im Spiel war. Zum Anreiz des „Merk-würdigen“ gesellte sich bisweilen eine Art von Mitleidsbonus sowie vertrauter, beinahe familiärer Nähe. Bei Künstlern dieser Art aber mag man zudem an die Individualpsychologie eines Alfred Adler denken, die von der Kompensation naturgegebener Mängel durch unbändige, der Physis abgerungene Leistungen ausgeht.
Radio- und Plattenliebling #
Die seltsame Diskrepanz zwischen der beinahe zwergenhaften Erscheinung des Sängers und einer überwältigenden Klangfülle ließ die einen an ein Wunder glauben, andere wiederum eine publicityträchtige mediale Finte mit einem vokalen Double im Hintergrund vermuten. Alsbald nützte der Tonfilm die Statur und Stimmakrobatik des Sängers zu einer meist schablonenhaften, in Details variierenden Dramaturgie. Das Grundmuster bediente sich authentischer Züge von Schmidts Biografie. Ein aus einfachen Verhältnissen stammendes Naturtalent setzt sich wider alle Erwartungen und Vorbehalte durch, wird schlagartig berühmt, zugleich aber um privates Lebens- und Liebesglück betrogen. Denn junge Frauen ziehen sich jeweils enttäuscht zurück, sobald ihr Radio- und Plattenliebling nicht den hoch gestochenen Erwartungen an sein Äußeres entspricht. Titel wie „Ein Lied geht durch die Welt“, „Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben“ oder „Ein Stern fällt vom Himmel“ gehen durchwegs mit dem Text eines Tenorschlagers einher, der als Leitmelodie (bisweilen auch als „Leidmotiv“) der Handlung ihre Signatur liefert.
Aber mit diesen großteils in Österreich gedrehten Filmen haben wir bereits den politischen Umbruch von 1933 übersprungen, der Schmidts Erfolgskurve in Deutschland abrupt abbrach. Dabei verfolgte der Kulturbonze Joseph Goebbels zunächst eine raffinierte Doppelstrategie. Von Schmidts Stimme fasziniert, dazu womöglich an seinen eigenen Kleinwuchs erinnert, dachte er an eine bewusst gesetzte Ausnahme vom Regelfall: Getreu dem Motto „Wer ein Arier ist, bestimme ich!“ wollte er nach zuverlässigem Zeugnis diesen Kassenmagneten vor den propagandistischen Karren spannen und so ein Exempel scheinbar liberaler Kulturpolitik statuieren. Der Erwartung an den Sänger, dabei seine ethnische Wurzeln zu leugnen, enge familiäre Bindungen abzustreifen und einer widerwärtigen Ideologie zu dienen, konnte und wollte dieser freilich nicht entsprechen. Damit aber war sein Schicksal besiegelt war. Die Jahre danach wurden zu einem beständigen Hürdenlauf, bei dem sich stets neue Hindernisse auftaten und eine Rettungschance nach der anderen abbröckelte. Bis 1938 war Österreich, besonders Wien, ein leidlich sicherer Rückzugsort, später suchte Schmidt künstlerisch und menschlich der Reihe nach in Belgien und Frankreich sein Heil. Doch er fand es nicht auf Dauer, denn die Blitzkriege des Hitlerregimes verengten ab 1939 sukzessive den Lebensraum des Sängers. Die fortwährende Flucht gewährte ihm keine dauerhafte Zuflucht.
Internationale Karriere #
Vor dieser Zäsur hatten dem Tenor erfolgreiche Reisen nach England und in die USA Episoden künstlerischer Genugtuung beschert. Der Gast aus Europa durfte im März 1937 an der Seite von Maria Jeritza in der New Yorker Carnegie Hall triumphieren. In Brüssel wiederum riskierte das renommierte Théâtre Royal de la Monnaie 1939 eine Inszenierung von Puccinis „La Bohème“ mit Schmidt in der Rolle des Dichters Rodolfo, bei der sich allerdings das Manko einer echten Mikrofonstimme im akustischen Ambiente einer Opernbühne herausstellte.
Um die Wende 1941/42 spitzte sich die Lebenslage des Sängers dramatisch zu. Der Rettungsanker eines kubanischen Visums erwies sich als trügerisch. Denn die für den 20. Dezember von Nizza aus geplante Schiffsreise scheiterte am Eintritt Kubas als Verbündeter der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg, was den Seeverkehr plötzlich zum Erliegen brachte. Von den französischen Behörden des Vichy-Regimes eingeengt, ja geradezu kaserniert, plante Schmidt mit Gleichgesinnten den illegalen Grenzübertritt in die neutrale Schweiz, der unter ungeklärten Umständen in der Nacht von 6. auf den 7. Oktober 1942 in der Nähe des Genfer Sees gelang.
II. „Launisches Glück“ – Das gelobte Land der Freiheit zeigte dem Emigranten ungnädig die kalte Schulter. Sein auch in der Schweiz bekannter Name bewahrte Schmidt nicht vor hochnotpeinlichen Verhören, schikanösen bürokratischen Verfahren und der Internierung in das Flüchtlingslager von Girenbad nördlich von Zürich.
Versuche wohlmeinender, einflussreicher Gönner, ihn für die Ausübung seines Berufs gegen Kaution auf freien Fuß zu setzen, scheiterten an der Borniertheit der Ämter, wobei wohl mehrere Gründe konspirierten: Eine notorisch engstirnige Einstellung der Eidgenossen gegenüber Zuzüglern verband sich mit einer auch hierorts schwelenden antisemitischen Gesinnung, wozu noch die latente Sorge trat, Hitlerdeutschland zu provozieren und dadurch den labilen Status der Neutralität zu gefährden.
Ungeduldig und rastlos #
Die unwirtliche Kälte, mangelhafte Ernährung und der unwirsche Ton der Aufsichtsorgane über die 350 Lagerinsassen schwächten und demoralisierten den feinsinnigen, körperlich erschöpften Künstler. Eine schwere Halsentzündung machte den Aufenthalt im Kantonsspital Zürich notwendig. Heftige Brustschmerzen ignorierte der Klinikchef, ja deutete sie als Schutzbehauptung gegen eine baldige Entlassung. Am 15. November musste der Patient ins Lager einrücken. Eine gutmütige, hilfsbereite Gastwirtin, die von Schmidts schlechter Verfassung erfuhr, gewährte ihm ein wenig Rast in einem geheizten Zimmer. Noch am Vormittag des 16. November verschied der Sänger nach einem kurzen Aufflackern seiner Lebensgeister. Jene freundliche Frau Hartmann berichtet darüber: „Verlegen griff ich nach seiner Hand: ‚Herr Schmidt, Herr Schmidt‘. Doch er hörte es nicht mehr…“.
Der Lagerarzt stellte Tod durch Herzversagen fest. Zwei Tage zu spät für ihn traf die Genehmigung ein, als freier Mann wieder seinen Beruf aufnehmen zu können.
III. „Glück, das mir verblieb“ – Facetten der Persönlichkeit von Joseph Schmidt, authentisch überliefert, zeigen einen lauteren Menschen: uneigennützig, kollegial, zugleich temperamentvoll und witzig, aber auch naiv und arglos seiner Umgebung gegenüber und daher nicht selten ausgenützt und hintergangen. Aber sein ganzes Wesen ist auch von Ungeduld und einer inneren Rastlosigkeit geprägt, als wüsste er, dass ihm nicht viel Zeit zum Leben und Schaffen gegönnt ist. Mit einem anderen großen Sänger der Epoche, Richard Tauber, als Halbjude auch er verfolgt und in die Emigration getrieben, verband Schmidt eine herzliche Freundschaft. Mit Begeisterung sang er Lieder aus der Feder des ‚Konkurrenten‘. Dieser wiederum, der eine kaum überschaubare Zahl an Tondokumenten hinterlassen hat, sagte zeitlebens nur einen einzigen Aufnahmetermin ab: als er nämlich Mitte November vom Ableben des Kollegen und Freundes erfuhr.
Die Erinnerung an Joseph Schmidt hält der Schweizer Sänger und Autor Alfred A. Fassbind wach. In seinem Joseph-Schmidt-Archiv sammelt er akribisch biografische Zeugnisse und geht jeder nennenswerten Spur nach. Im Buch „Sein Lied ging um die Welt“ flicht die Nachwelt dem Mimen durchaus Kränze und setzt seiner Kunst ein bleibendes Denkmal. Nach einem pointierten Wort ist ein Mensch nicht wirklich gestorben, solange andere an ihn denken. So besehen weilt Joseph Schmidt immer noch unter uns.