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PROTEST SONGS #

Peter Diem #

„Academia“ April 1967

„Ein garstig Lied! Pfui, ein politisch lied, ein leidig Lied! Dankt Gott mit jedem Morgen, dass ihr nicht braucht fürs Röm'sche Reich zu sorgen!“ Goethe, Faust

Dem Durchschnittsösterreicher ist die „Grüne Welle", die Renaissance des internationalen Volksliedes und des zeitkritischen Liedes, kein Problem. Ihm droht nicht die Einberufung zum Dschungelkrieg und nicht die „Rassenvermischung“. Seiner Luftwaffe ist weder eine Atombombe ins Meer gefallen noch haben sich ein halbes Hundert schallschneller Abfangjäger in seine Heimaterde gebohrt. Österreichs Jugend lässt LSD kalt. Auch für andere neckische Wohlstandsspielchen kann sie sich nicht erwärmen. Jahrhundertelang obrigkeitsstaatlich regiert, fehlt dem Österreicher seit jeher die Lust zum Protestieren — noch dazu nach Noten. Von stilreinen Hofkompositoren und schmissigen Militärkapellmeistern musikalisch wohl betreut, stützt sich seine Volksmusiktradition in der Hauptsache auf den alpenländischen Heimatgesang. Nur in den unheilschwangeren Tagen des Vormärz, da das Studentenlied grassierte, und zu eines Nestroy Zeiten, da für die Bühne geschriebene Couplets die Runde machten, spürte man bei uns ein wenig vom Pfeffer des engagierten Liedes.

Doch bald wich die Opposition der Operette und statt Salz war wieder Schmalz gefragt. Und eines schönen Tages tanzte das Volk der Sänger und der Geiger willig nach der Pfeife eines ihm entlaufenen Tapezierers. Besser gesagt, brüllte hinter dem Schellenbaum, die Reihen fest geschlossen.

Zwei Jahrzehnte nach dem Ende mit Schrecken hat sich der Herr Karl wieder zwischen Schnitzel, „Kremser Schmidt" und Fernsehtruhe eingeigelt. Was ein paar Flugstunden landauswärts vergeht, wird ihm zwar live vor die Blümchentapete geflimmert, doch nur bis 20.10 Uhr — dann kommen die Löwinger zu ihm. Mit Volksmusik.

ACADEMIA-Leser, kraft ihrer Ausbildung von beachtlicher Aufgeschlossenheit, könnte musikalischer wie zeitkritischer Gehalt der sogenannten „Protestsongbewegung " interessieren.

Linien der Entwicklung#

Wurzelnd in einer reichen britannischen, um das Brauchtum der Einwanderer und der Negerbevölkerung ergänzten Tradition, gewann das Singen alter und neuer Volkslieder in den USA der späten fünfziger Jahre stark an Bedeutung. Die „Grüne Welle" (der Ausdruck wurde von einer österreichischen Schallplattenfirma geprägt) umfasst eine Reihe von Stilgruppen. Neben den alten englisch-schottischen, schon 1898 von F. J. Child in fünf Banden gesammelten Balladen und den internationalen Volksliedern zählen dazu: der maisstrohraschelnde „Country & Western Style", der südstaatlich-schwermütige „Blues", die überlieferten religiösen Gesänge der Afroamerikaner („Spirituals"), die modernen der Weißen („Gospel Songs") und die „Protest- und Problemsongs“, das zeitkritische, das engagierte Lied. Spätformen wie „Rhythm & Blues" und „Folk Rock" können wegen ihrer starken Ausrichtung auf den Publikumsgeschmack hier unberücksichtigt bleiben. Kristallisationspunkte des zeitkritischen Liedes waren die englische Ostermarschbewegunq und der Bürgerrechtskampf der amerikanischen Neger. 1960 wurde das erste Folk-Festival in Newport, Rhode Island, veranstaltet. Den eigentlichen Durchbruch aber erzielte die Protestsongbewegung 1903. Am 8. Juni dieses Jahres gab Pete Seeger seinen klassisch gewordenen Liederabend in der Carnegie Hall. Höhepunkt war das Finale mit „We shall overcome“ („Wir werden es schaffen"). Dieses ergreifende Lied über die Gewaltlosigkeit ist neben „Oh, Freedom" seither auch international als Hymne der Bürgerrechtsbewegung bekannt geworden.

Am 28. August 1963 fand der „Marsch auf Washington' statt, an dem die heute weltberühmten Interpreten Joan Baez, Bob Dylan und die Negersängerin Odetta teilnahmen. In der Folge breitete sich die Protestsongbewegung praktisch über die ganze freie Welt aus. Sie manifestiert sich in tausenden Platten, in Konzerten und in den verschiedensten Formen intellektueller Opposition. Der Vietnamkrieg bildet Thema Nr. 1, gefolgt von Ban-the-Bomb-Motiven, der Forderung nach Beseitigung der Rassendiskriminierung, nach sozialer Gerechtigkeit und der Abwendung drohender Zivilisationsschäden. Immer mehr setzt sich freilich — besonders in Ländern wie Deutschland und Österreich — eine Abneigung gegen diese zum Großteil zur „Masche" und zum „Klischee" erstarrten Themen und eine Vorliebe für subtilere, ästhetisch-symbolische Gesellschaftskritik durch.

Who is who in „Folkdom”#

Joan Baez, 20, Tochter einer aus England stammenden Theaterwissenschaftlerin und eines in Mexiko geborenen Physikers, gilt als die ungekrönte Königin der „Folkniks“. Wegen ihrer dunklen Hautfarbe in New York als „nigger" verschrien, erging es ihr in der Mittelschule in Palo Alto, Kalifornien, kaum besser. An die Ostküste zurückgekehrt, begann „JB" bald ohne formale Ausbildung in Studentenlokalen zur Gitarre zu singen. Ihr glasklarer Sopran, dem sie ein esoterisches Tremolo zu geben vermag, brachte ihr nach dem Newport Festival 1059 einen Vertrag mit Vanguard.

Heute lebt Joan Baez (sie spricht ihren Namen ba'jiz aus) in Carmel Kalifornien. Wie viele ernste Volksmusikinterpreten, ist sie, so wird berichtet, zutiefst von der Richtigkeit der mit den Mitteln der Gewaltlosigkeit betriebenen Bürgerrechtsbewegung überzeugt. Als Pazifistin nimmt sie immer wieder an Anti-Kriegs-Aktionen teil, zuletzt 1966 am Ostermarsch im Ruhrgebiet. Auf die Frage eines französischen Journalisten, ob sie mit dieser Haltung nicht dem Kommunismus nütze, antwortete sie: „Es gibt kein besseres Mittel, den Kommunismus zu verbreiten, als das, was sich zurzeit In Vietnam abspielt ... wie kann der Kommunismus schlimmer sein als das, was wir im Augenblick machen? Ich sage nicht, dass der Kommunismus etwas Gutes ist. Aber ich bin gegen Mord und versuche, dem Massaker ein Ende zu setzen."

Jaguar-Fahrerin Baez hat zahlreiche LP's, hauptsächlich mit alten englischen Volksweisen und Bob-Dylan-Liedern, gemacht. Am eindringlichsten ist wohl das auch auf Einzelplatte erhältliche Lied „With God On Our Side“ — eine fast theologische Auseinandersetzung mit dem Problem des gerechten Krieges. Mag Joan Baez auch von der barfuß-lang-haarigen College-Sängerin zum bühnen-gefragten Weltstar aufgestiegen sein (Verkaufszahlen: USA 3 bis 4 Millionen Platten, Europa 400.000), ihre Fans beurteilen sie nur nach dem Klang ihrer Stimme: es klingt übertrieben, aber diese Stimme ist einmalig.

Pete Seeger ist der „Altmeister' unter den berühmten Volksliedinterpreten. Sohn eines Musikers, zog er als Banjospieler zusammen mit dem legendären Woody Guthrie („This Land Is Your Land") in den vierziger Jahren durch die Südstaaten der USA. Unterwegs baute er sich ein Repertoire auf, das er später in zahllosen Auslandsreisen durch internationale Folksongs ergänzte. Pete Seeger (auszusprechen wie deutsch „Sieger“) stellte 1950 die Volksliedergruppe „The Weavers“ auf, deren Version von „Good Night Irene" allgemein als Katalysator für den Erfolg der „Grünen Welle" gilt. Besonders charakteristisch für Pete Seeger sind sein schlichtes Auftreten, seine einfach-sympathische Stimme und die ungewöhnliche Gabe, jedes Publikum zum Mitsingen zu animieren. Plaudernd leitet er seine Vorträge mit ein paar Banjoschlägen ein, um die Zuhörer bei Fortschreiten des Liedes Immer mehr zu enthusiasmieren. Am Schluss ergibt sich dann meist eine Art von Wechselgesang, in dem Pete Seeger zu der vom Publikum geführten Hauptstimme harmonisch improvisiert.

Liegt die Stärke von Joan Baez eher in der melancholischen Ballade, so beherrscht Pete Seeger das humorvolle wie das intensiv gesellschaftskritische Lied gleich gut. Unter den über 50 LP‘s sind am bekanntesten die Live-Aufnahmen „We Shall Overcome“, „I Can See A New Day“ und „God Bless The Grass“, worin Seeger gegen die Überzivilisierung zu Felde zieht.

Der hemdsärmelige Sozial-Barde wurde im Übrigen des Öfteren mit Auftrittsverboten belegt und unter McCarthy sogar kurz inhaftiert. Wer ihn das 1964 entstandene Lied „Healing River“ singen hört, wird sich dem Zauber dieses „Rattenfängers der Freiheit* schwer entziehen können.

Bob Dylan, 26. ist das überraschendste Talent unter Amerikas revoltierenden, schockierenden und kritisierenden Sängern. Beim siebenten Mal erfolgreich aus dem sterbenden Bergarbeiterstädtchen Hibbing an der kanadischen Grenze ausgerissen, widmete sich der Junge Robert Zimmermann zunächst dem Blues.

Nachdem er seinen Namen in Dylan (wahrscheinlich nach einem Onkel, nicht nach Dylan Thomas) geändert hatte, gab er ein Zwischenspiel an der Univer¬sität Minneapolis. Ende I960 landet er in New Yorks „Greenwich Village“, wo er, vom sterbenden Woody Guthrie inspiriert, regelmäßig Lieder zu schreiben beginnt. Seine erste Platte erscheint 1961 bei CBS. Im nächsten Jahr erzielt der heiser und undeutlich singende Wuschelkopf mit „Blowing in the Wind" einen Spitzenerfolg. Immer mehr Texte und Melodien fallen dem noch nicht Fünfundzwanzigjährigen ein: wie selten vor ihm werden die Dinge unserer modernen Welt zum Hintergrund einer romantischen und doch unpathetischen Liebeslyrik. Bob Dylan entwickelt eine symbolisch-surrealistische Poesie, mit unbelebten post-nuklearen Landschaften voll harter Abschiedsstimmung. „A Hard Rain's Gonna Fall“ und „Farewell Angelina“ sind gute Beispiele dafür. In den letzten Jahren ist Bob Dylan auf eine mehr rhythmus-betonte Interpretationsform (CBS-Österreich-Manager Van Grondelle: „Ein Instrument nach dem anderen kam dazu“), auf den „Folk-Rock" übergegangen. Seine Verkaufserfolge sind dadurch nur angestiegen. Die „authentics“, die „Puristen“ unter den Folk-Fans, bedauern diese Entwicklung. Ihnen wird man mit Bob Dvlan nur sagen können: „The order is rapidly fading / and the first one now / will later be last / for the times they are a-changing. “

Donovan. Den Weg nach Europa hat die „Grüne Welle* zunächst über die britischen Inseln genommen, Hauptvertreter des „topical songs“ ist Donovan Leitch, 21. Wie die meisten seiner Kollegen ein unsteter Geist, kam Donovan nach ausgiebigem Trampen durch das Fernsehen zu Show-Ehren. Heute schreibt der „englische Bob Dylan“ lyrischen Beat unter Drogeneinfluss. So trägt der Text von „Sunshine Super¬man“ und „Mellow Yellow“ eindeutig die irrealen Züge schillernder LSD- Träume.

Echo im deutschen Sprachraum#

Deutschland hat sich, wie zu erwarten war, mit dem Thema „Folk- und Protestsongs" sehr intensiv auseinandergesetzt. In unserem nordwestlichen Nachbarland existieren freilich auch (größtenteils tabuisierte) Probleme, die über die üblichen Schattenseiten moderner Wirtschaftswunderwelt hinausgehen: Wiedervereinigung und Mauer, Wiederaufrüstung und der ins Kraut schießende deutsche Nationalismus. Servieren Franz Joseph Degenhart, 34, und Dieter Süverkrüp, 33, handfesten Protest gegen atomares Mitspracherecht, „Humanitäteräh“ und „Korrumpelstilzchen“, modeln die Hamburger „City Preachers“ alte Volkslieder auf „zeitkritisch" um. So wird aus dem unschuldigen Kinderlied „Maikäfer, flieg, dein Vater ist im Krieg ..." plötzlich ein swingendes Anti-Vietnam-Lied. Christopher & Michael sind Vertreter eines „resignierenden Protestes", einer Jugend ohne Illusionen. Sie geben offen zu, zu schwach zu sein, um durch ihre Lieder die Welt zu verändern. Ihr bisher bekanntestes Chanson endet mit den Worten: „Ich sehe keine Sonne mehr scheinen / im Rhein, da schwamm ein weißer Wal."

Seit Dezember 1965 existiert auch in Österreich eine Folksong-Gruppe von internationalem Format. Jack Grunsky, 20, ein Kanadier, hat sie gegründet (Amadeo-Pressechef Walter Praxi: „Mir hat es leidgetan, dass Jack durch seinen Plattenvertrag die Bühnenbildnerei aufgeben musste"): „Jack’s Angels“ sind ein Team mit ausgesprochen optimistischer Grundeinstellung. Claudia, ein stark an Joan Baez erinnernder Sopran, der „Cowboy-Bass“ Butt (2. Gitarre) und Christoph, ein humorvoller Medizinstudent (Schlagbass), sind die heimischen Partner Grunskys. Jack schreibt einen Großteil des Repertoires seiner „Engel" selbst. Besonders bekannt geworden sind: „Ten Thousand Candles“ und „1983“ („This way it might be / with you and with me / we'll fight to be free / in 1983“). Gut gelungen war auch: Jesus meet the Woman at the Well.Trotz ihrer grundsätzlich positiven Weltschau spürt man auch bei den „Angels" deutlich die Problemstellungen: Die Freiheit in der Demokratie, das Vorurteil gegen die Andersfarbigen, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid in der Welt. Die Jugend will sich nun einmal nicht mit einem „ja da kann ma halt nichts machen“ abfinden. Sie steht in der Situation der zerbrechenden Leitbilder, sie ringt mehr als je zuvor mit der Frage des Versagens der „Verantwortlichen“, da sie mehr als je zuvor mit den Problemen dieser Welt konfrontiert wird. Unter dem Eindruck durchaus richtig aufgefasster existenzphilosophischer Überlegungen fühlt sich die junge Generation für das „je-meinige" Menschheitsschicksal mitverantwortlich, ohne freilich oft im konkreten mitgestaltend eingreifen zu können. Ein Ausdruck dieses Konfliktes ist der Protest im Lied.

Eine erste Welle protest- und problemgeladener Liedkunst ist über uns hinweg gezogen. Zurück bleibt die Frage: Wenn das freiheitsbezogene Studentenlied – als letzte echte Äußerung eines musikalischen Nonkonformismus — die „engagierte“ Jugend des 19. Jahrhunderts begeisterte, kommt die Funktion der geistigen Sammlung heute dem zeitkritischen Lied beschriebener Art zu?


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