Im grünen Canyon #
„Small is beautiful“: Im Thayatal bewahrt der kleinste Nationalpark Österreichs ein einzigartiges Naturlabor. Unterwegs auf einer Kräuterwanderung zum 20-Jahr-Jubiläum. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (24. September 2020)
Von
Dagmar Weidinger
Wanderschuhe und ausgediente Kapperln sollte man bepflanzen. Findet Helga Donnerbauer, die älteste Nationalparkrangerin Österreichs. Dementsprechend ziert ihr üppig mit Fetthenne und Hauswurz bewachsenes erstes Paar Wanderschuhe den Eingang des Besucherzentrums im Nationalpark Thayatal. Österreichs kleinster Nationalpark und seine älteste Rangerin feiern beide ein besonderes Jubiläum. Im Jahr 2000 wurde das grenzüberschreitende Gebiet entlang der tschechischen und österreichischen Thaya hierzulande zum Nationalpark erklärt – vor 20 Jahren also. Und Helga Donnerbauer, seit 40 Jahren im nahe gelegenen Ort Merkersdorf ansässig, wird im Jänner 80. Ihre Geschichte und die des Nationalparks sind aufs Engste verwoben, war es doch ihr Mann, der damals federführend in der lokalen Bürgerinitiative war, die sich gegen viele Widerstände für ein Naturschutzgebiet aussprach.
Wer sich heute mit Helga Donnerbauer auf eine ihrer Kräuterwanderungen durch den grünen Canyon begibt, kann sich kaum vorstellen, dass hier nicht schon immer der Naturschutz im Zentrum gestanden ist. Fast märchenhaft wirkt die üppig bewaldete Landschaft zu beiden Seiten der Thaya – Mischwald, wohin das Auge blickt, in vielen Grünschattierungen. Dazwischen saftige Wiesen am Flussufer mit umgefallenen Bäumen, die morbid ins Wasser ragen.
Leben im Totholz #
Auslöser für die Nationalpark-Idee sei ein geplantes drittes Staukraftwerk entlang des Flusses beim tschechischen Býčí skála („Stierfelsen“) gewesen. Wiesen, Wälder und Felsen wären so quasi über Nacht von den Fluten verschluckt worden. „Kraftwerksbauer sind eigentlich die besten Naturschützer“, bringt es Nationalparkdirektor Christian Übl mit einem Augenzwinkern auf den Punkt. Das Projekt habe nämlich den Naturschutz erst so richtig auf den Plan gerufen. Während Tschechien aufgrund des verstaatlichten Besitzes bereits 1991 recht rasch und unbürokratisch einen Nationalpark errichten konnte, sollte es in Österreich länger dauern. Die ansässigen Bauern sowie zwei Grafengeschlechter mussten erst überzeugt werden, auf ihren Landstrichen künftig auf Eingriffe zu verzichten. Helga Donnerbauer erzählt gerne aus dem Nähkästchen: „Die Bauern haben immer schon gern das Totholz liegen gelassen. Dass sie es nun tun mussten, hat ihnen dennoch nicht gepasst.“ Trotzdem war der Naturschutz erfolgreich. Kurz vor der Jahrtausendwende wurde die ehemalige Arztpraxis in Hardegg zum ersten Nationalparkbüro umgewandelt.
Gleich zu Beginn des Kräuterspaziergangs weist Donnerbauer auf ein besonderes Kennzeichen jedes Nationalparks hin: das Totholz. „Die umgefallenen Baumstämme sorgen dafür, dass sich eine besondere Artenvielfalt entwickeln kann“, sagt die Rangerin. Neue Nistplätze, Rückzugsorte und Futterquellen entstehen so über die Jahre auf natürlichem Weg. Störereignisse wie der Eisbruch vor sechs Jahren tragen zusätzlich zu einer rascheren Wildwerdung bei. Denn gar so natürlich wie jetzt war das Nationalparkgebiet nicht immer, weiß Donnerbauer. „Zu Beginn wurde der vom Menschen künstlich aufgeholzte Fichtenbestand aus dem Mischwald entfernt.“ Schritt für Schritt und mit größtmöglicher Sorgfalt für die umgebende Vegetation. So hätte man wieder Platz geschaffen für klimatisch besser angepasste heimische Baumarten wie etwa Rot- und Hainbuche, Eiche, Ahorn und Linde.
„Insgesamt gibt es im Thayatal knapp 20 verschiedene Waldtypen“, berichtet Thomas Wrbka, Vegetations- und Landschaftsökologe der Universität Wien. „Von Rotbuchenwäldern über LindenAhorn-Steinhangwälder bis hin zu Steppenwäldern. Das ist für so ein kleines Gebiet ganz erstaunlich.“ Grund für die enorme Pflanzenvielfalt ist unter anderem das Zusammentreffen unterschiedlicher klimatischer Einflüsse. So liegt der Nationalpark einerseits im Einflussgebiet kontinentaler Klimaströmungen aus dem Waldviertel sowie andererseits pannonischer Einflüsse aus dem Weinviertel. „Bereits in den 1990er Jahren erhoben die tschechischen Kollegen 1290 Pflanzenarten“, erzählt Direktor Übl. Seit damals seien jedoch noch viele dazugekommen; eben würde man an einer Neuevaluierung arbeiten. In ganz Österreich finden sich übrigens knapp 3000 Pflanzenarten.
Auf dem Weg bleibt Donnerbauer immer wieder stehen, um die einzelnen Baum- und Pflanzenarten zu benennen und genau zu beschreiben. Oft sind es kleine Geschichten, die es dem Besucher erleichtern, sich die Details zu merken, wie etwa jene vom Teufel, der einmal aus lauter Ärger in die Eichenblätter fuhr, sodass diese ihre typische Form erhielten. Die Rangerin führt nicht zufällig Kinder und Schulklassen durch den Wald. Für sie wie auch für die Nationalparkleitung sind Naturschutz und Weitergabe von Wissen aufs Engste verknüpft. „Nur wenn wir die Natur kennen, werden wir sie schützen wollen“, so Donnerbauer.
Die wachsenden Besucherströme sieht sie daher positiv. Bereits 2019 fanden rund 32.000 Besucher ihren Weg ins Thayatal. Der coronabedingte Trend zum Österreich-Urlaub ließ die Zahl der Individualbesucher nochmals ansteigen, während andererseits Schulklassen und Gruppenreisende wegfielen. Die meisten Besucher würden sich genau an die Nationalparkregeln halten. „Kommt mir auf einer Wache doch einmal jemand mit einem bunten Blumenstrauß entgegen, reicht meistens eine kleine Erinnerung“, erzählt Donnerbauer, die wie alle hier arbeitenden 29 Ranger nicht nur durch den Park führt, sondern auch regelmäßige „Wachen“ hält – Kontrollgänge, um den Schutz der Natur zu gewährleisten.
Während die quirlige Rangerin sich bei ihren Führungen auf die Kräuter spezialisiert, legen einige ihrer Kollegen den Schwerpunkt auf besondere Tierarten, wie etwa die hier ansässigen Wildkatzen, Reptilien und Schlangen oder Vögel und Insekten. „Hier kommen viele Arten vor, die in der ganzen Umgebung des Nationalparks nicht mehr zu finden sind, wie etwa 53 der 140 heimischen Heuschreckenarten“, sagt Zoologe Leopold Sachslehner vom Büro für Naturschutzpraxis & Forschung in Wien. Und auch der vom Aussterben bedrohte Seeadler wurde im Thayatal heuer bereits sechsmal gesichtet. Das inoffizielle Wappentier des Nationalparks, der Schwarzstorch, brütet im tschechischen Schutzgebiet; nach Nahrung sucht er aber auch auf der österreichischen Seite. Und wer bei einer Wanderung entlang der stillen Pfade ein bisschen Glück hat, sieht eine schillernde Smaragdeidechse, wie sie sich auf einem Felsen sonnt. Der Park ist ein „Hotspot“ der Biodiversität.
Rückkehr der Wildkatzen #
Einer der größten „Natur-Erfolge“ des Nationalparks ist wohl die Wiederentdeckung der Wildkatze im Jahr 2007. Diese galt in Österreich seit den 1950er Jahren als ausgestorben. Seit ihrer Ausforschung werden immer einige Katzen im 450 Quadratmeter großen „Zoo“ direkt beim Nationalparkhaus gehalten, um ihre weitere Beobachtung und die beliebten Schaufütterungen zu ermöglichen. „Auch unsere aktuellen Forschungsprojekte befassen sich mit den Korridoren der Wildkatzen in Europa“, erzählt Biologe und Nationalparkdirektor Christian Übl.
Helga Donnerbauers Runde endet auch bei den Wildkatzen und bei ihren ersten Wanderschuhen im Kräutergarten, den sie gemeinsam mit anderen Rangern vor dem Nationalparkzentrum angelegt hat. Wer schon immer einen Schnellkurs in Kräuterkunde machen wollte, ist hier am richtigen Ort – von Spitzwegerich über Frauenmantel, Sauerampfer bis hin zu Ringelblume und Wollziest ist vieles zu finden – in einem „Kuddelmuddel“, wie Donnerbauer lachend sagt: „Bei mir im Garten ist es wie in der Natur im Thayatal. Alles darf wild und durcheinander sein.“ Erkennt die an der Waldviertler Kräuterakademie ausgebildete Rangerin einmal ein Kraut nicht, so reicht ein Anruf bei Kräuterpfarrer Benedikt im nahe gelegenen Stift Geras, um die Sache zu klären.
Wer Donnerbauer auf ihren Führungen begleitet, spürt ihren Ehrgeiz, die Flora des Nationalparks wirklich zu kennen. So wollte einer der Besucher wissen, wie eine besonders anmutige gelbe Pflanze im Wald heißt. Sie war zunächst ratlos. Am Ende der Führung suchte sie ihn im Restaurant des Nationalparkzentrums nochmals auf. Mit einem dicken Nachschlagewerk in der Hand sagte die Kräuterhexe voller Freude: „Ich habe das Rätsel gelöst: Es ist der klebrige Salbei!“