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Schöpferische Wissenschaft#

Werner Callebaut, der renommierte Leiter des Konrad Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung, ist vor kurzem plötzlich und unerwartet gestorben. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 27./28. Dezember 2014)

Von

Peter Markl


Ein Nachruf von einem Freund und Kollegen.#

Science Museum in London
Das Science Museum in London, wo Peter Markl 1993 erstmals ein Buch von Callebaut las.
© Alan Copson/ Robert Harding World Imagery / Corbis

Ich bitte, nach langem Schweigen mit einem für mich unvermeidlich unangenehm persönlichen Artikel beginnen zu dürfen. Es war ein schlimmes Jahr, das mit einem seit langem anstehenden Entschluss begann. Ich hatte Berichte über den Tod von Intellektuellen gelesen, die im Gefolge von Stürzen über Büchertürme oder Stapel von Computerausdrucken ums Leben kamen. Die Aufgabe, sich von Büchertürmen und Papierstößen frei zu kämpfen, erwies sich jedoch nicht nur als physiologisch anstrengend und wegen meiner beiden nicht wirklich stabilen Knie mit einem Sturzrisiko verbunden, sondern auch mental sehr anstrengend: schließlich musste bei jedem Buch oder Computerausdruck entschieden werden, ob weiteres Aufenthaltsrecht gerechtfertigt werden konnte, oder ob ein Fall für Entsorgung vorlag.

Vermessenerweise plante ich, diese Arbeit damit fruchtbar zu Ende bringen, dass ich Updates von den wichtigsten von mir in der "Wiener Zeitung" behandelten Themen schrieb. So entstanden immer neue Artikelsplitter, eine lange Schreibhemmung und in deren Gefolge nie schwindende Depressionen.

Ein schwerer Verlust#

Am 6. November fand ich in meiner E-Mail eine überraschende und schockierende Nachricht. Mein Freund Werner Callebaut, der wissenschaftliche Leiter des Konrad Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung (KLI), war in der Nacht im Schlaf gestorben.

Er hat mich, seit ich mit seinem Denken in Kontakt kam, bereichert und stark beeinflusst. Erstaunlicherweise weiß ich ganz genau, wann und wo das begann - nämlich 1993 im Book Shop des Londoner Science Museums in South Kensington. Da lag in seiner orangenen Signalfarbe unübersehbar Werners großes Buch "Taking the Naturalistic Turn. How Real Philosophy of Science is Done" (University of Chicago Press, 1993).

Das Bewusstsein eines großen Verlustes geht weit über das hinaus, was ich persönlich verloren habe. Die Welt der Biologie hat mit ihm einen der prägenden, wissenschaftstheoretisch informiertesten und am differenziertesten argumentierenden, synthetisch ausgerichteten Architekten einer neuen Sicht der Evolutionstheorie verloren.

Werner war ein sehr fleißiger und professionell arbeitender Intellektueller. Ich vermute, dass er die Anstrengungen seiner zahlreichen Vortragsreisen als die heute unvermeidlichen Mühen der Ebene bei der Etablierung der Forschungsergebnisse des Instituts empfunden hat.

Der Londoner Griff nach Werners Buch folgte einer langen Periode gewissenhafter Vorbereitung auf ein Semester Vorlesungen zum Thema Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, gehalten in einem Vorlesungszyklus. Mein Teil basierte überwiegend auf den damals im deutschsprachigen Raum verwendeten Quellen. Werners Buch versprach eine gezielte Ergänzung.

Das Überfliegen der Einleitungskapitel erwies sich als eine effektive, vertrauensbildende Lektüre. Das Buch hat eine bemerkenswerte und unorthodoxe Entstehungsgeschichte. An deren Beginn standen mutige Entscheidungen von Redakteuren in der flämischen Abteilung des öffentlichen belgischen Radios (Brüssel). Sie haben sich (vielleicht in Konkurrenz zu ihren französischsprachigen Kollegen) auf ein anspruchsvolles Minoritäten-Projekt eingelassen und ungewöhnlich viel Sendezeit dafür vorbehalten und später der Veröffentlichung von Transkriptionen in dem Buch zugestimmt.

Gewinnend lebendig#

Glücklicherweise hat Werner mit einer Ausnahme der Versuchung widerstanden, das Buch einer akademischen Veröffentlichung ähnlicher zu machen. Die Ausnahme sind die jeweils eine Seite umfassenden Porträts von 20 Wissenschaftern und vier Wissenschafterinnen. (Untersuchungen von Gender-Aspekten hatten damals in der Wissenschaftstheorie der Biologie noch nicht das Gewicht erlangt, das sie heute haben.)

Werners Buch ist bis heute gewinnend lebendig geblieben - jeder an der Philosophie der Biologie Interessierte, der für ergänzende Lektüre Zeit finden kann, wird sich immer mehr in die Diskussionen eingebunden fühlen. Für Kenner bietet das Buch den Reiz, den auch hochwertige, etwas in die Jahre gekommene qualitätsvolle Reiseführer haben.

Konrad Lorenz-Institut#

Selbst wer mit informierten Erwartungen ausgestattet aus der überwältigenden hellen Pracht des Gartens kommend die Haupthalle betritt, glaubt unversehens in einer Zeitblase gelandet zu sein. Hier ist ein wichtiges Kapitel der österreichischen Sozial- und Kultur- und Wissenschaftsgeschichte konserviert. Den Besucher empfängt, was ein aus kleinen Verhältnissen stammender, finanziell sehr erfolgreich gewordener, weltoffener, bürgerlicher und in konservativen Kreisen über seine Frau bestens vernetzter Orthopäde als einen für seinen Erfolg adäquaten Lebensraum bauen ließ: eine in einem großen parkähnlichen Garten hingesetzte Villa - eine Mischung aus Renaissance und Jugendstil, mit einer repräsentativen Eingangshalle: großer offener Kamin, eine symmetrisch weit ausschwingende Schautreppe, ein überlebensgroßes im Renaissancestil angefertigtes Porträt des Erbauers, allseits getäfelte, konservativen Geist signalisierende Gediegenheit. Das war das kulturelle Umfeld, das Konrad Lorenz auf seinem Weg zur Schaffung eines Kapitels der Evolutionsbiologie erlebt hat - ein Ort, wo hochsignifikante Wissenschaftsgeschichte entstand.

Werner Callebaut
Werner Callebaut.
© KLI

Für heute lebende Verhaltensforscher ist das ein bereits abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte geworden. Wahrscheinlich hatten nur wenige der jungen, bis vor kurzem dort arbeitenden Stipendiaten emotionale Bindungen an diese Periode. Sie arbeiteten ja gerade an der Weiterführung von Lorenz’ Ideen zur evolutionären Erkenntnistheorie und einer neuen erweiterten heutigen Sicht der Evolutionstheorie. Werner Callebaut war als einer der führenden synthetisch arbeitenden Forscher in das Projekt zentral involviert: Was entstand, hat heute als die erweiterte Synthese der Evolutionsbiologie und als Produkt der "Altenberger 16" bereits Weltruhm.

Diese Villa konnte dank des weitsichtigen und flexiblen Mäzenatentums der Familie Engelhorn mit Zustimmung der Lorenz-Erben sowie der Mitgestaltung von Werners gleichgesinntem, ihn mit seinen Fähigkeiten ergänzenden Freund Gerd Müller, ein zweites Mal der Ort werden, wo Wissenschaftsgeschichte gemacht wurde.

Peter Engelhorn war Mitbesitzer der Pharmafirma Böhringer Mannheim gewesen. Gerd ist der Vorsitzende des KLI, dessen Vereinsstatuten den Zweck des Vereins als die Förderung der Wissenschaft festlegten, wobei 1990 erstaunlich weit gefasst wurde, was man unter Wissenschaft verstehen könnte.

Es gab Opposition gegen die Zentrierung auf so weit gefasste Wissenschaft; vorgebracht immer wieder von einer Seilschaft, die heute unter der Bezeichnung "Verein der Freunde des Konrad Lorenz-Hauses" auftritt und für eine musealere und wesentlich politischere Ausrichtung eintritt.

Dieser Verein hat die Lorenz-Erben dazu gebracht, dem KLI zu kündigen. Wiederum hat die Familie Peter Engelhorns geholfen. Sie schuf die finanztechnischen Vorbedingungen dafür, dass es dem KLI möglich wurde, den Kremsmünstererhof, ein wunderschönes, denkmalsgeschütztes Haus im Zentrum von Klosterneuburg, zu erwerben und zweckgerecht zu adaptieren. Werner erlebte noch die Turbulenzen der Übersiedlung, aber konnte nur noch wenige Tage an der Neubelebung des KLI am neuen Institutssitz teilnehmen.

Anregende Gespräche#

Werner hat nie über Gesundheit gesprochen. Mir aber waren - als nach meinem so glimpflich verlaufenen ischämischen Schlaganfall meine Konzentrationsfähigkeit und intellektuelle Neugierde wieder erwacht waren - unsere Gespräche über Gelesenes umso wichtiger. Werners denkbar geduldig akzeptierte Funktion war dabei immer, in meine Explorationen klare Strukturen zu bringen.

Werner war sich - als Herausgeber von Zeitschriften und Monographien von Weltrang - wie kein anderer Philosoph bewusst, was in den einzelnen Fachdisziplinen vor sich ging. Er kannte die zurzeit aktuellsten Probleme, den gegenwärtigen Stand der Diskussion und dessen historisches Gewordensein. Und er hatte ein sehr differenziertes reflektiertes Urteil darüber, wie sich das in das viel umfassendere Weltbild der heutigen Naturwissenschaften fügte. Er betrieb Philosophie im Sinn von Wilfried Sellars, der es als das Ziel der Philosophie ansah, zu verstehen, wie die "Dinge" mit anderen Dingen zusammenhängen. Der Begriff "Dinge" umschloss dabei nicht nur, was der Alltagsverstand so nennt, sondern auch radikal unterschiedliche Entitäten wie Zahlen, Verpflichtungen, Möglichkeiten, ästhetische Erfahrungen.

Wer in der so verstandenen Philosophie Erfolg hat, weiß sich in den großen Zusammenhängen zurechtzufinden. Werner hatte dieses Knowhow. Seine unübertroffene Stärke lag in der Strukturierung von zum Teil ziemlich wirren Vorstellungen, wie man sie in Diskussionen zwischen Fachvertretern und Philosophen auf freier Wildbahn erleben kann.

Werner war ein Meister des Zitierens. Bei Diskussionen nur selten aggressiv antwortend, vielleicht ein Anflug von stimulierender Ironie. Ausgestattet mit einer - wie mir schien - aus seiner flämischen Heimat mitgebrachten kulturell erlernten Fähigkeit zu geselligen Kontakten, machte ihn das im sozialen Kontext von Seminaren zu einem erfolgreichen Katalysator, der durch Senkung der Aktivierungsenergie fruchtbringende Kontakte beschleunigen konnte.

Man kann vielleicht in Analogie zu Biologie sagen, dass er und alle am KLI daran Beteiligten sehr aktiv eine Art kulturwissenschaftliche Nische schufen, in der eine Philosophie der Biologie von Weltrang gedeihen konnte.

Werner war sein Berufsleben lang in Sorge um die Qualität der Arbeiten auf diesem Gebiet. Er arbeitete als Philosoph, wie John Locke es wünschte: als Beseitiger von Mist, als Zuarbeiter für die schöpferischen Wissenschafter. Auch seine letzte Arbeit beschäftigte sich damit: er kritisierte darin "scholastische Versuchungen in der Philosophie der Biologie".

Von 2013 bis 2014 war Werner Callebaut Präsident der Internationalen Gesellschaft für Geschichte, Philosophie und sozialwissenschaftlicher Aspekte der Biologie. Die Beisetzung von Werners Urne fand am 12. Dezember in Klosterneuburg statt.

Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung und des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.

Wiener Zeitung, Sa./So., 27./28. Dezember 2014


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