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Österreichs mühsamer Weg zur EU #

Am Verhandlungstisch in Brüssel hat die Bundesregierung nicht nachgegeben und ihre nationalen Interessen gegen alle Widerstände vertreten. Ein neues Buch bringt Fakten und Klarheit über unser zwiespältiges Verhältnis zur Union. #

Vorfreude auf Europa. Am 31. Dezember 1994 schwenkt ein Passant auf dem Wiener Stephansplatz begeistert die EU-Flagge und Österreichs Fahne. Ist die Begeisterung von damals heute weniger wert? Oder waren die Tage des Gipfelwiderstands eher ein Zeichen der Selbstbehauptung?


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (30. Juli 2020)

Von

Paul Mychalewicz


Die Haltung Österreichs beim kürzlich abgehaltenen EU-Gipfel wurde national und vor allem auch international durchaus kontrovers diskutiert. Dass unser Land dabei überhaupt eine nennenswerte Rolle spielte, kommt uns nicht mehr außergewöhnlich vor, höchstens die verstärkte Medienpräsenz des Bundeskanzlers fiel auf. Diese Ankunft in der Mitte Europas ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, dahinter steckt ein langer, mühsamer Weg seit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Diesen Prozess mit all seinen Facetten nachgezeichnet zu haben, ist das große Verdienst Michael Gehlers in seinem Werk „From Saint-Germain to Lisbon. Austria’s Long Road From Disintegrated to United Europe 1919 to 2009“, erschienen im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Europa in seinen verschiedenen Ausprägungen ist ja der besondere Forschungsschwerpunkt des aus Österreich stammenden, nunmehr seit 2006 in Hildesheim lehrenden Historikers. Über Jahrzehnte hat er sich auf diesem Gebiet den Ruf eines überaus kompetenten und detailkundigen Forschers erworben.

Zukunftsperspektiven eingebaut #

Das Werk baut auf seinen früheren deutschsprachigen Büchern auf und schließt Zukunftsperspektiven mit ein. Es wird wohl ein Standardwerk für die österreichische Außenpolitik werden. Dem Text von über 900 Seiten, der mit umfangreichem Bild- und Quellenmaterial ausgestattet ist, folgen hundert Dokumente sowie ein wissenschaftlicher Apparat und eine Chronologie zu außenpolitischen Ereignissen seit 1914. Ebenso hilfreich sind ausführliche Zeitzeugenpassagen, die nicht nur in der englischen Übersetzung, sondern auch im deutschsprachigen Original geboten werden. Gerade wenn es um Nuancen geht, sind zweisprachige Fassungen ein unschätzbarer Gewinn. Manche persönliche Sprachfärbung lässt sich eben nicht leicht adäquat übersetzen.

Wenn ein Land von einer Großmacht zu einem Kleinstaat schrumpft, stellt sich die Frage nach einer neuen Raison d’Etre. Sahen die einen ihr Heil in einem Anschluss an einen großen, gleichsprachigen Nachbarn namens Deutschland, träumten andere, wie Richard Coudenhove-Kalergi, einen paneuropäischen Traum. So fand 1926 wohl ein Kongress der Paneuropa-Union im Wiener Konzerthaus statt. Als aber Coudenhove 1928 Bundeskanzler Seipel, der durchaus in größeren Dimensionen dachte, eine europäische Sicherheitskonferenz vorschlug, lehnte der österreichische Regierungschef diese Idee als unzeitgemäß ab.

Doch dem Diplomatensohn aus böhmischem Adel ist eine bemerkenswerte Beharrlichkeit nicht abzusprechen. Dementsprechend unternahm er nach dem Zweiten Weltkrieg einen weiteren Versuch, den europäischen Gedanken umzusetzen. Auch wenn er nur die ersten Schritte in diese Richtung und nicht mehr die Überwindung der Teilung Europas erlebte, hinterließ er uns ein heute weithin akzeptiertes musikalisches Symbol, als auf seinen Vorschlag hin Beethovens „Ode an die Freude“ zur europäischen Hymne erkoren wurde. Vom Anschlussgedanken geheilt, sahen österreichische Politiker nach 1945 die Zukunft unseres Landes in Europa. Leopold Figl, der erste Bundeskanzler der Zweiten Republik, brachte diese Einstellung mit seiner Begabung für kurze, einprägsame Formulierungen auf den Punkt: „Österreich ist Europa, und Europa kann ohne Österreich nicht existieren.“ Ein erstes dauerhaftes Symbol der europäischen Aktivitäten auf akademischer, intellektueller, kultureller und wissenschaftlicher Ebene war die Gründung des Europäischen Forums Alpbach bereits im Sommer 1945, vor allem durch die Brüder Fritz und Otto Molden.

Mühen der Ebene #

Diesem Aufbruch folgten jedoch die Mühen der Ebene, um in jahrzehntelangen Versuchen wirtschaftlich und politisch Teil Europas zu werden. Dem stand das Veto der Sowjetunion entgegen, das jede Form der Mitgliedschaft in EWG und EG unmöglich machte. Daher musste die Teilnahme an der Freihandelsorganisation EFTA zur vielfach ungeliebten Notlösung werden. So wurde es vor allem von Vertretern der ÖVP gesehen. Die damals andere Großpartei SPÖ konnte lange Zeit mit dem Fernbleiben von der als kapitalistisch empfundenen EWG ganz gut leben. Daher stand man bei Initiativen der Volkspartei, in dieser Wirtschaftsgemeinschaft doch Mitglied zu werden, auf der Bremse. Den großen Umschwung bei den Sozialdemokraten schaffte – nach anfänglichem Zögern – erst Franz Vranitzky, der seine Partei auf Pro- EU-Kurs brachte. Dem gingen jahrelange Bemühungen von Alois Mock voraus, der als ÖVP-Parteiobmann und Außenminister auf den „Brief nach Brüssel“ unermüdlich hinarbeitete.

Welche Rolle spielt der inzwischen verstorbene glühende Europäer für seine Partei heute noch? Ist er ein Säulenheiliger, dem man nur an Feiertagen, wie zuletzt am 75. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik, pflichtschuldig Tribut zollt, im Übrigen sich aber nicht mehr von seinem pro-europäischen Impetus leiten lässt? In Österreichs mühsamer Weg zur EU Am Verhandlungstisch in Brüssel hat die Bundesregierung nicht nachgegeben und ihre nationalen Interessen gegen alle Widerstände vertreten. Ein neues Buch bringt Fakten und Klarheit über unser zwiespältiges Verhältnis zur Union.

Vorfreude auf Europa #

Am 31. Dezember 1994 schwenkt ein Passant auf dem Wiener Stephansplatz begeistert die EU-Flagge und Österreichs Fahne. Ist die Begeisterung von damals heute weniger wert? Oder waren die Tage des Gipfelwiderstands eher ein Zeichen der Selbstbehauptung? der öffentlichen Wahrnehmung sind die Zuschreibungen klar verteilt. Othmar Karas, jetzt wieder Vizepräsident des Europäischen Parlaments, gilt als unermüdlicher Kämpfer in Sachen EU. Von Erhard Busek erwartet man als kritischem Geist ohnehin, dass er die europäische Verantwortung seiner Partei einmahnt. Johannes Hahn hingegen, als Kommissar derzeit ausgerechnet für das Budget zuständig, deklariert sich unverdrossen als Anhänger des halbvollen Glases, das heißt, er wählt den pragmatischen Zugang der kleinen Schritte. Die öffentliche Kritik richtet sich somit an den Parteiobmann und Bundeskanzler Sebastian Kurz. Er gilt als wesentlicher Akteur der „sparsamen“ oder „geizigen Vier“, die den Bedürftigen nicht die nötigen EU-Zuschüsse gönnen. Es fällt auf, dass zwei der anderen Regierungschefs, jene Schwedens und Dänemarks, Sozialdemokraten sind – dies gilt auch für die Mitstreiterin aus Finnland –, lediglich Mark Rutte kann man als Liberalen bürgerlich nennen.

From Saint Germain to Lisbon Austria’s Long Road from Disintegrated to United Europe 1919-2009.
From Saint Germain to Lisbon Austria’s Long Road from Disintegrated to United Europe 1919-2009.

Diese Konstellation macht es der SPÖ nicht leicht, eine Gegenposition zu vertreten. Als aufrechte Europäer können natürlich die Grünen auftreten. Bei der Volksabstimmung noch erbitterte EU-Gegner, haben sie längst eine Bekehrung hinter sich gebracht. In der Regierung ressortmäßig nicht zuständig, können sie sich auch leichter Gesinnungsethik leisten. Die Last der Verantwortungsethik bleibt dem Kanzler. Einer seiner Vorgänger, Wolfgang Schüssel, hat in einem Interview auf die Mechanismen bei Verhandlungen hingewiesen. Es ist nötig, anfangs mehr zu verlangen, weil man beim letztlich unvermeidlichen Kompromiss nachgeben müsse. Das mag alles nicht glamourös klingen. Aber – um nochmals Max Weber zu bemühen – es geht auch in europäischen Angelegenheiten um „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“.

Mit dieser Einstellung werden hoffentlich – und das ist ein besonderes österreichisches Anliegen – auch allmählich die Beitritte der Staaten des sogenannten Westbalkans gelingen.

Der Autor ist AHS-Lehrer für Englisch und Geschichte sowie Lehrbeauftragter der Pädagogischen Hochschule Wien.

Buchtipp#

  • From Saint Germain to Lisbon Austria’s Long Road from Disintegrated to United Europe 1919-2009. Von Michael Gehler VÖAW 2020 1288 S., geb., € 175,–

Die Furche, 30. Juli 2020

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