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Freiheit, Gleichheit — und was weiter? (Essay 1960)#

Von Dr. Peter Diem, damals University of Southern Illinois

Gegenstand dieses Artikels ist eine Neuerscheinung aus dem Institut für politische Psychologie in Wien, dessen Spiritus rector, Dr. Wilfried Daim, den Lesern der „österreichischen academia" als Verfasser mehrerer hochaktueller tiefenpsychologischer Bücher wohlbekannt is; (vgl. Jg. 11, Nr. 8): Wir sind es gewohnt, die Themen Gesellschaft und Politik einer Sphäre rationaler Gesetzlichkeit zuzuweisen oder wenigstens eine weitgehend rationale Beherrschbarkeit anzunehmen. Eine in Bezug auf das Individuum gehegte derartige Auffassung hat durch die epochemachenden Erkenntnisse Sigmund Freuds so manche Änderung erfahren. Die Psychoanalyse hat die Wirksamkeit des Unbewussten im Menschen auf- gezeigt und in den Dienst der Psychotherapie gestellt. Einen weiteren Schritt bildet die Beschäftigung mit dem kollektiven Unbewussten, ein Gebiet, auf dem C. G. Jung Beachtliches geleistet hat. Das Hauptarbeitsgebiet Wilfried Daims liegt auf dieser Linie: die Untersuchung von Motivationsprozessen in der Gesellschaft, die im soziologischen Unbewussten (dem „Untergrund" — ein Ausdruck von Cbr. Friedrich Heer) ihren Ausgang nehmen. In der nach jahrelanger Forschungsarbeit nunmehr fertiggestellten „Kastenlosen Gesellschaft" finden die Methoden der kollektiven Tiefenpsychologie Anwendung auf ein Problem, das sich in der Entwicklung menschlicher Gemeinwesen aus ihren ersten Anfängen bis in die heutige hochkomplizierte Gesellschaft verfolgen lässt: Das Auftreten und die Wirksamkeit teils offenkundiger, vorwiegend aber unbewusster Trennungslinien zwische einzelnen Gruppen der Gesellschaft, den Kasten. Wir werden uns weiter unten mit den Begriffen Kaste und Kastenschranke im Detail beschäftigen.

Einleitend sei nur noch folgendes bemerkt: die Gewohnheit Daims, nicht nur Probleme aufzuzeigen, sie durchzudenken und eine sozialpsychologische Diagnose zu stellen, sondern immer auch konkrete Lösungsvorschläge zu machen, hat in der „Kastenlosen Gesellschaft" ihre besondere Ausprägung gefunden. So gipfelt die auf dem System des psychologischen Interviews aufgebaute, darüber hinaus jedoch in eine abstrakte Gesellschaftsanalyse einmündende Untersuchung in einem praktisch programmatischen Entwurf einer anzustrebenden, kastenlosen Gesellschaftsordnung. Neben der Untermauerung dieser Gesellschaftsordnung mit selbst für den Laien frappierend einleuchtendem tiefenpsychologischen Material ist es vor allem der indirekte und direkte Hinweis auf die gewaltige Schuld der Christen von gestern und heute an der Mangelhaftigkeit unseres gesamten sozialen Systems, der gerade uns katholische Akademiker aufhorchen lässt. So kann der Aufruf zu einer besseren Befolgung des Wortes Christi „Ihr alle aber seid Brüder" als Leitgedanke des Buches gelten.

Begriffsbestimmungen#

Im Rahmen dieser Besprechung soll zunächst versucht werden, die Kernideen des Verfassers über das Wesen der Kaste und ihre Äußerungsformen darzulegen. Der traditionelle Kastenbegriff (1) bezeichnet eine eng abgeschlossene Gruppe in der Gesellschaft, deren gemeinsame Lebensform, Kulteigenheiten, Heiratsgewohnheiten usw. diese Gruppe sichtbar von anderen gesellschaftlichen Gruppen abheben. Von dieser, als Institution erfassbaren Kaste unterscheidet Daim die in unserer gegenwärtigen Gesellschaft vorhandene, jedoch weit weniger zutage tretende Erscheinung der Kaste, als deren Kennzeichen eine „inoffizielle" Abkapselung einer Bevölkerungsschicht zu setzen ist.

„Mitglieder einer Kaste essen nur miteinander, heiraten nur untereinander, erziehen ihre Kinder gemeinsam, und geben sich im Extremfall auch nur unter- einander die Hand. Sie bleiben unter sich" (S. 16).

Die Feststellung dieser Distanzierungen stößt deshalb auf Schwierigkeiten, weil der unsere abendländische Wertordnung bestimmende, bei jedem Individuum nachweisbare christliche Kern an Verpflichtung dem Nächsten gegenüber sowie die grundsätzlich bejahte Gleichheit aller Menschen ein freies Zugeben, noch mehr natürlich ein Propagieren, der eigenen Abkapselung verhindert. Anders gesagt: Hinter dem Kastengeist steht das schlechte Gewissen. Für die tiefenpsychologische Feststellungsmethode ist dieser Umstand aber keineswegs ein unüberbrückbares Hindernis. Im Gegenteil sind es gerade die Konfliktstellen in den Aussagen der von Daims Mitarbeiterstab interviewten Versuchspersonen, die Schlüsse auf vorhandene Kastencharakteristika zulassen.

Charakteristika der Kaste im Sinne Daims#

Hauptmerkmale der Kaste (im folgenden ist mit diesem Begriff immer das nichtinstitutionelle, „inoffizielle" Phänomen der Kaste gemeint) sind Abkapselung, angenommene eigene Reinheit und Endogamie.

Die Ekelschranke bildet eine der tiefgreifendsten Trennungslinien zwischen den Kasten. Sie scheidet die „Reinen" von den „Unreinen", „Schmutzigen". Manuelle Arbeit wird fast automatisch mit Schmutzarbeit identifiziert. Ausdrücke, wie „white collar worker" (im amerikanischen Sprachgebrauch zur Bezeichnung der Angestellten im Gegensatz zu den Arbeitern, den „blue collar workers", verwendet), „dreckiger Prolet" und „Rassenreinheit" lassen die Bedeutung des Schmutzes als latentes Unterscheidungsmerkmal soziologischer Gruppen deutlich erkennen.

Ein weiteres typisches Merkmal der Kaste ist die „Versammlung" um einen Zentralwert, der sakralisiert und dadurch zu einem absoluten Unterscheidungsmerkmal gegenüber den anderen Bevölkerungsgruppen wird. Die anderen, kastentranszendenten Menschen sinken dadurch zu „uneigentlichen" Menschen herab.

Ein weiteres kastenbildendes Element ist die Sakraldistanz. So zeigen Priesterschichten oft die Tendenz, sich von den Laien (ein Wort, dessen durch die Enzyklika „Corporis Christi mystici" neu interpretierte Bedeutung hierbei nicht genug erkannt wird) zu distanzieren, indem sie ihre Sakralfunktion verabsolutieren. Diese Erscheinung beschränkt sich nicht nur auf die katholische Kirche, deren hierarchische Struktur hierzu allerdings gesteigerte Möglichkeiten bietet, ohne sie indes zu rechtfertigen.

Die Herrendistanz ergibt sich aus einem Vorgesetztenverhältnis, das — kastenhaft verzerrt — zu einem Herr-Sklave-Verhältnis wird. Von einem primären Herrentum unterscheidet der Verfasser ein Sekundär- Herrentum: „Neue, aufstrebende Schichten sehen es als besonders herrentümlich an, wenn sie sich ein Reitpferd halten können und Pferderennen besuchen" (S. 65). Hier liegt eine Nachahmung von Feudalgewohnheiten vor.

Ähnliche kastenbildende Kraft kommt den sozialen Faktoren Vermögen und Bildung zu. Beides läßt sich leicht belegen; der Autor zitiert hierzu Stellen aus den „Lausbuben- geschichten" von Ludwig Thoma und geht kurz auf die in Österreich existierenden, oft übertriebenen Abgrenzungen zwischen Nichtmaturanten, Maturanten und Akademikern ein.

Die Herkunftsdistanz, institutionalisiert im Adel, bildet eine besonders wirkungsvolle Möglichkeit zur Kastenbildung. Ist doch gerade hier die Zugehörigkeit kraft Geburt — eines der wesentlichsten kastenformenden Elemente — Zentralmerkmal: „Schon das Kind in der Wiege hat die entscheidenden Werte, ohne noch irgendeine Leistung vollbracht zu haben. Das Kind ist einfach schon wertvoller, weil es das Kind von . .. ist" (S. 97).

Unter den mehr als 200 Versuchspersonen befanden sich auch fünf Aristokraten, deren Auffassung zumindest für den heutigen österreichischen Adel repräsentativ sein dürfte: Herkunft allein rechtfertigt nicht soziale Abschließung. Wie weit dies etwa in Großbritannien eingestanden würde, wäre zu untersuchen.

Dynamische Prozesse#

Unter Kastendynamik ist die Veränderung des Kastenbildes einer gegebenen Sozietät zu verstehen. Im allgemeinen besteht eine starke Tendenz zur Fixierung einer erreichten Kastenstruktur. Als Mittel zur Bewahrung der Kaste dient die Isolation, eine Art gewohnheitsmäßigen Verkehrsverbotes mit Außerkastigen. Dies kann ein für die Kastenmitglieder unerträgliches Ausmaß annehmen, wie ein Ausspruch Josefs II. zeigt: „Wenn ich nur mit meinesgleichen verkehren wollte, dürfte ich mich nur in der Kapuzinergruft aufhalten" (S. 131). Anderseits glaubt der Verfasser nicht, dass Isolation in jedem Fall funktionslos ist: „Auch die Notwendigkeit, einmal das Wollen einer Gruppe zu klären und auf die Ausweitung vorzubereiten, benötigt Isolation. Wenn etwa die Großgesellschaft einen falschen Weg einschlägt, kann es für jene, die normale Tendenzen vertreten, sinnvoll sein, in die „innere Emigration" zu gehen, sich zu isolieren und in Reserve zu halten, für die Zeit des Zusammembruchs der falschen Ideale der Großgesellschaft" (S. 131 f. Anm. 2).

Tardieren von Kastenmerkmalen#

In einem Abschnitt über die Tradierung von Kastenstrukturen behandelt der Verfasser das pädagogische Verhalten der Eltern und das Verhältnis von Schule und Kaste. Ähnlich der Adelsfrage wäre hier ein Hinweis auf das englische System, auf die extrem kastenbewussten Privatschulen (paradoxerweise „Public schools" genannt) an- gebracht. Eton College, das seine ohnehin bereits von der übrigen Gesellschaft unterschiedenen Schüler noch in 70 „King's Scholars" und die übrigen Schüler, die „Oppidans" scheidet, wäre hierfür ein Beispiel.

Weitere Fälle von Kastendynamik sind Eindringen und Ausbrechen einzelner in die beziehungsweise aus der Kaste. Musterbeispiel für letzteres Verhalten ist Erzherzog Johann, dessen Heirat mit der Postmeisterstochter Daim als Haupt- grund für seine „fast ans Mythologisch-Legendäre grenzende Popularität" ansieht.

Nach einer ausführlichen Behandlung der Auf- und Abstiegsmöglichkeiten im Kastenbereich folgt eine Darlegung des Begriffspaares Aggression und Identifikation. Zunächst ergibt die Untersuchung, dass aggressive Affektballungen sich am stärksten gegen die unmittelbar angrenzenden Schichten richten. (Beispiel: Arbeiter gegen wenig gebildete Angestellte.)

So sagt ein interviewter Malermeister von den Beamten: „Sie sitzen alle dorten und glauben, sie sind der Kaiser. Wenn man ins Amt kommt, bleiben s' ruhig sitzen, plaudern miteinander, lassen an ruhig stehen, wie wenn man niemand wär." (S. 171.)

Dies zeigt, dass die Versuchsperson der ihr am nächsten und erreichbarsten Schicht die Oberkastigkeit am wenigsten gönnt.

Identifikation mit anderen, als den Mitgliedern der eigenen Kaste ist einer der stärksten und interessantesten gesellschaftsformenden Faktoren: „Häufig fühlt sich der Hausmeister als Hausherr, der Lakai als Aristokrat und viele Monarchisten als Miniaturmonarchen." (S. 172.)

Identifikation nach unten tritt bei vielen Revolutionären auf — Daim weist in seiner ausgezeichneten Analyse des Judentums auf Moses als Mitglied der ägyptischen Pharaonenfamilie hin, der sich mit den ungefähr die soziale Stellung von Zigeunern einnehmenden Juden identifiziert, sie befreit und in das Gelobte Land führt. Auf derselben Linie liegt die Identifikation des aus einer jüdischen Rechtsanwaltsfamilie stammenden Karl Marx mit dem Proletariat, dem er eine diesseitsreligiöse Führungsaufgabe geben will. Mao Tse-tung wieder identifizierte sich schon in seiner Jugend mit den „dreckigen Bauern" Chinas.

Kastenkampf#

Aus dem bisher Wiedergegebenen ergibt sich die logische Folgerung, dass das Verhältnis der Kasten zueinander den Charakter eines Kampfes haben muß. Daim bezeichnet dieses Verhältnis darum auch als Kastenkampf und nennt als eines der wichtigsten, wenn auch latenten, Kampfobjekte die Frau. Dies mag beim ersten Anblick aus der Luft gegriffen erscheinen, lässt sich jedoch tiefenpsychologisch nachweisen. Der Verfasser argumentiert auf der Basis der dualistischen Trieblehre der orthodoxen Tiefenpsychologie, deren Elemente Libido und Todestrieb in etwas modifizierter Form ihre Rolle in einem theistisoh-christlichen Weltbild erhalten.

In dem folgenden Kapitel werden die tiefenpsychologischen Leitsätze in ihrer Anwendung auf soziologische Verhaltensweisen gezeigt und Strukturmodelle für Motivationsprozesse dargestellt.

„ ... die Verachtung für den Schmutz und das schmutzige Kind wird auf den Schmutzarbeiter übertragen. Zugleich gelangt der Verachtende in die elterliche Position. So wird die Verachtung des Schmutzarbeiters verständlich, jedoch weder vor der Vernunft noch vor der Menschlichkeit gerechtfertigt. Auch dieser selbst fühlt sich der übrigen Gesellschaft gegenüber wie ein schmutziges Kind und hat entsprechende Minderwertigkeitskomplexe, die er nun auf spezifische Weise zu verarbeiten trachtet." (S. 227)

Was hier in Bezug auf die uns schon bekannte Ekelschranke gesagt wird, gilt mutatis mutandis für andere trennende Kriterien wie Bildung, Vermögen, Kraft.

Der angewandte Ödipus-Komplex#

Die zentrale Bedeutung, die dem Kampf um die Mutter in der Entwicklung des Individuums von der Tiefenpsychologie zugemessen wird, überträgt Daim auf die Sozietät, wobei das Ödipaldreieck Vater - Mutter - Sohn in die Konstellation Oberkastiger - Frau - Unterkastiger übergeht. Wie einst Ödipus seinen Vater Laios tötete, ohne um dessen Identität zu wissen, und seine Mutter zur Frau erhielt, nachdem er gerade dieses Grundes wegen ausgesetzt worden war, stehen sich hier einander über- beziehungsweise untergeordnete Gruppen in gegenseitiger Aggression (latenter Kastrationswunsch!) gegenüber.

Für den Oberkastigen bedeutet das Heraufkommen bislang untergeordneter Schichten eine Bedrohung seiner Position. Dies bedeutet aber nichts anderes als eine missverstandene Vater- oder Autoritätsrolle, die die natürliche Erziehungsaufgabe des Übergeordneten nicht wahrhaben will. Aus dem Blickwinkel des Unterkastigen gesehen, ergibt die geschilderte Situation den Drang zu Aggression und Revolution. Von der ödipalphase die Kindheitsstadien zurückverfolgend, gelangen wir über die anale und orale Phase zur Uterinität. In ihrer in die Sozietät investierten Bedeutung spielen sie der Reihe nach für die Rein-Schmutzig-Dialektik, die Kastenfremdheit der Tischgemeinschaft und das Fehlen von Kastengrenzen im allgemeinen eine Rolle.

Der allgemeine Teil des Buches schließt mit einer tiefenpsychologischen Definition der Kaste als sozialneurotisches Kompromißprodukt aus Eigenliebe und Sozialgefühl, somit ein Produkt des Gruppennarzißmus.

Ausprägungen des Kastensyndroms#

Es ist selbstverständlich, dass sich eine ungeheure Vielfalt von soziologischen Erscheinungen zur Behandlung aufdrängen. Das Buch versucht, die Wechselbeziehungen der wichtigsten davon zur Kaste darzustellen. So lesen wir von Kaste und Beruf, Kaste und Stand (Adel, Klerus, Bauerntum, Bürgertum, Proletariat), Kaste und Klasse. Fragen wie „Warum ist der westeuropäische Bauer konservativ?" finden hier eine Beantwortung in völlig neuer Sicht. In bezug auf die Relation Kaste-Klasse zeigt sich, dass den Kern des sogenannten Klassenkampfes nicht ökonomische Fragen bilden, sondern dass ein Kastenkampf der Parias gegen die Oberkastigen vorliegt, wobei die letzteren im Zuge eines Racheaktes ausgebootet werden sollen.

Judentum und Christentum#

Die zentrale Bedeutung der Befreiungstat Moses für das Judentum wurde schon angedeutet. Der sich nach unten mit den Frondienste verrichtenden Juden identifizierende Pharaonenzögling Moses erhält den Revolutionsauftrag aus einem brennenden Dornbusch — nach Daim „an sich ein Symbol lodernden Widerstandes". Das Abgehen der Juden vom theokratisch-prophetischen Ideal, ihr Übergang zum Feudalismus und ihre eindeutig kastenhafte Abschirmung nach außen gegenüber den „Gojim" (Reinheitsgesetze, koscheres Essen) werden ausführlich dargestellt.

Kaste und Ideologie#

Der Wichtigkeit des Themas entsprechend hat der Verfasser die Untersuchung des Verhaltens Christi in bezug auf unterkastige Bevölkerungsschichten besonders sorgfältig durchgeführt. An Hand mehrerer Beispiele (besonders Joh. 4,7 ff. — Der Herr im Gespräch mit der Samariterin) wird die ausgeprägte Kastenfremdheit Christi demonstriert.

Die Betrachtung des letzten Abendmahles — sowohl als mysterium fidei als auch in rein tiefenpsychologischer Hinsicht „letzte Übergipfelung der Gemeinschaftsbildung" — sowie die Symbolik der Fußwaschung geben dem gesamten Komplex der Kastenlehre Daims eine tiefe Berechtigung vom Religiösen her.

In einer Betrachtung der Geschichte des Christentums betont der Verfasser die Einwirkung von Feudalkräften auf die ursprünglich kastenfeindliche christliche Religion. Die Feudalisierung der Bischöfe durch Kaiser Konstantin — hier wären Belegstellen dienlich — und der starke Einfluß des germanischen Feudalismus (Heliand!), somit der bis ins 19. Jahrhundert hineinreichende, ja selbst im Pontiflkat Pius' XII. deutlich spürbare Zusammenhang Episkopat-Adel waren sicher entscheidende Faktoren in der verspäteten Mobilisierung sozial-reformatorischer Kräfte in der Kirche. Direkt durch die Bettelorden, indirekt durch die Französische Revolution und ihre grundlegend christlichen Ideale wurde der Entfeudalisierungsprozeß in der Kirche vorbereitet.

Kaste und Politik#

Wir wollen versuchen, die Gedankengange des Verfassers in bezug auf einige politische Systeme kurz nachzuvollziehen. Dem Kapitel „Kaste und Rassismus" steht ein Ausspruch von Lanz (von Liebenfels) voran: „ ... sie sollen den Rassenkampf haben, Rassenkampf bis aufs Kastrationsmesser.(3)" Wir erahnen bereits das Ödipaldreieck' nordischer Edelmensch - blau-blonde Zuchtmutter - Minderrassiger.

Es liegt hier in Verbindung mit sekundärfeudalen Verhaltensweisen (vergleiche das angenommene Adelsprädikat Lanz'!) motivierend zugrunde. Der Antisemitismus hat nach Daim drei Aspekte: einen religiösen, einen nationalistischen und einen rassistischen. Hauptsächlich verantwortlich für jüdisch-nichtjüdische Konfliktsituationen ist die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Judentum und Christentum. Daneben ist der Jude den Nationalisten „volksfremdes Element", ebenso wird seine „rassische Minderwertigkeit" postuliert. Auch der Nationalsozialismus besitzt — es wäre Zeit zu sagen, besaß — drei Komponenten: eine sekundärfeudale (Vorliebe für — funktionslose — Stiefel, Militarisierung der gesamten Gesellschaft), eine sekundär-jüdische (sein rassistischer Haß beruht auf einer uneingestandenen Bewunderung) und eine sekundärgermanische (besonders radikale Identifizierung österreichisch- slawischer und jüdischer Stämmlinge mit reinem Germanentum).

Für den Marxismus (Identifikation nach unten!) ist die Aggression gegen die Oberkastigen wichtiger (Kommunismus) als die Besserstellung der Unterkastigen (demokratischer Sozialismus). Interessant und fast erheiternd in der zutage geförderten Infantilität sind die Beispiele des Verfassers für die sekundär- kapitalistischen Ambitionen der sowjetischen Kommunisten, es in Stilfragen (chromgeputzte Straßenkreuzer, Wolkenkratzer in unverbautem Gelände) den Amerikanern gleichzutun. Dazu kommt noch ihre Unfähigkeit, die Vermögensschranke, wie dies die totale Verstaatlichung bezweckt, in der Praxis niederzureißen. Wie Milovan Djilas dargelegt hat, sind vielmehr die Verfügungsrechte bloß vom privaten Eigentümer auf den staatlichen Verwalter übergegangen, was in einer „Neuen Klasse" von Besitzenden resultiert, die Daim als „bewusste Nichtbesitzer und unbewusste Besitzer" bezeichnet.

Der demokratische Sozialismus#

Von besonderer Bedeutung ist die Auseinandersetzung des Buches mit dem Sozialismus, dessen „in den letzten Jahrzehnten vollzogene Adaptationsleistung nur in verkrampft konservativer Haltung Fixierte leugnen können". Es besteht nach Daim Grund zu der Annahme, dass die Reste des „Trotzkampfes" gegen die Oberkastigen mehr und mehr abgeworfen und der Weg zu Kastenfremdheit und Zusammenarbeit, wenn auch widerstrebend, eingeschlagen wird. Die oft zahlreichen Einschaltungen in der Presse, die vom Ableben eines prominenten Sozialisten in Vorstand oder Aufsichtsrat staatlicher oder halbstaatlicher Gesellschaften berichten, zeigen sie nicht deutlich die Problematik des von den Wellen der eigenen Bewegung auf die sekundärkapitalistische Sandbank geschwemmten „Arbeiterführers"?

Ein weiteres Moment in der psychologischen Strukturverschiebung des Sozialismus ist der steigende Prozentsatz von „white collar workers" in der Gesellschaft, der zu Wortgrotesken wie „arbeitende Men- schen" und „Werktätige" geführt hat, die den unbewussten Ekelgehalt des Begriffs „Arbeiter" aus der Welt schaffen sollen.

Kaste und weltpolitische Lage#

Das Kapitel „Kaste und Staatsform" leidet ein wenig unter terminologischer und inhaltlicher Ungenauigkeit, was wir aber dem Verfasser, der ja Psychologe und nicht Staatsrechtler ist, nicht weiter ankreiden wollen. So bezeichnet der Begriff „Republik" jede nicht- monarchische Staatsform und ist keineswegs von der Wahl der Staatsorgane durch das Volk abhängig. Umgekehrt ist die Demokratie eine Regierungsform, die sich allen Staatsformen anpassen lässt und daher begrifflich auf einer anderen Ebene liegt. Der Einfluss des demokratischen Gedankens auf die Bereitschaft zur Kastenbildung kommt in der Behandlung eindeutig zu kurz.

Wenn wir mit dem Auge des Autors die Völkergemeinschaft unserer Zeit betrachten, bemerken wir eine große psychologische Differenzierung: den alten, ihres Kolonialbesitzes weitgehend ledigen „Vaternationen" Westeuropas stehen blutjunge Nationen in deutlicher Infantilsituation gegenüber. Daneben erleben alte Kulturvölker, wie die ostasiatischen, einen zweiten Frühling ihres Daseins. Vom großen Selfmademan USA („Uncle Sam") unterscheidet sich der Parvenü UdSSR durch seine unterkastige Herkunft und sein geringeres Alter. Kommentar des Verfassers: „Es liegt an Europa, seinen autoritären Führungsanspruch gegen eine kastenfremde Beraterrolle zu vertauschen."

Eine Analyse der Sowjetunion ergibt zwei psychologische Komponenten, die mit zahlreichen Beispielen belegt werden: eine sekundärkapitalistische und eine sekundärzaristische. Während für die erstere eine geheime Bewunderung der „bösen Kapitalisten" motivierend ist, hat die letztere ihren Ursprung in einer Identifizierung der kommunistischen Führungsschicht mit der vorrevolutionären Feudalschicht (so sind die Zwangsarbeitslager der Fünfjahrpläne und die Modebäder der Krim typische Erscheinungen einer sekundären Feudalstruktur). Erst der Entstalinisierungsprozeß brachte Ansätze kastenreduzierender Verhaltenswesen, für die der umgängliche Nikita Chruschtschow nach Daim charakteristisch ist.

Einleitend zu diesem Kapitel wollen wir eine kleine Betrachtung über Wert oder Unwert der „Spekulationen", als die viele Leser die Thesen Daims bezeichnen werden, anstellen. Wie bereits betont, handelt es sich bei den zutagegeförderten Phänomenen um vom gesellschaftlichem Bewusstsein nicht oder nicht genügend erfasste Tendenzen, die bewusste Motivationsvorgänge unterlagern und beeinflussen. Die praktische Bedeutung dieser Erkenntnis liegt darin, dass eine Bewusstmachung solcher Tendenzen die Möglichkeit zur rationalen Beeinflussung dieser Motivationsvorgänge eröffnen kann und daher von großem politischem Wert ist.

Das Space-race#

So sind nach Daim in dem hektischen Bemühen der beiden Weltmächte, einander in der Raketen technik zu übertrumpfen, zweifellos rationale Elemente vorhanden: das allgemeine Streben des Menschen, in Neuland jeder Art vorzustoßen, die Erschließung neuer Rohstoffquellen, die Propagandawirkung eines Weltraumerfolges usw.

Die Rationalität dieser möglichen Erfolge reicht jedoch als Motiv für den ungeheuren Aufwand nicht aus. Die entscheidende, wenn auch unbewusste Motivationskraft liegt auch hier in einem Kampf um die Frau, als deren deutlichstes Symbol der Mond (la luna) auftritt.

Aus der Fülle des vom Verfasser zitierten Illustrationsmaterials sei nur folgendes herausgegriffen: die amerikanischen Raketen mit ihren supermännlichen Namen (Jupiter, Atlas, Thor) übertreffen die sowjetischen zwar in ihren raffinierten Steuermechanismen (Symbol für oberkastiges Sexualverhalten), sind letzteren aber in bezug auf ihre Schubkraft (Symbol für unterkastige Potenz) weit unterlegen. Eine so- wjetische Karikatur — bekanntlich misst die Tiefenpsychologie dem Witz eine große Bedeutung für die Erforschung des Unbewussten zu (4) — zeigt den Mond als Mädchen, das das Eintreffen einer sowjetischen Rakete erwartet.

Es ist im Rahmen dieser Besprechung nicht möglich, das Kapitel über die rotchinesische Revolutionsdynamik zu behandeln, es sei aber, wie das ganze Werk, zur Lektüre besonders empfohlen.

Der Entfeudalisierungsprozess in der Kirche#

Mit Johannes XXIII. (Pontifikat 1958-1963) hat in der Kirche eine Tendenz zur Abkehr von feudalem Gedankengut eingesetzt. Die Wiedereinführung der Fußwaschung, das Weintrinken des Heiligen Vaters mit Arbeitern und seine Gefängnisbesuche, die Bestrebungen, zu einer Verständigung mit den anderen christlichen Bekenntnissen zu kommen, die Ernennung von farbigen Kardinälen, das ökumenische Konzil — alles das sind eindeutige Bestrebungen in Richtung echt christlicher Kastenfremdheit. Daim hebt drei Punkte hervor — ich bitte die Begründungen nachzulesen —, in denen die Kirche ihre von Christus vorgelebte Kastenfremdheit besonders betonen könnte:

--> ein umfassendes Schuldbekenntnis von Seiten Roms für historische methodische Fehler (Protestantenverfolgungen, wohl auch Inquisition — vom Verfasser nicht angeführt),

--> Besuch der Exponenten der anderen christlichen Bekenntnisse durch den Papst (auch zum Beispiel des Patriarchen von Moskau) und

--> stärkere Berücksichtigung der Verfolger der Kirche im Gebet. Dies wären Beispiele praktizierten, „in seiner zentralen Sub- stanz verstandenen" Christentums auf weltweiter Basis.

Bevor wir uns abschließend dem positiven Entwurf zuwenden, sei die für dieses Stadium aufgesparte Besprechung der positiven Erwägungen des allgemeinen Teils, nämlich des Kapitels „Jenseits der Kaste" kurz dargestellt.

Jenseits der Kaste#

Schlaf, Rausch und Tod sind Zustände, in denen das Unbewusste über das Bewusste dominiert. Hier existieren keine Kastenschranken — das Gefühl des Versinkens in der Welt vor dem Einschlafen, die Umgänglichkeit Betrunkener und die Verbrüderungswirkung unmittelbarer Lebensgefahr beweisen dies hinlänglich.

Das gemeinsame Mahl gilt seit Urbeginn der Menschheit als verbindender Faktor, nicht minder das gemeinsame Werk. Interesse für die Probleme des anderen (Akzeptation) und ein kastentranszendentes Autoritätsbild (Bejahung und Unterstützung des Aufstiegswillens der Untergebenen) sind weitere wichtige Punkte. Schließlich beinhaltet das Wissen um den gemeinsamen Gott, also die Anerkennung der Gotteskindschaft aller Menschen, die logische Forderung nach brüderlicher Einigkeit.

Utopie einer brüderlichen Gesellschaft#

Die weitgespannte Untersuchung hat in ihrem sozialdiagnostischen Teil ein Abweichen der Gesellschaft von einem aus intramundanen und metaphysischen Gründen erstrebenswerten Idealbild gezeigt. Aufgabe des letzten Teils des Buches ist es, den Weg zu einer „asymptotischen Annäherung" an ein Gesellschaftsideal zu zeigen, „das der tieferen Wirklichkeit der menschlichen Natur und der menschlichen Gesellschaft entspricht." (S. 458)

Kritisch muss zur Darstellung gesagt werden, dass Systematik und gedanklicher Umfang ein wenig mehr Aufmerksamkeit vertragen hätten. Das mag aber einerseits an der sprudelnden Produktionsweise des Autors, anderseits an dem Entwurfcharakter der Arbeit liegen.

Das vom Verfasser genannte Fernziel (5) ist eine Menschheitsintegration auf echt christlich-brüderlicher Basis. Richtig verstandene Autorität muß zu einer Emporhebung aller Unterlegenen verwendet werden, eine Hebung des Bildungsniveaus der gesamten Menschheit damit Hand in Hand gehen (6). Die Entwicklung der Technik, insbesondere des Nachrichten- und Verkehrswesens haben die Globalisierung der Gesellschaft praktisch durchführbar gemacht und eingeleitet. Die Wirkungen von Mechanisierung und Automation beseitigen weitgehend die Notwendigkeit von (mit Beschmutzung verbundener) Handarbeit. Man kann bereits von einer beginnenden „Verwissenschaftlichung unseres Daseins" sprechen. Der Wert der Herkunft wird im Vergleich zu dem der Erziehung immer geringer. Damit hören sich aber auch die Rassengegensätze auf.

Weder Planwirtschaft noch schrankenloser Markt#

Auf wirtschaftlicher Ebene ist das Konkurrenzprinzip durch das Prinzip der Zusammenarbeit zu ersetzen. „Ein integrales Konzept von Plan- und Initiativwirtschaft, das Zusammenarbeit und schöpferischen Einsatz zugleich fördert, scheint der kastenlosen Gesellschaft am meisten dienlich zu sein." (S. 479) Funktionelle Autorität und Verschönerung der Arbeitsbedingungen — beides scheint in den USA schon zu einem hohen Grad verwirklicht (7) — werden zu einem Abbau sozialer Trennungslinien viel beitragen und das Arbeitsethos durch Freude an der Arbeit heben. Breite Streuung des Eigentums, etwa durch Kleinaktien und Eigenheime, ist ein weiterer wichtiger Punkt.

Die kastenlose Gesellschaft ist unter gebührender Berücksichtigung der verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen in den verschiedenen Ländern auf globaler Basis anzustreben. Ihre Erfolgschancen werden trotz aller Schwierigkeiten dann am besten sein, wenn der Hauptakzent politischer Planung von der wirtschaftlichen auf die geistig-ethische Seite verlegt wird. Dies bringt uns wieder zum Problem Erziehung und Bildung zurück.

Ein Abwerfen des europäischen Provinzialismus, die Vermittlung der Kenntnis anderer Kulturen bereits auf niederem Schulniveau (insbesondere auch im Umweg über Musik und darstellende Kunst, auf deren informative und völkerverbindende Wirkung zugunsten derjenigen von Schlachten und anderer historischer „Leistungen" immer wieder vergessen wird) und weiter Nutzung der wachsenden Freizeit zu geistiger Entfaltung — dies sind wesentliche Ansatzpunkte für eine Intellektualisierung der Gesellschaft.#

In rein politischer Hinsicht ist auf Prestigebestrebungen zu verzichten und in Außen- und Innenpolitik der brüderliche Kontakt zu suchen. (So ist zum Beispiel die amerikanische Opposition gegen die Aufnahme Rotchinas in die Vereinten Nationen im Lichte des Gesagten wie auch rein praktisch in Bezug auf eine allgemeine Abrüstung auf die Dauer unhaltbar.)

Ausblick#

Wollen wir zusammenfassen, so kann den theoretischen Feststellungen Wilfried Daims eine durch großen wissenschaftlichen Eifer errungene Originalität, seinen praktischen Vorschlägen eine beträchtliche politische Bedeutung zugemessen werden. Jemand muß nun beginnen, sie durchzuführen.

Österreichs christliche Politiker - Repräsentanten eines Kulturstaates in neutraler Mittel- und Mittlerposition zwischen Ost und West, eines Landes mit sozialem Bewusstsein und gemischter wirtschaftlicher Ordnung — sind nicht zuletzt dazu aufgerufen, den Weg zu neuer Brüderlichkeit einzuschlagen.

Wilfried Daim, „Die kastenlose Gesellschaft, Manz-Verlag, München. 543 Seiten, 16 Seiten Bildbeilage, Preis S 169.—.


(1) Kasten gab und gibt es nicht nur in Indien. Die Unterscheidung Patrizier-Plebejer in der römischen Frühzeit trug deutliche Kastenmerkmale.

(2) Diese Stelle scheint für psychologischsoziologische Selbstanalysen des ÖCV relevant, wie etwa die im letzten Jahr von Austrla-Wien in ,,pro aris et focls" initiierte Exklusivitätsdebatte.
(3) Vergleiche Wilfried Dalm: „Der Mann, der Hitler die Ideen gab." Von der religiösen Verirrung eines Sektierers zum Rassenwahn des Diktators, München 1958.

(4) Hierzu vergleiche Sigmund Freud: "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten" 1905, 1958.

(5) Bereits angedeutet in Wilfried Daim: "Totaler Untergang" Manz-Verlag München 1959

(6) Über das Thema „Hebung des wissenschaftlichen Niveaus durch verbesserte Informationsmethoden" wird demnächst ein besonderer Artikel erscheinen.

(7)Ich habe hier (Southern Illinois, 1960/61) kaum noch einen manuellen Arbeiter ohne Overall, Schutzhelm und die überall billig erhältlichen Arbeitshandschuhe gesehen. Das familiäre Betriebsklima trägt zu einer weitgehenden Entspannung der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen bei.

Aus: Academia 8/1960