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Hat die Demokratie Zukunft?#

Das Vertrauen in Parteien, Parlamente und Regierungen ist im Westen überall im Schwinden begriffen – so auch in Österreich: Befunde, Erklärungen und Lösungsansätze für ein System in der Krise.#


Von der Wiener Zeitung (Samstag, 07. Mai 2011) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Reinhard Heinisch


Sicht auf die Pallas Athene vor dem österreichischen Parlament
Die auf die Antike zurückgehende Definition von Demokratie als Volksherrschaft ist sehr unklar – Sicht auf die Pallas Athene vor dem österreichischen Parlament (aus dessen Säulengang).
© Foto: apa/Hochmuth

In der arabischen Welt riskieren viele Menschen gegenwärtig ihr Leben für mehr Demokratie. Im Westen dagegen scheint die Demokratie in der Krise zu stecken. Beinahe zwei Drittel aller EU-Bürger vertrauen weder ihren Parlamenten noch ihren Regierungen. Und bei den Parteien ist der Vertrauensschwund noch größer. Auch in Österreich ist seit den späten 70er Jahren das Vertrauen in Parteien, Parlament oder Regierung im Schwinden begriffen. Dem Kabinett Faymann sprechen laut einer OGM-Umfrage vom Februar 2011 73 Prozent der Staatsbürger jeglichen Reformwillen ab, und der Vertrauensindex für die Regierungsspitze – also der Saldo aus Vertrauen und Nichtvertrauen – liegt im einstelligen Bereich.

Die Ursachenforschung für dieses Phänomen erweist sich als höchst schwierig, da es keine offensichtliche Erklärung dafür gibt. Österreich geht es vergleichsweise beneidenswert gut. Die Rezession ist weitgehend bewältigt und die Wirtschaft boomt. In Bereichen wie Lebensqualität, Umwelt, sozialer und persönlicher Sicherheit sowie Infrastruktur steht das Land vorzüglich da.

Aber ausgerechnet dort, wo Experten demokratiepolitischen Handlungsbedarf orten, etwa bei der Diskriminierung von Einwanderern oder der viel zu großen Medienkonzentration, ist das Interesse der Öffentlichkeit gering. Auch andere Wahl- und Demokratiesysteme bieten übrigens keine Garantie gegen Politikverdrossenheit, wie etwa das Phänomen der Tea-Party in den USA zeigt.

Sich über die Demokratie Gedanken zu machen, ist eine Sache, sie in ihrem Wesen zu verstehen, eine andere. Die auf die Antike zurückgehende Definition von Demokratie als Volksherrschaft ist ebenso unklar – wer genau ist das Volk und wie herrscht es als Kollektiv? – wie das auf Jean Jacques-Rousseau zurückgehende Prinzip der Demokratie als Ausdruck des Volkswillens.

Was heißt repräsentativ?#

Als Summe der Einzelpräferenzen minus der individuellen Unterschiede sollte die Demokratie zur Herausbildung einer Volonté Generale führen und repräsentative Qualität besitzen. Doch konnte Kenneth Arrows 1951 mit seinem "Theorem der Unmöglichkeit" mathematisch beweisen, dass sich eine Menge rationaler Akteure (etwa eine Wahlbevölkerung) mit unterschiedlichen stabilen Präferenzen unmöglich auf eine repräsentative Rangordnung gewünschter politischer Maßnahmen einigen könne.

Dass dennoch verbindliche Entscheidungen zustande kommen, hat eher mit der ungleichen gesellschaftlichen Machtverteilung zu tun als mit einer genauen Abbildung der Präferenzen. Außerdem zeigt die geschichtliche Erfahrung, dass oft nicht der Volkswille, sondern das Ergebnis von politischen Entscheidungen ausschlaggebend ist. Das wusste schon der demokratische Staatslenker Perikles, der bei der Verteidigung Athens die Wünsche der Bevölkerung geflissentlich ignorierte. Erst der Erfolg führt vielfach zu demokratischer Legitimation, oft entgegen der vorher herrschenden öffentlichen Meinung. Ein paradoxes Problem der Demokratie ist die Idee der Gleichheit der Bürger. Einerseits soll keiner mehr Einfluss haben als der andere, aber auch bei allgemein gültigen Spielregeln und Bedingungen haben die clevereren, mehr motivierten und ressourcenreicheren Mitspieler doch immer mehr Einfluss. Als diesbezüglich besonders verpönt gilt in unseren Breiten das "Lobbying".

Lobbyismus am Pranger#

Am Pranger steht dabei kurioserweise die an sich legitime Einflussnahme auf die Politik von Seiten betroffener Interessen. Natürlich gibt es auch in Österreich Interessensgruppen, wie Gewerkschaften und Kammern, die Einfluss nehmen, ja sogar laut Gesetz privilegiert sind. Wer prinzipiell gegen "Lobbyisten" ist, muss allerdings in Kauf nehmen, dass Abgeordnete gegenüber den Konsequenzen der von ihnen beschlossenen Gesetze naiv bleiben. Das ist freilich den Regierungen und jenen, die auf Regierungsvorlagen Einfluss nehmen, durchaus recht. Angesichts komplizierter Gesetzestexte und überforderter Mandatare informiert oft erst ein Lobbyist einzelne Abgeordnete über die Auswirkungen einer gesetzlichen Maßnahme.

Ein weiteres Paradox ist das Verhältnis von Demokratie und Markt. Einerseits wird behauptet, dass jede funktionierende Marktwirtschaft die Demokratie als Staatsform voraussetze – was China zur Zeit widerlegt –, andererseits gehen demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht immer mit den Präferenzen des Marktes konform; daher wollen die Nationalbanken von Volkswillen und Regierung möglichst unabhängig sein. In jedem Fall muss der Konflikt zwischen Demokratie und Markt irgendwie aufgelöst werden. Im angelsächsischen Raum wird im Ernstfall zu Gunsten des Marktes entschieden; Massenentlassungen aufgrund von Wirtschaftsabschwung sind dort zwar nicht populär, werden aber politisch akzeptiert.

Die österreichische Konkordanz-Demokratie dagegen verlegt Konflikte in die Gremien der Sozialpartnerschaft. Gelingt die Konfliktlösung nicht und setzt sich die wirtschaftliche Logik rücksichtslos durch, droht (wie jüngst in Griechenland) die Volksseele überzukochen. Im anderen Extremfall, wo politisch populäre Themen über wirtschaftliche Vernunft triumphieren, schlittert die Wirtschaft in eine Krise, wie etwa in Argentinien zur Jahrtausendwende.

Direkte Demokratie#

In jüngster Zeit sieht sich vor allem die repräsentative Demokratie Kritik ausgesetzt, deren Schwachstellen ja bekannt sind: Intransparenter Interessenabtausch, abgehobene Entscheidungsträger und der Einfluss von Insidern. Dafür bricht eine politische Marketing-Maschinerie alle vier oder fünf Jahre über die arglosen Wähler herein. Als Allheilmittel gegen die Auswüchse der repräsentativen Demokratie gilt die direkte Demokratie, die allerdings ebenfalls Gefahren in sich birgt. Sinkt die Wahlbeteiligung, reduziert sich die Partizipation auf die besonders Motivierten, sodass Abstimmungen zur Bühne für Wutbürger, Randgruppen und Sonderlinge werden, aber keinesfalls repräsentativ sind für die laue Mitte des Meinungsspektrum.

Bei zu viel ungebremster direkter Demokratie wird in der Regel politisch Notwendiges dem politisch Populären geopfert, wie beispielsweise in Kalifornien. Einstmals grundsolide gemanagt, geriet dieser US-Bundesstaat in den Budgetnotstand, da die befragten Wähler sukzessive für höhere staatliche Leistungen und geringere Steuern votierten.

Menschen riskieren ihr Leben für Demokratie
In der arabischen Welt riskieren derzeit viele Menschen ihr Leben für mehr Demokratie.
© Foto: epa

Besonders umstritten unter Demokratietheoretikern ist die Rolle, die das Volk in der Demokratie einnehmen sollte. Platon und Aristoteles war diese Staatsform suspekt, herrschte in ihr doch der "Demos", also der korrumpierbare Pöbel. Der Schöpfer der US-Verfassung, James Madison, fürchtete die Tyrannei der Mehrheit so sehr, dass er alle möglichen Veto- und Kontrollmöglichkeiten einbaute, die das US-System heute gefährlich nahe an die Grenze zur Unregierbarkeit bringen. Besonders nach den Erfahrungen des 20. Jahrhundert, wo Volksverführer linker und rechter Provenienz von den Massen bejubelt und vielfach demokratisch legitimiert ihre Regime etablierten, stehen Demokratietheoretiker wie Joseph Schumpeter oder Robert Dahl dem Kriterium der Repräsentativität oder gar der Massenmobilisierung mit Skepsis gegenüber. Ihrer Meinung nach ist für eine funktionierende Demokratie vor allem der politische Wettbewerb entscheidend, also die reelle Wahlmöglichkeit. Folglich sollte alles unternommen werden, um den politischen Wettbewerb zu verbessern: Dazu zählen vor allem der freie Informationsfluss und die garantierte Einhaltung der Spielregeln, der Rest würde sich (so hofft man) schon von selber einstellen.

Diffuse Interessen#

Ein Hauptproblem heutiger Demokratien besteht darin, dass die Interessen heterogener und die Meinungen diffuser geworden sind. Die Zeiten sind vorbei, als die politischen Lager klar zu unterscheiden waren und starke Wählerblöcke für große gemeinsame Ziele eintraten. Denn heute tragen die Bürger selbst immer mehr widersprüchliche Interessen in sich: Sie sind Arbeitnehmer und gleichzeitig Konsumenten, Steuerzahler und Nutznießer von Sozialleistungen, Energieverbraucher und Betroffene des Raubbaus an der Umwelt.

Zu diesen Widersprüchen kommt, dass aufgrund der weltweiten Verflechtung der Wirtschaft, der Mobilität des Kapitals und der Informationstechnologien die Handlungsspielräume nationaler Regierungen geschrumpft sind. Angesichts der eingeschränkten politischen Gestaltungsmöglichkeiten und der Flüchtigkeit der Wähler ohne ideologische Parteibindung setzen Großparteien weniger auf klare Positionierung als auf modernes Marketing, Imagepflege und Persönlichkeiten. Außerdem konvergieren die großen Parteien vielfach in ihren Programmen und zielen auf die breite Mitte der Wählerschaft ab. Populistische Ansagen, vorsichtige bis nichtssagende Statements und der Versuch, im zentralen Massenmedium eine gute Figur zu machen, sind die zwangsläufigen Folgen.

Außer diesen grundsätzlichen Problemen hat jede demokratische Gesellschaft auch ihre eigenen demokratiepolitischen Herausforderungen zu meistern. Für Österreich bedeutet dies, zumindest ein paar wesentliche Lehren zu ziehen: Mehr demokratischer Wettbewerb ist nötig; Kompetenzen und politische Verantwortungen müssen für die Wähler genau zuordenbar sein; Zuwanderer müssen in das demokratische System besser integriert werden; die demokratische Grundbildung der Bevölkerung ist verbesserungswürdig.

Baustelle Verfassung#

Um den Wettbewerb zu erhöhen und die Kompetenzzersplitterung zurückzutreiben, muss die so oft schon verschobene Verfassungsreform endlich realisiert werden. Österreichs rechtspositivistische Verfassung ist einerseits bis zur Beliebigkeit flexibel, andererseits ist vieles zu detailliert und unflexibel geregelt. Die Möglichkeit, mittels Zweidrittelmehrheit auch noch so banale oder kontroverse Gesetze in den Verfassungsrang zu erheben, um sie unliebsamen Anfechtungen durch die Judikatur zu entziehen, wird von den politischen Akteuren weidlich ausgenützt. Somit werden Kontrollmöglichkeiten ausgehebelt, Reformen verhindert und politische Verantwortung verschleiert.

In der Verfassung sind die staatlichen Zuständigkeiten, etwa zwischen Bund und Ländern, unklar geregelt. Diese Schwammigkeit wird im Interesse des politischen Kompromisses großzügig ausgenützt. So ist für die Wähler nicht ersichtlich, wer eigentlich welche Kosten verursacht, wer dafür zahlt und wer politisch die Verantwortung trägt. Die Verfassung hat auch Nachholbedarf hinsichtlich des realen politischen Systems. Wäre es nicht hoch an der Zeit, nicht länger mehr so zu tun, als wäre der Bundesrat wirklich ein wichtiges demokratisches Organ oder gar die Schnittstelle des österreichischen Föderalismus?

Wäre es nicht realitätsnäher (und wettbewerbsfördernd), die mächtige Landeshauptleutekonferenz (die übrigens in der Verfassung gar nicht vorkommt), etwa ergänzt durch die Vertreter der Landtage, als Interessensvertretung der Länder formal aufzuwerten? Wäre es im Interesse von mehr Wettbewerb nicht auch hoch an der Zeit, in den betroffenen sechs Bundesländern sowie in vielen Gemeinden die Konzentrationsregierungen abzuschaffen?

Bundesrat
Ist der Bundesrat ein wichtiges demokratisches Organ?
© Foto: apa/Hochmuth

Sollte man es nicht den Wählern selbst und nicht länger ausschließlich den Parteien überlassen, in den Wahlkreisen über die Reihenfolge der Kandidatenlisten auf den Stimmzetteln zu entscheiden? Einschlägige und mit dem Verhältniswahlrecht kompatible Modelle wurden vom Grazer Politik- und Rechtswissenschafter Klaus Poier ja bereits vorgestellt. Idealerweise könnte diese Maßnahme mit einer Verkleinerung der gesetzgebenden Kammern einhergehen. Gewiss würde dadurch die Repräsentativität ein wenig leiden, dafür verspricht die Qualität der Mandatare aufgrund des Wettbewerbes innerhalb der Wahlkreise besser zu werden – abgesehen davon ist der Talente-Pool in einem kleinen Land wie Österreich begrenzt. Außerdem könnten die Volksvertreter dann mit entsprechend mehr Personal und besseren Ressourcen ausgestattet werden. Österreich steht auch vor der Herausforderung, sich seiner Staatsbürger mit Migrationshintergrund demokratiepolitisch anzunehmen. Die gleichberechtigte Beteiligung dieser anwachsenden Gruppe und die Berücksichtigung ihrer spezifischen Interessen sind unerlässlich. Dabei geht es nicht nur darum, die Entstehung einer gefährlichen Parallelwelt zu verhindern, sondern auch um dringend benötigte neue, wettbewerbsfördernde Impulse für unsere strukturkonservative und zunehmend überalterte Gesellschaft mit Abschottungstendenzen.

Junge desinteressiert#

Um einen Wettbewerbsschub zu erzeugen, bedarf es zudem mehr Förderung der demokratiepolitischen Bildung jenseits der klassischen Staatsbürgerkunde. Ein Viertel der jungen Österreicher möchte überhaupt nichts mit politischen Parteien zu tun haben – obwohl sie gleichzeitig auf unkritische Weise staatliche Autoritäten anerkennen. Für viele Jungwähler ist die Wirtschaft wichtiger als die Politik, wobei die Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen und jedwede Form von nicht-konventioneller Politik ausgeblendet oder als irrelevant betrachtet wird. Dementsprechend ist auch nur ein Viertel der jungen Österreicher bereit, sich selbst für politische Anliegen zu engagieren. Die Meinungen von Schülern sind natürlich im Zusammenhang mit jenen ihrer Lehrer zu sehen, wobei die verfügbaren Daten hinsichtlich der Grundeinstellung starke Defizite bezüglich der demokratischen Ermächtigung der Bürger im Sinne von empowerment erkennen lassen.

Leider gibt die bisherige Erfahrung wenig Anlass zum Optimismus, an die Reformfähigkeit des Systems zu glauben. Doch hat jedes System, wie wir ja zur Zeit im arabischen Raum erleben, seine Grenzen; und erst nach deren Überwindung können Veränderungsprozesse beginnen.

Reinhard Heinisch
Reinhard Heinisch

Reinhard Heinisch ist Universitätsprofessor für Österreichische Politik im europäischen Vergleich an der Universität Salzburg und Leiter der neuen ARGE "Zukunft der Demokratie" der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, die sich in Forschungskonferenzen der empirischen Demokratieforschung in Österreich sowie im internationalen Vergleich widmet.

Siehe dazu auch:

Veranstaltungen: Zukunft der Demokratie

Wiener Zeitung, Samstag, 07. Mai 2011


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