"Das politische System entspricht nicht mehr unserer Mündigkeit"#
Es knistert vielerorts im Gebälk demokratischer Systeme, das Vertrauen in die Politik sinkt. Der Kulturphilosoph Andreas Urs Sommer würde der repräsentativen Demokratie gerne ein Update verpassen.#
Von der Wiener Zeitung (16. Oktober 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Judith Belfkih
Die vermeintliche Krise der Demokratie ist zu einem Topos der Gegenwart geworden. Sie taucht an vielen Stellen auf. Mehrfach im Kontext der USA - von den Präsidentschaftswahlen bis zum Afghanistan-Einsatz. Doch auch in Europa wurde das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zuletzt zumindest hinterfragt - nicht nur durch die Debatte über eingeschränkte Grundrechte in der Pandemiebekämpfung oder die jüngste Regierungskrise in Österreich. Die Unterwanderung der Demokratie durch geschickte Populisten steht als Drohkulisse im Raum.
Das Vertrauen in und der Respekt vor staatlichen Institutionen scheint selbst unter Politikern zu sinken - von vermeintlich erkaufter Gesetzgebung und beeinflusster Berichterstattung bis zu einem zuletzt erschütterten Justizsystem. Neben den auch in politischen Debatten immer lauter tönenden Echokammern der Sozialen Medien macht sich in weiten Teilen der Bevölkerung Politikverdrossenheit bemerkbar. Sie stehen den sich stärker einbringen wollenden politischen Aktivisten - von streikenden Jugendlichen bis zu widerständigen urbanen Nachbarschaften - recht verständnislos gegenüber.
Andreas Urs Sommer, geboren 1972 ist Philosoph mit Schwerpunkt Kulturphilosophie und lehrt derzeit an der Universität in Freiburg. Sein jüngstes Buch "Wenn die Freiheit IHRE Stimme fordert. Die Zukunft gehört der direkten Demokratie" erscheint im Frühjahr 2022 bei Herder. - © A. Dietrich
Andreas Urs Sommer, geboren 1972 ist Philosoph mit Schwerpunkt Kulturphilosophie und lehrt derzeit an der Universität in Freiburg. Sein jüngstes Buch "Wenn die Freiheit IHRE Stimme fordert. Die Zukunft gehört der direkten Demokratie" erscheint im Frühjahr 2022 bei Herder. - © A. Dietrich
Hier zerren, so scheint es, höchst unterschiedliche Kräfte an der Zukunft der Demokratie. Der in Deutschland lehrende Kulturphilosoph Andreas Urs Sommer hat gerade ein Buch zum Thema fertiggestellt, es erscheint im Frühjahr. Ein Gespräch am Rande des Philosophicum Lech über nicht mehr treffsichere demokratische Instrumentarien, die unterschätzte Mündigkeit von Staatsbürgern und warum man Partizipation erst lernen muss.
"Wiener Zeitung": Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung auch mit der Verfasstheit der Demokratie. Wie ist es um unsere Staatsform bestellt?
Andreas Urs Sommer: Es geht ihr besser, als die medialen und digitalen Unkenruferinnen und -rufer verlautbaren. Es ist ein weitverbreitetes Krisenbewusstsein da, doch die Institutionen funktionieren an sich noch gut. Allerdings ist die klassische repräsentative Demokratie dem Bewusstseinsstand von mündigen Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr so recht angemessen. Sie muss sich auch strukturell weiterentwickeln. Diese Probleme, die wir als Krisen der Demokratie beschreiben, haben damit zu tun, dass unsere tatsächliche Mitbestimmung nicht mehr unserem allgemeinen Stand der Entscheidungsfähigkeit entspricht.
Es ist also nicht die Demokratie in der Krise, sondern ihre Instrumentarien sind es?
Zweifel an der Demokratie, also an der Überzeugung, dass wir alle mitbestimmen sollen, sehe ich kaum. Ganz im Gegenteil. Doch mit der Art und Weise, wie repräsentative Demokratie funktioniert in Ländern wie Deutschland, Österreich oder Frankreich, sind viele Menschen nicht zufrieden. Das Unbehagen richtet sich also gegen die sehr beschränkte Möglichkeit der Mitentscheidung. Da sollten wir die demokratischen Institutionen nicht heiligsprechen und so tun, als wären sie von ewiger Gültigkeit.
Sie plädieren also für eine Verschiebung von einer parlamentarischen, also rein repräsentativen Demokratie hin zu mehr partizipativen Methoden?
In der Tat, ich möchte sogar die Notwendigkeit einer partizipatorischen Entwicklung herausstellen. Das sage ich nicht nur als Schweizer. Repräsentation funktioniert nur, solange es in einer Gesellschaft homogene Gruppen gibt, die gemeinsame Interessen haben. Das ist ein vormodernes Konzept, es stammt aus der mittelalterlichen Ständegesellschaft und hat dort auch Sinn gemacht. Diese sozialen Gruppen waren ziemlich homogen und ließen sich daher gut repräsentieren bei der Entscheidungsfindung. Das entspricht nicht mehr der radikalen Diversifikation der Moderne.
Wir sind viel zu different und divergent, um einmal alle vier Jahre jemanden zu bestimmen, der alle politischen Entscheidungen für uns fällen soll. Bürgerinnen und Bürger in westlichen Staaten sind dazu in der Lage, an politischen Entscheidungen teilzuhaben. Berufspolitiker sind ja auch keine Fachleute, sondern gut informiert durch Expertinnen und Experten. Nur dass sie noch dazu an eine Parteilinie gebunden sind - im Gegensatz zu uns Bürgern. Wir können in Sachfragen unabhängiger entscheiden. Schon deswegen ist eine stärkere direktdemokratische Einbindung sinnvoll.
An welche neuen demokratischen Instrumentarien denken Sie dabei?
Der Königsweg wäre die Abstimmung über Sachfragen, durchaus nach Schweizer Vorbild. Das entscheidende Problem ist, dass Sie dabei nicht der einzelnen Entscheidung so viel Gewicht geben dürfen, wie das geschieht, wenn Sie nur alle 20 Jahre einmal abstimmen können. Der Brexit ist hier ein Paradebeispiel, wo in eine Entscheidung vieles projiziert wurde, das mit der Sache selbst nichts zu tun hatte.
Man muss Partizipation als Bürgerin, als Bürger also auch erst lernen?
Unbedingt. Und man muss es ständig praktizieren. Das Training ist das Entscheidende. Dabei geht es darum, sich mit der eigenen und der Lebenswirklichkeit der anderen zu beschäftigen und darüber austauschen. Dann würden Bürgerinnen nicht über Politiker schimpfen, sondern über Sachthemen debattieren. Dieses Einüben ist der entscheidende Faktor. Wir sind dazu in der Lage, davon bin ich überzeugt. Es gibt auch spannende digitale Methoden, Taiwan hat hier bereits positive Erfahrungen mit Bürgerforen gesammelt. Das macht absolut Sinn, denn der digitale Raum hat ja überhaupt erst möglich gemacht, dass sich jeder und jede öffentlich politisch äußern kann. Das korreliert aber nicht mit unseren politischen Entscheidungsmöglichkeiten. Da ist ein Ungleichgewicht entstanden.
Sie sprechen die Kluft an, dass das Bedürfnis an Partizipation an politischen Prozessen stetig wächst, sich aber gleichzeitig Politikverdrossenheit breitmacht?
Genau in dieser Diskrepanz steckt der Kern der Krise des Politischen. Sehr viele Menschen wollen teilhaben, wollen gehört werden. Dass sie es nicht können, führt zu Unzufriedenheit. Es sollte kein Zwang werden, sich zu engagieren, jedoch die Möglichkeit.
Jetzt steht die direkte Demokratie jedoch unter einem Generalverdacht, da gerade rechte Populisten am lautesten nach ihr rufen. Ist da nicht den geschickten Manipulatoren Tür und Tor geöffnet?
Direkte Demokratie wird aktuell von der politischen Mitte und der Linken nicht mehr eingefordert. Es ist zur Visitenkarte der Rechten geworden. Das schadet der demokratischen Weiterentwicklung. Bei der Rechten herrscht die Auffassung vor, dass es einen Gemeinwillen des Volkes schlechthin gebe, den man gegen eine zweifelhafte politische Elite ins Feld führen müsse. Um echte Teilhabe geht es da nicht, auch nicht um Sachentscheide, sondern darum, Misstrauen zu säen. Ich würde hingegen sagen: Das politische System entspricht nicht mehr unserer Mündigkeit. Das ist keine Frage von Schuld oder korrupten politischen Eliten, sondern der Passgenauigkeit des Systems in Bezug auf den Stand der Aufklärung, den wir erreicht haben.
Erübrigt sich damit die Parteipolitik?
Parteipolitik könnte dabei in den Hintergrund rücken. Ich hielte das nicht für einen großen Verlust. Die traditionelle Organisation des Politischen in Parteien suggeriert eine Repräsentierbarkeit, die so nicht mehr gegeben ist. Die klassische Arbeiterschaft oder das bürgerliche Lager fühlt sich längst nicht mehr je von einer einzigen Partei repräsentiert. Parteien sind wichtig zur Meinungsbildung, sie können und sollen Positionen anbieten und zur Disposition stellen. Abschaffen muss man Parteien ja nicht. Es wird auch weiter Parlamente und damit Regierungen brauchen, die Dinge entscheiden. Das bedeutet einen Wandel der Funktion von Parteien, aber nicht ihr Ende.
Woher sollen Bürgerinnen und Bürger die Zeit nehmen, um sich so intensiv mit Sachfragen auseinanderzusetzen?
Die arbeitsteilige Gesellschaft sieht vor, dass nicht mehr alle alles machen, sondern dass jede oder jeder das eigene Spezialfeld bearbeitet. Das ist absolut sinnvoll. Das Politische ist meiner Meinung nach jedoch nicht delegierbar, da es da um die Rahmenbedingungen jedes Lebens geht. Ein Großteil der Bürger informiert sich ja jetzt schon, nimmt an Debatten teil. Es geht ja nicht um eine grundlegend neue Politisierung, sondern darum, dass aus diesen Debatten auch Konsequenzen folgen, dass Menschen nicht mehr nur räsonieren dürfen, was andere für sie entscheiden, sondern dass sie selbst entscheiden können. Jetzt gibt es natürlich Berufsgruppen, die privilegiert sind, hier informiert zu bleiben. Da gibt es also auch einen ökonomischen Aspekt, den man lösen könnte, indem man etwa die ökonomische Grundsicherung so stärkt, dass Möglichkeiten gesichert sind, dieser Partizipation nachzukommen - etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Woher kommt diese Überzeugung - um nicht zu sagen: Präpotenz - demokratischer Staaten, sie müssten Demokratie missionieren? Was gibt ihnen das Recht dazu?
Im Geist der Aufklärung passt das Modell Demokratie sicherlich am ehesten zu unserem Menschenbild: Wir sind zu dieser politischen Mündigkeit fähig, die es braucht, um politische Entscheidungen auch zu fällen. Wir müssen akzeptieren, dass andere eine andere Meinung in Sachfragen haben. Das ist nicht immer leicht.
Gerade am Beispiel Afghanistan wurde diskutiert: Kann man Demokratie lehren?
Kann man schon, aber nicht mit Feuer und Schwert. Das funktioniert nur mit gutem Beispiel. Demokratie muss sich im gelebten Beispiel als tauglich erweisen, sie militärisch durchzusetzen, funktioniert nicht. Sie kann ein Exportmodell sein, aber nicht durch Interventionismus. Bei militärischen Interventionen im Namen der Demokratie dient diese wohl eher als Feigenblatt für ökonomische Interessen. Das schadet der Demokratie letztlich mehr, als es ihr hilft.