Die Säulenselige christlicher Sozialpolitik #
Hildegard Burjan rief 1919 in Wien die Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis ins Leben. Vor zehn Jahren wurde die Gründerin mit dem Segen Roms im Stephansdom seliggesprochen.#
Von der Wiener Zeitung (28. Jänner 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Paul Vécsei
Der römische Sanctus für die katholische Anerkennung wurde vor genau zehn Jahren im Stephansdom würdig umgesetzt: Am 29. Jänner 2012 erfolgte die erste Seligsprechung im Dom. Sie hob erstmals eine heimische Parlamentsabgeordnete kirchenrechtlich in himmlische Sphären. Der sakrale Akt galt Hildegard Burjan (1883 bis 1933). Sie war nach dem Ersten Weltkrieg die erste weibliche Abgeordnete der Christlichsozialen Partei im Parlament. Mit den sieben Frauen-Pionierinnen auf sozialdemokratischer Seite (darunter Adelheid Popp) machte sie nach der Wahl zur Provisorischen Nationalversammlung 1919 oft gemeinsame Sache.
Das prägte vor allem die Sozialgesetzgebung zu Beginn der Republik. Mehrmals positionierte sich Burjan auch als Speerspitze parlamentarischer Initiativen. Besonders die Not der Dienstmädchen, der Mütter und Kinder, der Obdachlosen, der Näherinnen, der Prostituierten und aller Menschen in Not hatten es ihr angetan. Das Hausgehilfinnengesetz mit einer Arbeitszeitbeschränkung und endlich einem freien Tag sowie Reformen bei der Kranken- und Pensionsversicherung verbesserten die Situation ausgebeuteter Frauen. Gleichen Lohn für Männer und Frauen für die gleiche Arbeit hatte Burjan auch schon vor 1919 gefordert.
Am 4. Oktober dieses Jahres gründete die sendungsbewusste Katholikin schließlich die Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis. Mit der später entstandenen Caritas in den einzelnen Diözesen hat diese einen Teil des Namens und der sozialen Ausrichtung gemein. Ansonsten ist das Leben der Schwestern institutionell selbständig und wie auch in Orden von Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit bestimmt.
Burjan selbst war seit 1907 mit dem späteren Ravag-Vorstand Alexander Burjan verheiratet. Sie fungierte in ihrem Schwesternverband am Anfang zwar als Vorsteherin, nicht aber als Mitglied der Gemeinschaft. Deren Aufbau und der Arbeit für Notleidende widmete sie den Rest ihres Lebens.
Die Politik verließ sie nicht zuletzt wegen antisemitischer Anfeindungen auch in der eigenen Christlichsozialen Partei. Als geborener Jüdin war ihr der heutige Platz im katholischen Himmel nicht gerade in die Wiege gelegt. Auf sozialdemokratischer Seite, wo sich Burjan großen Respekt erworben hatte, nahm man ihr Ausscheiden aus der Politik zum Teil mit echtem Bedauern zur Kenntnis. Schwester Karin Weiler, eine Art wandelndes historisches Lexikon der Gemeinschaft, die auch ihre Diplomarbeit über Hildegard Burjan verfasst hat, stellte der "Wiener Zeitung" zwei bemerkenswerte Zitate zur Verfügung.
So sagte der Arzt und spätere Wiener Sozialstadtrat Julius Tandler (1869 bis 1936), der zu Beginn der Republik auch als eine Art erster Gesundheitsminister fungierte, im Parlament zu Burjans Abschied: "Gnädige Frau, es klingt wie das Gegenteil von einem Kompliment, wenn die feindliche Seite sagt, sie bedauere tief Ihr Weggehen, dennoch ist es echt gemeint." Und auch der erste Bundespräsident, spätere Wiener Bürgermeister und langjährige SPÖ-Vorsitzende Karl Seitz (1869 bis 1950) sprach von "einem bewundernswerten Leben" Burjans und einem "Andenken, das in Ehren gehalten" werde.
Hildegard Burjan (geborene Freund) kam am 30. Jänner 1883 in Görlitz an der Neisse in einer jüdisch-liberalen Familie zur Welt. In Zürich studierte sie als eine der ersten Frauen Philosophie, Germanistik und Sozialökonomie. Sie selbst war überzeugt, dass sie sich dabei jene Nierenerkrankung zuzog, die sie bald in große Lebensgefahr bringen sollte. Der vermutete Hintergrund des Leidens: Die Universität in Zürich verbot den ersten Studentinnen die Benutzung der Toiletten des Hauses und verwies sie auf die Gasthäuser der Umgebung. Also versuchte Burjan, so lange wie nur irgendwie möglich ihre Toilettengänge zu vermeiden.
Das hatte kurz darauf in Berlin im Jahr 1908 dramatische Folgen. Schwere Koliken brachten die junge Frau in Todesgefahr. Die Ärzte hatten sie bereits als "hoffnungslosen Fall" aufgegeben. Die aufopferungsvolle Pflege katholischer Ordensschwestern rettete sie und veränderte Burjans Leben vollkommen. Das Vorbild der Ordensfrauen und der Umstand, dass sie überlebte, sah sie ab diesem Zeitpunkt als Berufung. Sie konvertierte zum katholischen Glauben und widmete ihr Leben den Menschen in Not. Die Nierenerkrankung sollte sie später, im Alter von 50 Jahren, 1933 in Wien doch noch das Leben kosten.
Die Pflege der Kranken und Alten stand jedenfalls von Anfang an im Mittelpunkt der Gründung ihrer apostolischen Schwesterngemeinschaft. Diese betreibt heute das in Wien gut bekannte Hospiz Rennweg in der Oberzellergasse und das Haus in der Pramergasse, in dessen Kapelle Burjan ihre letzte Ruhe gefunden hat. Alle Pflegestätten verfügen über zeitgemäße palliative Einrichtungen. Ein wunderbares und engagiertes Personal begleitet dort stationär, aber auch mobil, vor allem aber aufopfernd, die oft sehr schwer erkrankten Menschen bis zum Lebensende. 800 davon werden jährlich so auf ihren letzten Wegen gestützt. Der Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II. im Jahre 1993 mit den sichtbar gewordenen humanitären Leistungen aus Burjans Vermächtnis dürfte dem Verfahren zur Seligsprechung aus römischer Sicht Impulse gegeben haben.
Heute gehören laut Generalleiterin Susanne Krendelsberger weltweit mehr als 46 Schwestern zur Caritas Socialis. "Wir versuchen den Hospizgedanken und die Palliativbetreuung sehr bewusst zu pflegen", sagt sie. Entsprechend ist man auch bestrebt, glaubwürdig alternative Wege zum nun gesetzlich zugelassenen assistierten Suizid anzubieten. Man sei zwar "auch bereit, Menschen auf ihrem letzten Weg so zu begleiten, wie sie ihn selber gehen wollen. Nur beim eigentlichen Suizid direkt wird unser Personal nicht mittun", sagt Pressesprecherin Sabine Dirnberger vom Hospiz Rennweg.
Diesen Sonntag um 18 Uhr wird jedenfalls in einem Festgottesdienst im Stephansdom des zehnten Jahrestages der Seligsprechung Hildegard Burjans gedacht. Neben dem unvermeidbaren öffentlichen Auftritt des medienaffinen Dompfarrers wird auch Martin Rupprecht diese Messe konzelebrieren. Er ist Pfarrer jener Pfarrgemeinde in Wien-Fünfhaus, die seit dem Jahr 2017 nach der Seligen Hildegard Burian benannt ist.